Beschluss vom 07. Dezember 2011
Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei miteinander verbundenen Verfahren darüber entschieden, ob personenbezogene Informationen aus einer präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung in einem Urteil verwertet werden durften und ob die Annahme einer Betrugsstrafbarkeit durch den Abschluss von Lebensversicherungen mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist. Durch Urteil vom 3. März 2004 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass Vorschriften der Strafprozessordnung über die akustische Wohnraumüberwachung unvereinbar mit dem Grundgesetz sind, weil sie keine Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung enthielten, und ordnete gleichzeitig die bis Juni 2005 befristete Fortgeltung der betroffenen Vorschriften unter Berücksichtigung des Schutzes der Menschenwürde und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an.
Die drei Beschwerdeführer sind im Jahre 2007 erstinstanzlich wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung bzw. deren Unterstützung in Tateinheit mit versuchtem bandenmäßigen Betrug in 28 tateinheitlich begangenen Fällen jeweils zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Nach den strafgerichtlichen Feststellungen planten die Beschwerdeführer zur Beschaffung von Geldmitteln für die Organisation Al Qaida, Lebensversicherungsverträge abzuschließen, um sodann durch Vorlage noch in Ägypten zu beschaffender unrichtiger amtlicher Dokumente den tödlichen Unfall eines der Beschwerdeführer vorzutäuschen und das jeweilige Versicherungsunternehmen zur Auszahlung der Versicherungssumme zu veranlassen. In 28 Fällen beantragten die Beschwerdeführer den Abschluss einer Lebensversicherung; letztlich wurden neun Versicherungsverträge abgeschlossen. Bevor die Beschwerdeführer ihren Tatplan weiter in die Tat umsetzen konnten, wurden sie festgenommen. Die Verurteilung beruhte unter anderem auf den Erkenntnissen aus einer präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung, die im Jahre 2004 vor Einleitung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen die Beschwerdeführer über mehrere Monate wegen des Verdachts der Planung terroristischer Anschläge durchgeführt worden war. Die richterliche Anordnung dieser Überwachungsmaßnahmen erging auf Grundlage des § 29 des Rheinland-Pfälzischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (POG RP), wonach eine Wohnraumüberwachung als polizeiliche Präventivmaßnahme zur Abwehr einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere zur Verhütung schwerwiegender Straftaten, durchgeführt werden kann. Die im Jahre 2004 geltende Fassung des § 29 POG RP enthielt keine Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Kernbereichsschutz im Urteil vom 3. März 2004 wurden 2005 durch die Einführung entsprechender ergänzender Regelungen des § 29 POG RP umgesetzt.
Der Bundesgerichtshof hat die Verwertbarkeit der durch die präventiv-polizeiliche Wohnraumüberwachung erlangten Erkenntnisse bestätigt. Dass die Ermächtigungsgrundlage des § 29 POG RP 2004 nicht in vollem Umfang den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Kernbereichschutz entsprochen habe, führe nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Den Schuldspruch hat der Bundesgerichtshof dahin abgeändert, dass die Beschwerdeführer in den Fällen, in denen es zum Abschluss der Lebensversicherungen gekommen sei, wegen vollendeten Betruges und in den übrigen Fällen des versuchten Betruges schuldig seien.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat das Urteil des Bundesgerichtshofs aufgehoben und die Sache an ihn zurückverwiesen, weil der Schuldspruch wegen vollendeten bzw. versuchten Betruges gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG verstößt. Die Verwertung von Erkenntnissen aus der Wohnraumüberwachung verletzt die Beschwerdeführer dagegen nicht in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
I. Die Verwertung von Informationen aus den präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachungsmaßnahmen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Sie verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf ein faires Strafverfahren. Ein Beweisverwertungsverbot stellt von Verfassungs wegen eine begründungsbedürftige Ausnahme dar, weil es die Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden einschränkt und so die Findung einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung beeinträchtigt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen würden, nicht bejaht werden, wo dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten sein.
Nach diesen Maßstäben ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Rechtsverstoß bei der Beweiserhebung nicht ohne Weiteres zur Unverwertbarkeit der dadurch erlangten Erkenntnisse führt, sondern es in jedem Einzelfall der Abwägung der für und gegen die Verwertung sprechenden Gesichtspunkte unter Gewichtung des staatlichen Aufklärungsinteresses und der Schwere des Rechtsverstoßes bedarf. Auch die danach vom Bundesgerichtshof im Ausgangsverfahren vorgenommene Abwägung und die darauf beruhende Ablehnung eines Beweisverwertungsverbotes begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dabei ist entscheidend, dass es sich bei der präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung nicht um eine nach dem Grundgesetz generell unzulässige Maßnahme handelt und dass ihre tatsächliche Durchführung den verfassungsrechtlichen Anforderungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung entsprach.
2. Soweit personenbezogene Informationen aus der Wohnraumüberwachung verwertet wurden, sind die Beschwerdeführer auch nicht in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Rechtsgrundlage für die Verwertung personenbezogener Informationen in einem strafgerichtlichen Urteil ist § 261 StPO, wonach das Gericht aufgrund freier Überzeugung über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet. Diese Vorschrift ist verfassungsgemäß. Insbesondere entspricht sie bei verfassungskonformer Auslegung, die in Ausnahmefällen ein Verwertungsverbot anerkennt, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Verwertung personenbezogener Informationen in strafgerichtlichen Urteilen dient Zwecken, die Verfassungsrang haben. Sie erfüllt die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten. Die Informationsverwertung ist daher auch dann grundsätzlich verhältnismäßig, wenn – wie im vorliegenden Ausgangsverfahren – die Informationen ursprünglich zu einem anderen Zweck erhoben wurden und somit der weiteren Verwendung im Strafverfahren eine Zweckänderung vorangegangen ist. Die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass nach § 261 StPO rechtswidrig erlangte personenbezogene Informationen grundsätzlich verwertet werden können, ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Vorschrift ist insoweit ausreichend bestimmt, da die Informationsverwertung auf die Sachverhaltsaufklärung und -feststellung im Rahmen der angeklagten prozessualen Tat beschränkt ist.
II. Die Annahme des Bundesgerichtshofs, dass sich die Beschwerdeführer mit dem Abschluss von Lebensversicherungsverträgen wegen vollendeten Betrugs und mit der Beantragung von Lebensversicherungsverträgen wegen versuchten Betrugs strafbar gemacht haben, ist dagegen mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren, weil es an der von Verfassungs wegen erforderlichen wirtschaftlich nachvollziehbaren Feststellung und Darlegung eines Vermögensschadens fehlt.
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist zwar der rechtliche Ausgangspunkt des Bundesgerichtshofs, dass bereits der Abschluss eines Vertrags zu einem Vermögensschaden führen kann, wenn der vom Vertragspartner erlangte Anspruch weniger wert ist als die übernommene Verpflichtung (sog. Eingehungsbetrug). Es ist auch jedenfalls grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, bereits bei der konkreten Gefahr eines zukünftigen Verlusts einen gegenwärtigen Vermögensschaden anzunehmen. Zur Verhinderung einer Überdehnung des Betrugstatbestandes muss jedoch – von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen abgesehen – der Vermögensschaden der Höhe nach beziffert und dies in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen dargelegt werden. Bestehen Unsicherheiten, so kann ein Mindestschaden im Wege einer normativ-wirtschaftlich tragfähigen Schätzung ermittelt werden.
Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird das Urteil des Bundesgerichtshofs nicht gerecht, weil es nicht die Feststellung eines konkreten Schadens in den Blick genommen hat, sondern für die Feststellung eines Vermögensschadens (abstrakte) Risiken genügen lässt, die jeder Vertragsschluss mit einem unredlichen Vertragspartner mit sich bringt. Es fehlt an der ausreichenden Beschreibung und der Bezifferung der Vermögensschäden, die durch den Abschluss der Lebensversicherungsverträge verursacht wurden oder – in den Versuchsfällen – verursacht worden wären. Zudem mangelt es an Erwägungen dazu, inwiefern tragfähig geschätzt werden kann, wie hoch zum Zeitpunkt der (beabsichtigten) Vertragsabschlüsse die Wahrscheinlichkeit war, dass die Beschwerdeführer ihren Tatplan erfolgreich ausführen, die Versicherungsleistungen also später tatsächlich an sie ausgezahlt werden würden.
(Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung vom 29. Dezember 2011)