KG Berlin, Beschluss vom 16. November 2015 – 3 Ws (B) 541/15, 3 Ws (B) 541/15 – 122 Ss 143/15 –, juris

Leitsatz

1. Der Betroffene ist nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet.

2. Der Tatrichter muss konkreten Anhaltspunkten für mögliche Entschuldigungsgründe von Amts wegen nachgehen. Verbleiben danach noch Zweifel, darf ein Verwerfungsurteil nicht ergehen.

3. Ein konkreter Anhaltspunkt für einen möglichen Entschuldigungsgrund liegt vor, wenn dem Betroffenen in einem eingereichten ärztlichen Attest Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt wird.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 1. September 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe

1
Das Amtsgericht hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil er in der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, das vom Betroffenen eingereichte ärztliche Attest, das ihm Kreislaufstörungen bescheinige, lasse Art und Schwere der Erkrankung nicht erkennen. Erst nach genauer Darlegung der Symptome sei dem Gericht die Feststellung möglich, ob dem Betroffenen das Erscheinen bei Gericht zuzumuten gewesen wäre.

2
Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat mit der Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG Erfolg.

3
An die Zulässigkeit dieser Rüge sind nach ständiger Rechtsprechung der Oberlandesgerichte keine strengen Anforderungen zu stellen. Wenn die Urteilsgründe, wie hier, Ausführungen zu dem vorgebrachten Entschuldigungsgrund enthalten und sich der gerügte Verfahrensfehler aus dem Urteil selbst ergibt, bedarf es lediglich des Vortrags, das Verwerfungsurteil sei zu Unrecht ergangen (Senat, Beschluss vom 28. September 2015 – 3 Ws (B) 417/15 – m. w. N.; st. Rspr.).

4
Die Rüge ist auch begründet. § 74 Abs. 2 OWiG setzt nicht voraus, dass der Betroffene sich genügend entschuldigt hat, sondern dass ihm objektiv das Erscheinen nicht zuzumuten war. Es kommt nicht darauf an, was er selbst zur Entschuldigung vorgetragen hat. Erst recht ist er nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet. Maßgebend ist allein, ob sich aus den dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannten und im Wege des Freibeweises feststellbaren Umständen eine ausreichende Entschuldigung ergibt. Das Gericht muss konkreten Anhaltspunkten für mögliche Entschuldigungsgründe von Amts wegen – etwa durch Nachfrage beim Aussteller des Attests nachgehen und sich die volle Überzeugung davon verschaffen, ob diese vorliegen. Verbleiben trotz Ausschöpfens aller Erkenntnisquellen noch Zweifel, darf ein Verwerfungsurteil nicht ergehen (Senat, a. a. O.; Beschluss vom 16. Juni 2010 – 3 Ws (B) 203/10 -, juris Rn. 2; st. Rspr.).

5
Diesen Vorgaben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Amtsgericht hat den Einspruch verworfen, obwohl die ihm zur Verfügung stehenden Informationen nach seiner eigenen Einschätzung für eine Überzeugungsbildung nicht ausreichten. Indem es dazu auf fehlende Darlegungen des Betroffenen verwiesen hat, ist es erkennbar von der unzulässigen Annahme ausgegangen, dass sich Zweifel am Vorhandensein eines Entschuldigungsgrundes zulasten des Betroffenen auswirken.

6
Das Urteil beruht auf diesem Rechtsfehler. Anders wäre es nur dann, wenn der Inhalt des Attests ganz offensichtlich nicht geeignet gewesen wäre, das Ausbleiben in der Hauptverhandlung genügend zu entschuldigen (vgl. Senat, Beschluss vom 28. September 2015, a. a. O., m. w. N.). Das ist aber bei einem Attest, in dem ein Arzt dem Betroffenen Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt, nicht der Fall (vgl. Senat, a. a. O.; Seitz in Göhler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 74 Rn. 29 m.w.N.).