Nachfolgend ein Beitrag vom 9.7.2018 von von der Weiden, jurisPR-BVerwG 14/2018 Anm. 4
Leitsätze
1. Macht ein Beamter bei seiner Anhörung im Rahmen des Disziplinarverfahrens Angaben, so sind diese zu seinem Nachteil nur verwertbar, wenn er zuvor den Vorgaben des § 20 Abs. 1 Satz 3 LDG NRW (= § 20 Abs. 1 Satz 3 BDG) entsprechend vollständig und zum richtigen Zeitpunkt belehrt worden ist.
2. Das Verwertungsverbot nach § 20 Abs. 3 LDG NRW (= § 20 Abs. 3 BDG) hat keine Fernwirkung auf andere Beweismittel, deren Vorhandensein erst durch die nicht verwertbaren Angaben des Beamten anlässlich seiner Anhörung bekannt geworden ist.
3. Die zuständige Behörde hat ein Disziplinarverfahren einzuleiten, wenn sie Kenntnis von Tatsachen erlangt, aufgrund derer die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beamte schuldhaft seine Dienstpflichten in disziplinarrechtlich relevanter Weise verletzt hat.
4. Ein vom Dienstherrn mit der Wahrnehmung seiner Interessen im Disziplinarverfahren beauftragter Rechtsanwalt ist nicht zur Erhebung der Disziplinarklage befugt.
A. Problemstellung
Hat der Dienstherr Ermessen, ob er ein Disziplinarverfahren einleitet oder nicht? Sind Verwaltungsermittlungen vor Einleitung eines Disziplinarverfahrens zulässig? Kann das disziplinarrechtliche Belehrungserfordernis dadurch umgangen werden, dass der Beamte in dem Disziplinarverfahren vorgeschalteten Verwaltungsermittlungen ohne Belehrung befragt wird? Wie sollte die Belehrung des Beamten bei Einleitung des Disziplinarverfahrens (und im Rahmen von Verwaltungsvorermittlungen) formuliert werden? Ist die Belehrung mit der Folge eines Verwertungsverbots fehlerhaft, wenn der Hinweis auf die Möglichkeit, sich schriftlich zu äußern, unterblieben ist? Ist das Protokoll über die Aussage des Beamten konstitutiv für den Inhalt der ihm erteilten Belehrung? Ist bei unterbliebener oder fehlerhafter Belehrung die Aussage des Beamten im Disziplinarverfahren verwertbar? Hat ein Verwertungsverbot Fernwirkungen für anlässlich der Aussage des Beamten zu Tage getretene andere Beweismittel?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der 1954 geborene beklagte Beamte ist Stadthauptsekretär und hatte im Ordnungsamt u.a. Treibstoffrechnungen für Dienstfahrzeuge der Freiwilligen Feuerwehr zu prüfen. Anfang 2008 bemerkte sein Vertreter Unstimmigkeiten bei der Abrechnung. Es kam der Verdacht auf, der Beklagte und andere Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr hätten ihre privaten Kraftfahrzeuge zulasten dienstlicher Tankkarten betankt.
Der am 15.02.2008 in den Dienst zurückgekehrte Beklagte wurde am 18.02.2008 mit dem gegen ihn gerichteten Verdacht konfrontiert und darüber informiert, dass er nun angehört werden solle. Im Protokoll über diese Anhörung ist vermerkt, der Beklagte sei darüber belehrt worden, dass er sich zu dem Vorwurf nicht äußern müsse und dass er einen Bevollmächtigten oder Beistand hinzuziehen könne, wenn er sich äußern wolle. Der Beklagte bat um Hinzuziehung des Personalratsvorsitzenden und wurde nach dessen Eintreffen angehört. Dabei machte der Beklagte umfangreiche Angaben zu den verschiedenen Tankvorgängen und Tankkarten.
Im Mai 2008 leitete die Klägerin ein Disziplinarverfahren gegen den Beklagten ein und setzte dieses zugleich wegen der strafrechtlichen Ermittlungen aus. 2009 wurde der Beklagte durch rechtskräftig gewordenen Strafbefehl wegen Untreue in fünf Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf die im Juli 2013 erhobene Disziplinarklage hatte das Verwaltungsgericht den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das Oberverwaltungsgericht hatte die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Auf die Revision des Beklagten hat das BVerwG das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
I. Inhaltsgleich mit § 20 Abs. 1 BDG und den Bestimmungen anderer Landesdisziplinargesetze ordnet § 20 Abs. 1 LDG NRW an, dass der Beamte über die Einleitung des Disziplinarverfahrens unverzüglich zu unterrichten ist, sobald dies ohne Gefährdung der Aufklärung des Sachverhalts möglich ist. Hierbei muss dem Beamten eröffnet werden, welches Dienstvergehen ihm zur Last gelegt wird. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass es ihm freisteht, sich mündlich oder schriftlich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und sich jederzeit eines Bevollmächtigten oder eines Beistandes zu bedienen. Nach § 20 Abs. 3 LDG NRW (§ 20 Abs. 3 BDG) darf die Aussage des Beamten nicht zu seinem Nachteil verwertet werden, wenn die nach Abs. 1 vorgeschriebene Belehrung unterblieben oder unrichtig erfolgt ist.
II. § 20 Abs. 1 Satz 3 LDG NRW ist hier für die Anhörung des Beklagten maßgeblich, obwohl die Norm die vorherige Einleitung des Disziplinarverfahrens voraussetzt und die Klägerin das Disziplinarverfahren gegen den Beklagten erst nach der Anhörung eingeleitet hat. Denn diese Einleitung ist nach Maßgabe des § 17 LDG NRW (§ 17 BDG) verspätet, weil das Disziplinarverfahren bereits am 14.02.2008 hätte eingeleitet werden müssen. Der Verstoß gegen die Pflicht zur rechtzeitigen Einleitung des Disziplinarverfahrens führt nicht dazu, dass die dem Schutz des betroffenen Beamten dienende Belehrungspflicht aus § 20 LDG NRW nicht zu beachten ist.
Aus § 17 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW (§ 17 Abs. 1 Satz 1 BDG) folgt die Pflicht zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen. Zwar darf der Dienstherr auch Verwaltungsermittlungen durchführen; denn ein Disziplinarverfahren darf wegen seiner stigmatisierenden Wirkung nicht vorschnell eingeleitet werden. Verwaltungsermittlungen müssen aber wegen der Schutzwirkung der Verfahrensvorschriften in disziplinarrechtlich geführte Ermittlungen umschlagen, wenn der Dienstvorgesetzte Kenntnis von Tatsachen erlangt, aufgrund derer hinreichend wahrscheinlich ist, dass der Beamte schuldhaft seine Dienstpflichten in disziplinarrechtlich relevanter Weise verletzt hat.
Nach diesen Maßstäben hätte die Klägerin das Disziplinarverfahren bereits am 14.02.2008 einleiten müssen. Denn aufgrund des Vermerks von diesem Tage über die Ungereimtheiten bei der Abrechnung lagen hinreichende Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen des Beklagten vor.
III. Macht ein Beamter bei seiner Anhörung im Disziplinarverfahren Angaben, so darf diese Aussage nach § 20 Abs. 3 LDG NRW (§ 20 Abs. 3 BDG) nur dann zu seinem Nachteil verwertet werden, wenn feststeht, dass er vor seiner Aussage nach den Vorgaben von § 20 Abs. 1 Satz 3 LDG NRW (§ 20 Abs. 1 Satz 3 BDG) richtig belehrt worden ist. Eine Belehrung ist „unrichtig“ i.S.v. § 20 Abs. 3 LDG NRW (§ 20 Abs. 3 BDG), wenn auch nur eines der gesetzlich vorgeschriebenen Elemente fehlt. Denn § 20 Abs. 1 Satz 3 LDG NRW (§ 20 Abs. 1 Satz 3 BDG) dient dem Schutz des Beamten im Disziplinarverfahren; er soll davor bewahrt werden, sich im unmittelbaren Anschluss an die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens durch vorschnelle und unbedachte Äußerungen selbst zu belasten.
Die Verwertbarkeit der Aussage setzt deshalb die Belehrung des Beamten über sämtliche ihm nach dem Gesetz eröffneten Möglichkeiten voraus, d.h. sich mündlich oder schriftlich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und sich jederzeit eines Bevollmächtigten oder eines Beistandes zu bedienen. Zudem muss die Belehrung gleichzeitig mit der Eröffnung des dem Beamten zur Last gelegten Dienstvergehens vorgenommen werden. Eine – auch mündliche – Äußerung muss nicht im unmittelbaren Anschluss an die Eröffnung der Einleitung des Verfahrens abgegeben werden.
Ausgehend von der Schutzfunktion des § 20 Abs. 1 Satz 3 LDG NRW (§ 20 Abs. 1 Satz 3 BDG) hat der Hinweis auf die (befristete) Möglichkeit einer schriftlichen Äußerung besondere Bedeutung für das Verhalten des betroffenen Beamten im Disziplinarverfahren. Denn eine schriftliche Äußerung ermöglicht dem Beamten eine Phase des Erwägens und Abschätzens, bevor er entscheidet, ob er eine Stellungnahme abgibt und welchen Inhalt diese haben soll.
Allerdings enthält § 20 Abs. 1 Satz 3 LDG NRW (§ 20 Abs. 1 Satz 3 BDG) keine „Fernwirkung“ in dem Sinne, dass das gesetzlich angeordnete Beweisverwertungsverbot auch andere Beweismittel, die erst durch unverwertbare Angaben des Beamten anlässlich seiner Anhörung bekannt geworden sind, unverwertbar macht.
C. Kontext der Entscheidung
Für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gilt grundsätzlich das Legalitätsprinzip, nicht das Opportunitätsprinzip. D.h., der Dienstherr ist nicht frei, ob er beim Verdacht eines Dienstvergehens ein Disziplinarverfahren einleitet, sondern er ist grundsätzlich zur Einleitung des Disziplinarverfahrens verpflichtet. Ausnahmen sieht das BDG bei disziplinarrechtlichen Maßnahmeverboten nach vorangegangenen Straf- oder Bußgeldverfahren sowie wegen Zeitablaufs vor (vgl. § 17 Abs. 2 i.V.m. den §§ 14, 15 BDG). Die Landesdisziplinargesetze sehen z.T. außerdem in Bagatellfällen die Möglichkeit vor, von der Einleitung eines Disziplinarverfahrens abzusehen (vgl. z.B. § 22 Abs. 2 Satz 3 ThürDG); insoweit gilt dann das Opportunitätsprinzip.
Zwar darf der Dienstherr auch Verwaltungsermittlungen durchführen, weil ein Disziplinarverfahren wegen seiner stigmatisierenden Wirkung nicht vorschnell eingeleitet werden darf. Solche Verwaltungsermittlungen müssen aber wegen der Schutzwirkung der Verfahrensvorschriften des Disziplinarrechts in disziplinarrechtlich geführte Ermittlungen umschlagen, wenn der Dienstvorgesetzte Kenntnis von Tatsachen erlangt, aufgrund derer hinreichend wahrscheinlich ist, dass der Beamte schuldhaft seine Dienstpflichten in disziplinarrechtlich relevanter Weise verletzt hat (BVerwG, Urt. v. 29.03.2012 – 2 A 11/10).
Der Dienstherr kann disziplinarrechtlichen Belehrungspflichten und die damit im Zusammenhang stehenden Rechte des Beamten nicht dadurch umgehen, dass er Verwaltungsermittlungen führt. Geht er später in das Disziplinarverfahren über, sind Äußerungen des Beamten aus der Phase der Verwaltungsermittlungen nur dann verwertbar, wenn der Beamte bereits zu diesem Zeitpunkt nach den disziplinarrechtlichen Vorgaben belehrt worden war. Wegen der nur dann gegebenen Verwertbarkeit von Äußerungen des Beamten ist es zweckmäßig, bereits bei Verwaltungsermittlungen den betreffenden Beamten wie bei Einleitung eines Disziplinarverfahrens zu belehren.
Der Beamte hat im Disziplinarverfahren ein Aussageverweigerungsrecht, dessen Wahrnehmung für ihn sanktionslos bleiben muss. Nach den vom BGH entwickelten Grundsätzen zum zulässigen Verteidigungsverhalten im Strafverfahren, die im Disziplinarverfahren entsprechend anwendbar sind, darf der Beamte die Tat bestreiten und auch ihren Unrechtsgehalt negieren oder relativieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.02.2013 – 2 C 62/11 Rn. 49 ff. – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 19; BVerwG, Beschl. v. 20.11.2012 – 2 B 56/12 Rn. 8 – NVwZ 2013, 1093; BVerwG, Beschl. v. 10.12.2014 – 2 B 75/14 Rn. 10 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 28; BVerwG, Beschl. v. 05.05.2015 – 2 B 32/14 Rn. 30 – Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 30).
Die Grundsätze zum zulässigen Verteidigungsverhalten müssen gleichermaßen bei Verwaltungsermittlungen vor Einleitung eines Disziplinarverfahrens gelten. Vergleiche zur informatorischen Befragung vor Einleitung eines Disziplinarverfahrens und insbesondere zum auch dort bestehenden Aussageverweigerungsrecht: Henneberger-Sudjana, VBlBW 2018, 11 ff.
D. Auswirkungen für die Praxis
Der Dienstherr hat grundsätzlich kein Ermessen, ob er ein Disziplinarverfahren einleitet oder nicht. Beim Verdacht eines Dienstvergehens ist er grundsätzlich zur Einleitung des Disziplinarverfahrens verpflichtet. Ausnahmen sehen die Disziplinargesetze bei disziplinarrechtlichen Maßnahmeverboten nach vorangegangenen Straf- oder Bußgeldverfahren sowie wegen Zeitablaufs und außerdem z.T. in Bagatellfällen vor.
Verwaltungsermittlungen vor Einleitung eines Disziplinarverfahrens sind zulässig. Erstarkt hierbei der zunächst noch vage Verdacht eines Dienstvergehens, muss der Dienstherr das Disziplinarverfahren einleiten.
Das disziplinarrechtliche Belehrungserfordernis kann nicht dadurch umgangen werden, dass der Beamte in dem Disziplinarverfahren vorgeschalteten Verwaltungsermittlungen ohne Belehrung befragt wird. Äußerungen des Beamten im Rahmen von Verwaltungsermittlungen sind nur dann zulasten des Beamten verwertbar, wenn er zuvor wie in einem Disziplinarverfahren belehrt worden ist.
Die Belehrung des Beamten bei Einleitung des Disziplinarverfahrens (und im Rahmen von Verwaltungsvorermittlungen) sollte möglichst eng am Wortlaut des Gesetzes erfolgen, um ihrer Schutzfunktion sicher zu genügen und auch um Auseinandersetzungen über den genauen Inhalt der Belehrung zu vermeiden.
Die Belehrung muss richtig und vollständig sein. Deshalb ist die Belehrung mit der Folge eines Verwertungsverbots fehlerhaft, wenn der Hinweis auf die Möglichkeit, sich schriftlich zu äußern, unterblieben ist.
Das Protokoll über die Aussage des Beamten ist nicht konstitutiv für den Inhalt der ihm erteilten Belehrung. Der Inhalt der Belehrung kann ggf. im Wege des Zeugenbeweises festgestellt werden.
Bei unterbliebener oder fehlerhafter Belehrung ist im Disziplinarverfahren die Aussage des Beamten nicht zu seinen Lasten verwertbar.
Ein Verwertungsverbot hat keine Fernwirkungen für anlässlich der Aussage des Beamten zu Tage getretene andere Beweismittel.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Die Disziplinarklageschrift leidet an einem wesentlichen Mangel i.S.v. § 54 Abs. 1 BDG, wenn sie von einer Person erhoben wird, die nicht befugt ist, für die vom Gesetz bestimmte Behörde tätig zu werden. Ein vom Dienstherrn bevollmächtigter Rechtsanwalt zählt nicht zu den Personen, die zur Erhebung der Disziplinarklage befugt sind. Dieser Mangel kann allerdings durch eine neue, fehlerfreie Disziplinarklageschrift auch noch im Berufungsverfahren geheilt werden (vgl. Rn. 30 mit weiteren Hinweisen zur Rechtsprechung des BVerwG).
Der Senat hat erneut darauf hingewiesen, dass er seine frühere Rechtsprechung zur „Regeleinstufung“ bei innerdienstlich begangenen Dienstvergehen – was insbesondere bei den sog. Zugriffsdelikten relevant war – aufgegeben hat und stattdessen bei der Maßnahmebemessung nunmehr – sofern ein Straftatbestand verwirklicht worden ist – auf den gesetzlichen Strafrahmen als Orientierung zurückgreift (vgl. Rn. 38 unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 10.12.2015 – 2 C 6/14 Rn. 17 – BVerwGE 154, 10).
Mühlhausen
Telefon: 03601 48 32 0
Leinefelde
Telefon: 03605 544 330
Gotha
Telefon: 03621 510 18 60 (RAe)
Telefon: 03621 510 18 00 (StB)
oder schreiben Sie hier eine Mail: