Nachfolgend ein Beitrag vom 18.12.2015 von Spoenle, jurisPR-ITR 25/2015 Anm. 3

Orientierungssatz

Im Rahmen eines besonders umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahrens muss dem Beschuldigten während seiner Untersuchungshaftzeit der Zugang zu seiner digitalen Ermittlungsakte per elektronischem Lesegerät ermöglicht werden, sofern durch anzuordnende Hard- und Softwareeinschränkungen die Sicherheit und Ordnung der Untersuchungshaftanstalt gewährleistet werden kann.

A. Problemstellung

Während Strafrichter und Staatsanwälte, Strafverteidiger und nicht zuletzt die Justizverwaltungen der Länder gespannt auf den Regierungsentwurf des BMJV in Sachen elektronischer Strafakte warten, ist es in besonders umfangreichen Strafverfahren längst üblich geworden, die nach wie vor in Papier geführten Akten zu scannen und stattdessen mit der in Form von PDF-Dateien deutlich handlicheren digitalen Zweitakte – auch „Duploakte“ genannt – zu arbeiten. Wer blättert schon gerne in dutzenden Leitzordnern?
In dem ganz aktuell in Frankfurt a.M. verhandelten Verfahren, um die Geschäfte der S&K-Gruppe und der United Investors-Gruppe, wollte einer der in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten ebenfalls die – ohnehin vorhandene – digitalisierte Verfahrensakte zur Vorbereitung seiner Verteidigung auch im Haftraum nutzen. Die daraus resultierende Beschwerdeentscheidung lotet nicht nur den Grenzbereich zwischen Sicherheit und Ordnung einer Untersuchungshaftanstalt einerseits und Beschuldigtenrechten andererseits aus, sondern gibt auch Hinweise auf die Lösung von Fragen, die sich dank der aktuell in vielen Bundesländern in Vorbereitung befindlichen Umstellung auf elektronische Verfahrensakten bald auch in anderen Zusammenhängen stellen werden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Rechtsanwältin des im Rahmen des Ermittlungsverfahrens festgenommenen Beschuldigten beantragte angesichts des Umfangs der Verfahrensakte, dem Beschuldigten in der Untersuchungshaft einen Laptop zur Verfügung zu stellen, was vom zuständigen AG Frankfurt a.M. (Beschl. v. 23.07.2014 – 7310 Js 230995/12 – 931 Gs) zunächst abgelehnt wurde: Da es sich bei einem Laptop um einen Gegenstand gesteigerter Gefährlichkeit für die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt handele, sei die Versagung aufgrund von § 11 Abs. 2 Var. 3 HUVollzG grundsätzlich gerechtfertigt. In der Beschwerdeinstanz wurde der Antrag zunächst auch zurückgewiesen; die Kammer kündigte jedoch an, nach weiterer Sachaufklärung zu Möglichkeiten der Minimierung der Gefährlichkeit für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt darüber zu entscheiden, ob dem Beschuldigten nicht doch ein Gerät zum Lesen der digitalen Verfahrensakte in seinem Haftraum zugestanden werden kann.
Mit dem vorliegenden Beschluss ist diese zunächst zurückgestellte Entscheidung zugunsten des Beschuldigten getroffen worden. Dabei führt das Landgericht zunächst aus, dass die Versagung von IT-Hardware auf der Grundlage der §§ 11, 12 HUVollzG grundsätzlich gerechtfertigt ist, weil ein Missbrauch der technischen Möglichkeiten – insbesondere der kommunikativen Funktionen – nur mit erheblichem Aufwand ausgeschlossen werden kann, welcher der Anstalt regelmäßig nicht zumutbar ist. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kommt jedoch im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen der Rechte des Beschuldigten dann in Betracht, wenn gewichtige Gesichtspunkte in der Sache oder der Person des Beschuldigten den entsprechenden Aufwand rechtfertigen.
Der außergewöhnliche Umfang der vorliegenden Wirtschaftsstrafsache führt hier dazu, dass die generelle Versagung des Besitzes eines Geräts zum Lesen digitaler Verfahrensakten nicht mehr verhältnismäßig ist. Neben dem Umfang ist auch die Schwierigkeit des Verfahrens sowie die lange Dauer der Untersuchungshaft entscheidend. Außerdem sind die Akten den Verfahrensbeteiligten generell nur in digitaler Form überlassen worden. Daher setzt die Vorbereitung seiner Verteidigung umfangreiches Lesen mithilfe eines geeigneten Geräts voraus. Zwar kann der Beschuldigte auch die allgemein zwischen 8.00 Uhr und 16.30 Uhr zur Verfügung stehenden Anstalts-PCs nutzen; außerhalb dieser Zeiten und insbesondere an den Wochenenden kann der Beschuldigte sich aber nicht ordnungsgemäß vorbereiten – etwa, wenn freitags und dann wieder montags verhandelt wird.
Das LG Frankfurt stellt die Erlaubnis zum Besitz eines entsprechenden Lesegeräts jedoch unter die vier aus dem Tenor ersichtlichen Auflagen: So darf das Gerät nicht über drahtlose Kommunikationsmodule, Disketten- oder CD/DVD-Laufwerke verfügen, wobei auch eine Nachrüstung ausgeschlossen sein muss. Etwa vorhandene Schnittstellen wie USB sowie die zur Bereitstellung der Akte verwendete Speicherkarte sind zu versiegeln; die Akte darf nur durch Personal der JVA oder einem von ihrer Leitung zu bestimmenden Fachmann aufgespielt werden. Letzterer soll auch die weiteren geforderten technischen Maßnahmen vornehmen, die Einhaltung der aufgestellten Anforderungen überprüfen und bescheinigen. Hier begegnet das Landgericht dem Einwand der JVA, es fehle an entsprechendem Fachpersonal, mit einem Verweis auf vertrauenswürdige Fachleute etwa von der IT-Stelle der hessischen Justiz. Schließlich nennt das Landgericht sogar konkret das Modell eines präparierten eBook-Readers, der in der JVA Kassel für solche Zwecke bereits eingesetzt wird.
C. Kontext der Entscheidung
Der Beschluss des LG Frankfurt setzt sich in vorbildlicher Tiefe mit den technischen Fragen auseinander, deren angemessene Berücksichtigung aus einer Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt eine unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes akzeptable, wenn auch mit erheblichem Aufwand verbundene Lösung macht – und dieser Aufwand muss natürlich im Einzelfall zu rechtfertigen sein. Auch hier entwickelt das Landgericht brauchbare Maßstäbe, indem es nicht nur auf den bloßen Umfang eines Verfahrens abstellt, sondern auch auf dessen Schwierigkeit und die Tatsache der Überlassung der Verfahrensakte in digitaler Form durch die Staatsanwaltschaft; der letzte Gedanke zielt nicht zuletzt auf das Argument der Waffengleichheit. Dies ist aber keineswegs die erste Entscheidung dieser Art, worauf die Kammer auch mit gründlicher Angabe von Fundstellen verweist.
So hatte etwa das LG Mannheim bereits im Jahr 2008 (LG Mannheim, Verf. v. 24.09.2008 – 22 KLs 628 Js 34798/02 – AK 4/08, 22 KLs 628 Js 34798/02, AK 4/08) in einem ebenfalls umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren verfügt, dass dem Beschuldigten in der Untersuchungshaft ein Laptop ohne Laufwerke und mit versiegelten Schnittstellen auf seine Kosten zur Verfügung zu stellen ist, wobei die notwendigen technischen Veränderungen ebenfalls von einem vom Leiter der Anstalt zu bestimmenden Fachmann vorgenommen werden sollten. In diesem Verfahren ging es immerhin um einen Aktenbestand von mehr als 100 Leitzordnern; der Verteidiger hatte darauf hingewiesen, dass er die amtlichen Ermittlungsakten eingescannt habe, weshalb ohne entsprechende Genehmigung ein unüberschaubarer Teil des Aktenbestandes ausgedruckt werden müsste, was zu einer Erschwerung der Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten führen würde.
Eine artverwandte, aber anders gelagerte Problematik – die sich im Übrigen auch nicht mehr mit einem präparierten eBook-Reader lösen ließe – hatte das OLG Rostock in diesem Jahr zu beurteilen (OLG Rostock, Beschl. v. 22.10.2015 – 20 Ws 276/15): Hier ging es um die Sichtung von Videoaufnahmen von zunächst 75 Gigabyte und später von noch einmal weiteren, zunächst nicht bei der Akte befindlichen 60 Gigabyte zur Aufklärung von gegen Polizeibeamte verübte Straftaten im Zusammenhang mit einem Fußballspiel. Das Oberlandesgericht hat dabei als Kriterium für die zugunsten des Beschuldigten getroffene Beschwerdeentscheidung nicht nur auf die schiere Menge des zu sichtenden Materials abgestellt, sondern auch festgehalten, dass die Verwendung der anstaltseigenen PCs zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten aus mehreren Gründen ungenügend sei: Zum einen entspreche es nicht dem Sinn und Zweck der Akteneinsicht, wesentliche Aktenteile eines laufenden Strafverfahrens auf einen anstaltsöffentlichen Computer aufzuspielen oder auch nur beim Lesen von einem externen Speichermedium im Zwischenspeicher des Rechners abzulegen.
Und zum anderen sei nicht erkennbar, wie dadurch dem eigentlichen Zweck des Akten- und Videostudiums – der Vorbereitung der eigenen Verteidigung in der Hauptverhandlung unter (dortiger) Nutzung des eigenen Laptops – entsprochen werden könnte, wenn dieser gerade nicht zur Vorbereitung genutzt werden konnte. Dem Einwand der möglichen Nutzung oder Beschädigung des Laptops durch Mitgefangene gegenüber hat das OLG Rostock im Beschwerdeverfahren den von der zuständigen Landgerichtskammer aufgezeigten Weg gebilligt: Hierzu wurde eine sichere Verwahrung des Rechners während der Aufschlusszeiten angeordnet.
Doch zurück zum Ausgangsfall: Das LG Frankfurt ist auch darauf eingegangen, dass nach seiner Entscheidung dem Beschuldigten in Umfangsfällen ein faktisches, in § 147 StPO bislang nicht angelegtes Einsichtsrecht zugebilligt würde. Im konkreten Fall hat das jedoch keine Rolle gespielt, da die Staatsanwaltschaft selbst dem Beschuldigten bereits vor der Beschwerde die Einsicht in die Ermittlungsakten auf den Anstalts-PCs zugestanden hat; außerdem darf und soll der Verteidiger dem Beschuldigten die zur Einsicht überlassenen Akteninhalte ebenfalls überlassen. Dennoch schließt die Kammer, dass die aufgezeigte Vorgehensweise auch aus dem Grund der Schaffung eines systemwidrigen Akteneinsichtsrechts auf Ausnahmefälle beschränkt sein muss. In diesem Zusammenhang wird sich allerdings schon bald die Frage stellen, ob dieser Aspekt auch noch unter den Bedingungen ausschließlich elektronisch geführter Akten Geltung beanspruchen kann. Denn die elektronisch geführte Strafakte wird entsprechend der erklärten Absicht des Bundesjustizministeriums möglicherweise schon bald zur Pflicht.
D. Auswirkungen für die Praxis
Schon jetzt sind in Strafverfahren digitale Beweismittel häufig unverzichtbarer Bestandteil der Hauptverhandlung. Daher wird sich das Problem der Vorbereitung der Verteidigung durch einen in der Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten in weit größerem Umfang als bislang stellen. Allerdings dürfte es für die Abwägung auch künftig auf die vom LG Frankfurt genannten Kriterien und darunter insbesondere auf den Umfang ankommen: Was spricht schon dagegen, dem Untersuchungsgefangenen 120 Seiten elektronischer Akteninhalte auszudrucken? Und da wohl auch künftig kein eigenes, vom Verteidiger unabhängiges Akteneinsichtsrecht des verteidigten Beschuldigten existieren wird – in der Untersuchungshaft hilft wegen § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO das vom BMJV bislang geplante, über § 147 Abs. 7 StPO hinausgehende Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten nicht weiter –, wird man auch nach der Einführung der elektronischen Strafakte dabei bleiben können, entsprechende Geräte im Einzelfall auf Kosten des Beschuldigten anzuschaffen.
Anders ist dies etwa für die Einsicht des unverteidigten Beschuldigten bei Gericht oder in den Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft – so sie denn normiert werden sollte. Hier dürften sich die Anforderungen an die zu treffenden Vorkehrungen jedoch nicht von denjenigen unterscheiden, die im Rahmen anderer Verfahrensordnungen, in denen ein entsprechender Anspruch auf die Akteneinsicht vor Ort gegeben ist, bestehen. Entsprechende Akteneinsichts-Terminals, die sowohl die komfortable Einsichtnahme auch in umfangreichere elektronisch geführte Akten ermöglichen als auch den Anforderungen an die Manipulationssicherheit von Hard- und Software genügen, befinden sich beispielsweise in Baden-Württemberg bereits in Vorbereitung und sollen im Jahr 2016 pilotiert werden.
Wenn sich jedoch die Justizvollzugsanstalten mit entsprechend präparierten Notebooks, Tablets oder eReadern eindecken sollten, um die Beschuldigten in Verfahren größeren Umfangs von sich aus routinemäßig bedienen zu können, dann würde sich die Frage nach der Zumutbarkeit des Aufwands, die Geräte so zu gestalten, dass die Sicherheit und Ordnung der Anstalt nicht gefährdet wird, nicht mehr stellen. In diesem Fall dürfte die Abwägung regelmäßig auch bei weniger umfangreichen Verfahren zugunsten der Beschuldigten ausgehen – die Geräte wären ja ohnehin schon vorhanden und entsprechend konfiguriert.