Nachfolgend ein Beitrag vom 23.09.2016 von Popp, jurisPR-ITR 19/2016 Anm. 5
Leitsatz
Der bloße Nutzer eines Internet-Chatrooms ist jedenfalls dann kein tauglicher Täter i.S.d. § 184d StGB, wenn er nicht in der Lage ist, auf die Dauer und die Modalitäten einer Live Übertragung im Sinne einer Tatherrschaft Einfluss zu nehmen.
A. Problemstellung
Die (zuweilen durchaus grobe) Verletzung anerkannter Mindeststandards im Umgang mit anderen Menschen wird in den Foren, die das Internet für einen solchen Umgang in reicher Zahl bereitstellt, immer wieder zum Problem. Und immer wieder sollen auch strafrechtliche Sanktionen dazu beitragen, solche Verhaltensstandards zu sichern oder gar erst zu etablieren.
Handelt es sich – was freilich nicht die Regel sein dürfte – um Ungehörigkeiten mit sexuellem Einschlag, treten neben den strafrechtlichen Ehren- und Persönlichkeitsschutz gegebenenfalls auch Pornographie-Tatbestände, bei denen die Abgrenzung von täterschaftlicher Beteiligung und Teilnahme nicht immer einfach, wegen der obligatorischen Strafmilderung im Falle bloßer Beihilfe (§ 27 Abs. 2 Satz 2 StGB) aber praktisch wichtig ist. Zugleich erscheinen auch vermeintlich anachronistische Straftatbestände wie die „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ (§ 183a StGB) in neuem Licht. Mit beidem befasst sich nun eine Entscheidung des OLG Karlsruhe als Revisionsinstanz.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Angeklagte hatte sich in einem Chatroom, der offenbar das Angebot eines „sozialen Netzwerks“ ergänzte, eingeloggt. Die Teilnehmer dieses Chats konnten dort freilich nicht nur Textnachrichten austauschen, sondern sich, wenn sie wollten, einander auch „live“ über ihre Webcams zeigen. Der Angeklagte aktivierte seine eigene Webcam, sodass er von anderen Nutzern gesehen werden konnte, ging dann allerdings dazu über, sich zu entblößen und im Blickfeld der Kamera zu masturbieren. Mindestens einer der anderen Nutzer nahm daran Anstoß und machte eine vom Betreiber als „Moderatorin“ beauftragte weitere Nutzerin auf das Geschehen aufmerksam. Sie informierte sogleich den Betreiber selbst, der die weitere Übertragung dann auch umgehend beendete.
Das OLG Karlsruhe sieht in dem Verhalten des Angeklagten wohl zwar eine Darbietung mit pornographischem Charakter, nicht aber ein täterschaftliches „Verbreiten“ einer solchen Darbietung (§ 184d Satz 1 StGB a.F.). Er sei als „einfacher Nutzer des Internet-Chatrooms“ gar nicht in der Lage gewesen, „auf die Dauer und die Modalitäten der Internet-Ausstrahlung im Sinne einer Tatherrschaft in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen“. Eine solche Kontrolle sei allein dem Betreiber des Netzwerkes (und allenfalls noch der genannten „Moderatorin“) möglich gewesen. Da diese beiden Personen ihrerseits alles daran setzten, die weitere Übertragung jenes Geschehens zu beenden, sobald sie davon Kenntnis erhielten, scheiden sie – so das OLG Karlsruhe – aber ihrerseits als Haupttäter aus, denen der Angeklagte hätte Beihilfe leisten können.
Vor diesem Hintergrund zieht das OLG Karlsruhe allein die Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB) in Betracht. Die objektiven Voraussetzungen dieses Tatbestandes sieht das Oberlandesgericht als gegeben an, da eine sexuelle Handlung „öffentlich“ vorgenommen worden sei und jedenfalls bei einer anderen Person „ein Ärgernis erregt“ habe. Weiterer Aufklärung bedürfe jedoch die subjektive Tatseite, da nicht nur mindestens Eventualvorsatz hinsichtlich der „Öffentlichkeit“ der Handlung, sondern auch – und weitergehend – Absicht oder doch sicheres Wissen hinsichtlich des dadurch zu erregenden „Ärgernisses“ erforderlich sei, was bislang nicht festgestellt sei. Für eine solche Feststellung könne es nicht zuletzt auch darauf ankommen, „welche Inhalte ansonsten Gegenstand der Kommunikation in diesem Chatroom“ waren.
C. Kontext der Entscheidung
1. a) In der zum Tatzeitpunkt geltenden Gesetzesfassung erstreckte § 184d Satz 1 StGB den Anwendungsbereich der §§ 184 bis 184c StGB jeweils auch auf die „Verbreitung“ einer „pornographischen Darbietung“ durch „Rundfunk, Medien- oder Teledienste“. Zu letzteren wurden auch die durch das Internet eröffneten Übertragungsmöglichkeiten gezählt (vgl. nur Fischer, StGB, 61. Aufl. 2014, § 184d Rn. 4). Als „Darbietung“ in diesem Sinne kam nach allgemeinem Verständnis die Echtzeit-Übertragung eines Vorgangs der hier geschilderten Art ohne weiteres in Betracht (vgl. bereits BT-Drs. 15/350, S. 21). Das „Verbreiten“ solcher Darbietungen war dabei gerade nicht in dem Sinne zu verstehen, in dem dieser Ausdruck – bezogen auf „Schriften“ (§ 11 Abs. 3 StGB) – etwa in den §§ 184a Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB gebraucht wird (zumal derartige „Schriften“ schon grundsätzlich nicht via Internet „verbreitet“ werden können, wie es die Rechtsprechung allerdings wiederholt angenommen hat, vgl. nur BGH, Urt. v. 27.06.2001 – 1 StR 66/01 – BGHSt 47, 55, 59 f.; BGH, Beschl. v. 12.11.2013 – 3 StR 322/13 – NStZ-RR 2014, 47; deutlich zurückhaltender jetzt aber BGH, Beschl. v. 19.08.2014 – 3 StR 88/14). Vielmehr genügte im Kontext des § 184d StGB a.F. für eine „Verbreitung“ bereits ein Verhalten, durch das die betreffende Darbietung dem Publikum zugänglich gemacht wird (vgl. nur Fischer, StGB, § 184d Rn. 5; Hilgendorf in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 2. Aufl. 2014, § 184d Rn. 5). Nur wer den damit tatbestandlich beschriebenen Geschehensablauf in Händen hält und beherrscht, kann nach der vorzugswürdigen Lehre von der Täterschaft als „Tatherrschaft“ auch Täter des Verbreitungsdelikts sein (eine Lehre, die sich das OLG Karlsruhe hier ganz offensichtlich zu eigen macht). Das wird, was das Verbreiten durch Rundfunk betrifft, in erster Linie für Programmdirektoren und verantwortliche Redakteure angenommen, während Personen, die lediglich an der betreffenden Darbietung beteiligt sind oder deren Ausstrahlung vorbereiten, hinsichtlich des Zugänglich-Machens, auf das es tatbestandlich allein ankommt, nur Randfiguren bleiben (vgl. nur – wenn auch mit Unterschieden im Detail – Hilgendorf in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 184d Rn. 8; Hörnle in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 184d Rn. 9, m.w.N.). Überträgt man diese Grundsätze auf die Verhältnisse eines Internet-Chatrooms, liegt es in der Tat nahe, die Kontrolle über die Verbreitung im Internet hier mit dem OLG Karlsruhe ausschließlich beim Betreiber der Plattform zu sehen und den hier verfolgten Nutzer lediglich als Darsteller, „Kameramann“ und Zulieferer, mithin in der Rolle eines bloßen Gehilfen (§ 27 StGB).
b) Durch das Gesetz vom 21.01.2015 (BGBl. I 2015, 10), in Kraft seit 27.01.2015, hat § 184d StGB inzwischen eine neue Fassung erhalten. Die Vorschrift spricht nun nicht mehr von „Darbietungen“, sondern ganz allgemein von pornographischen „Inhalten“, die einer anderen Person oder der Öffentlichkeit „zugänglich gemacht“ werden (und nebenbei auch nicht mehr von Medien- oder Telediensten, sondern – wie schon seit 2007 das TMG – von „Telemedien“). Für Fälle wie den hier vorliegenden ergeben sich daraus aber wohl keine Änderungen.
2. Wäre das fragliche Geschehen schließlich zugleich als exhibitionistische Handlung i.S.v. § 183 Abs. 1 StGB einzuordnen, träte der vom OLG Karlsruhe erörterte Tatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB) dahinter zurück (vgl. nur Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten, 2012, Rn. 758). Im vorliegenden Beschluss wird § 183 StGB freilich gar nicht angesprochen, und dies zu Recht: Die durch diesen Tatbestand erfasste Belästigung besteht gerade in der leibhaftigen Konfrontation mit dem sich in sexueller Absicht entblößenden Täter und setzt daher nach ganz herrschender und zutreffender Auffassung die gleichzeitige körperliche Anwesenheit von Täter und Opfer voraus, die bei Webcam-Übertragungen wie hier eben nicht gegeben ist (vgl. nur Fischer, StGB, 62. Aufl. 2015, § 183 Rn. 5; Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten, Rn. 724; Popp in: Malek/Popp, Strafsachen im Internet, 2. Aufl. 2015, Rn. 413, m.w.N.). Die zu § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB ergangene Rechtsprechung (BGH, Beschl. v. 21.04.2009 – 1 StR 105/09 – MMR 2009, 533) ist auf § 183 StGB also nicht übertragbar (so aber Hörnle in: MünchKomm StGB, § 183 Rn. 7).
3. Weshalb für § 183a StGB nun aber ein weiteres Verständnis der „öffentlichen“ sexuellen Handlung gelten sollte, der auch das Auftreten vor den Nutzern eines Video-Chats im Internet mit einschließt, versteht sich nicht von selbst. Gleichwohl verlangt die ganz herrschende Auffassung in diesem Punkt nichts weiter als die Möglichkeit, dass die in Rede stehende Handlung „in der Öffentlichkeit Betrachter finden kann“, mag sie auch – wie im Falle eines von außen gut einsehbaren Fensters zur Straße – in den eigenen Räumlichkeiten vollzogen werden (Wolters in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 183 Rn. 3; vgl. auch schon BGH, Urt. v. 13.03.1958 – 4 StR 27/58 – BGHSt 11, 282 zu § 183 StGB a.F.). Das trifft dann natürlich auch auf einen Internet-Chatroom zu (ausdrücklich in diesem Sinne Hörnle in: MünchKomm StGB, § 183 Rn. 7), sofern sich darin nicht nur Menschen versammelt haben, die sich als ein in sich geschlossener Personenkreis begreifen und das fragliche Geschehen deshalb als ein nicht „öffentliches“ erscheinen lassen (Laufhütte/Roggenbuck in: Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2010, § 183 Rn. 4, m.w.N.). Freilich wird man in Rechnung zu stellen haben, dass jedenfalls die Dauer der ungewollten Konfrontation mit dem Sexualverhalten anderer Menschen in Internetsachverhalten wie dem vorliegenden in vergleichsweise hohem Maß in der Hand der unfreiwilligen Zuschauer liegt (tatsächlich genügt schon ein Mausklick, um sie zu beenden), und nicht zuletzt muss man sehen, dass schon in objektiver Hinsicht nur solche Handlungen tatbestandsmäßig sein können, die den Umständen nach zur Erregung eines Ärgernisses geeignet sind (so mit Recht Laufhütte/Roggenbuck in: Leipziger Kommentar StGB, § 183 Rn. 5), woran es fehlen kann, wenn derartige Vorkommnisse nach der Art des betreffenden Chat-Forums ohne weiteres zu erwarten sind oder gar dessen eigentliches Programm bilden. In diesem Fall käme es auf die vom OLG Karlsruhe in den Mittelpunkt gestellten subjektiven Voraussetzungen gar nicht mehr an.
D. Auswirkungen für die Praxis
Auf die in der Strafrechtswissenschaft seit langer Zeit und zu Recht angemahnte Herabstufung dieses Tatbestandes zur schlichten Ordnungswidrigkeit (vgl. neben dem AE-StGB 1966 etwa Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 459; Sick/Renzikowski, FS Schroeder, 2006, S. 603, 611 und zuletzt Esser, JA 2016, 561) wird man vermutlich noch länger warten müssen. So bleibt bis auf Weiteres nur der letztlich auch vom OLG Karlsruhe eingeschlagene Weg einer möglichst restriktiven Auslegung der tatbestandlichen Voraussetzungen. Die Frage der täterschaftlichen Verantwortung für das Zugänglich-Werden unerwünschter Inhalte hat das Oberlandesgericht gleichfalls streng am Tatbestand orientiert nach Tatherrschaftsgrundsätzen entschieden (und damit die bislang in der Literatur vorherrschende Auffassung im Ergebnis bestätigt). Diese Frage stellt sich freilich nicht allein bei § 184d StGB (in seiner alten wie in seiner neuen Fassung), sondern etwa auch bei der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Ob sie dort in gleicher Weise beantwortet werden wird, ist noch offen.