Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit und Jugend oder aktuellen Beispielen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


8. März 2016

Was bestrafen wir, wenn wir den Rausch verfolgen? Wie definieren wir die Gefahr des Rauschs, und warum? Und welche Rolle spielt bei alledem die Politik?

In der vergangenen Woche habe ich mich bemüht, Ihnen ein paar ebenso uralte wie notorisch ungewohnte Fragen zum Thema „Rausch, Gefahr und Strafrecht“ zu stellen: Woher nehmen wir die Maßstäbe, nach denen wir „Gefährlichkeit“ bestrafen? Warum ist jemand mit 1, 1 Promille Blutalkohol „absolut“ fahruntüchtig und kriminell, jemand mit 1,09 Promille aber nicht? Und so weiter.

Im Rausch – aktuell

Seither ist die Thematik um einen neuen Knaller erweitert worden. Ich meine natürlich den unglaublichen Skandal um den Politiker Volker Beck, einen hochverdienten Abgeordneten des Deutschen Bundestags, Kämpfer für Schwulen- und Lesbenrechte, Vertreter einer liberalen Drogenpolitik, unermüdlicher Läufer gegen die Wände der Ignoranz. Seit letzter Woche wissen wir nun, was er in Wahrheit ist: „Selbsternannter Moralapostel“, schrieb der eine, „überdrehter Aktivist“, kommentierte die andere.

Gewiss, ganz zufällig wurde Beck im nächtlichen Berlin nämlich einer Fahrzeug- und Leibeskontrolle unterzogen und hatte null Komma sechs Gramm einer betäubungsmittelverdächtigen Substanz bei sich. Diese Diagnose hätte an diesem Abend auch auf weitere 30.000 Berliner zugetroffen. Aber das ist jetzt auch egal, denn jeder Berliner mit einer betäubungsmittelverdächtigen Substanz ist einer zu viel, weiß der Kriminalkommissar, und am Ende handelt es sich sowieso wieder bloß um die Spitze eines Eiskristallbergs.

Ach Du meine Güte! Da wird doch nicht etwa ein Sieben-Tage-Sechzehn-Stunden-Politiker eine „Substanz“ zu sich genommen haben? Reihenweise fallen in der betroffenen Bürgerrechtspartei seit jenem 2. März die vorsitzenden Cannabispflanzer mit Balkon und die ostdeutschen Teetrinkerinnen rechts und links von dem enttarnten Schwerverbrecher ab. Sie haben es ja, wie man wispern hört, immer schon gesagt, aber aus purer Menschenliebe halt bloß ganz leise. Ein „schweres Fehlverhalten“ hat der Ministerpräsident von Stuttgart 21 aus der Ferne diagnostiziert, und Frau Göring-Eckardt hat dem Deutschlandfunk gesagt, 0,6 Gramm einer verdächtigen Substanz hätten nur wahrlich „nicht das Geringste“ mit einer liberalen Drogenpolitik zu tun.

Es sind also Fachleute am Werk, allesamt im Wahlkampfmodus – wie Kermit, der Frosch, zwei Minuten vor der Live-Ausstrahlung: Applaus, Applaus! Jetzt bloß keinen evangelisch-müslisüchtigen Trollingerfreund aus Tübingen verunsichern, dass er am Ende in der Wahlkabine das Zittern kriegt und in der Zeile verrutscht!

Apropos Spitze des Eisbergs: Das kann ja nun wirklich noch nicht alles gewesen sein! Mein Gott, was mag da noch für ein Abgrund dahinter gähnen! Jawohl, Leser, Leserinnen, Verbrecher und Verbrecherinnen: Da stecken mindestens 30 Tonnen Kokain dahinter, die das deutsche Volk sich jedes Jahr auf die Schleimhäute streut. Plus Ketamin, Amphetamin-Derivate jeglicher Art, Crystal und Ephedrin, Hitlers Vitaminpillen und Jägermeister in handlichen Verbrauchsdosierungen von 0,05 bis 1,5 Liter für den kleinen und den großen Durst. Jahrzehntelang waren Stoffe mit deutlicher Ähnlichkeit zu Crystal bei deutschen Dealern in den besten Lagen, firmierend unter „Goethe-, Schiller-, Schloss- oder Kreuzapotheke“, frei verkäuflich unter der Rubrik „Appetitzügler“. Nahm der adipöse oder ermattete Deutsche zehn statt einer Kapsel, drehte er voll auf, schlief zwei Tage nicht und mutmaßte ernsthaft, demnächst den Nobelpreis für seine göttlichen Penne arrabiata zu kriegen.

Was ich Ihnen damit sagen will? Fallen Sie doch nicht immer auf immer dasselbe Spiel herein. Denken Sie an Jägermeister und Eierlikör, Appetitzügler und Serotoninabbauhemmer in Ihrem eigenen Leben und dem Ihrer Lieben. Fragen Sie die Politiker Ihres Vertrauens, auf welche wunderbare Weise es ihnen gelingt, seit 20 Jahren sieben Tage die Woche vierzehn Stunden für nichts als unser aller Wohl zu arbeiten, ohne abhängig, abgedreht, depressiv, therapiert, verzweifelt, süchtig oder verrückt zu sein.

Wenn aber die Antwort lautet: Meine ganze Kraft kommt aus der Liebe zu meiner Familie, zu Deutschland, zur Exportwirtschaft und zum Abendland, dann glauben Sie jedes Wort. Denn der besorgte Bürger könnte es nicht ertragen, wenn so viel Inbrunst gelogen wäre. Fehlerfreie Aufrichtigkeit bis in die verstecktesten Winkel seiner Seele und seines Lebens ist es nämlich, was er, dem eigenen Vorbild folgend, von seinen Abgeordneten verlangt.

So hat sich denn, ganz schnell und beinahe unhörbar, ein weiterer Politiker in Luft aufgelöst, weggeblasen wie ein Häufchen Puderzucker auf der Fensterbank, wie schon die Herren Edathy oder Hartmann. Alle sind erleichtert, dass er keinen großen Aufriss macht, und erfüllt vom „Respekt“ vor der Großtat, innerhalb von sechs Stunden von sich selbst zurückzutreten. FJS, der unvergessene Held, der sich einst von keinem Promille dieser Welt davon abhalten ließ, eine Fernsehrede an die Zwergennation zu halten, hätte sich gewundert. Aber der war ja auch nicht schwul, und von Eisbergen unter Wasser verstand er als Ananaspflanzer in Alaska allemal etwas.

Rausch und Gefahr, allgemein

Der Rausch, davon ist der Bürger überzeugt, erhöht die Gefahr der kriminellen Abweichung, von was auch immer. Eine interessante Theorie, jedenfalls eine Erfahrung. Jede und jeder, den man hierzulande fragt, bestätigt die These. Anders, wenn man sogenannte Naturvölker befragt: Inuit oder Yanomami oder Aborigines; oder wenn man in die ethnologischen Quellen unserer eigenen Zivilisation blickt: Dort erscheint der Rausch, die Ekstase, das Entrücktsein zwar immer auch als Grenzüberschreitung, keineswegs unausweichlich aber als eine Richtung Asozialität. Keine Jagd ohne Rausch! Kein Kriegszug ohne ekstatisches Hervortreten des Charisma! Keine Gotteserfahrung ohne exaltierten Zustand!

Der rauscharme Bürger muss also eine kryptische Theorie haben von Kontrolle und Ekstase, Ordnung und Chaos, Rausch und Gefahr, und damit immer auch von sich selbst – von einer in ihm selbst verborgenen „Natur“ der Gefährlichkeit. Das scheint mir sehr sympathisch: Ein Rest von Empathie für den Gorilla und den Neandertaler in uns; ein genetisch verankerter Geruch von Wildheit und Überwältigung. Und es ist gewiss nicht der Geruch, der aus den Jogginganzügen und Bodysuits der Saison aufsteigt.
Rausch, strafrechtlich, einst…

In der guten alten ausländerfreien Deutschen Demokratischen Republik (man muss das einfach mal wieder ausschreiben dürfen!) trank man Braunen oder Weißen, Pfeffi oder süßen Wein, bis die Birne krachte. Weil der Sozialismus so schön war und die Wissenschaft so entwickelt, bestimmten die Organe (ein Begriff, den Sie, verehrte Leser, jetzt einfach mal hinnehmen müssen), in Paragraf 15 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs der DDR:

„Strafrechtliche Verantwortlichkeit ist ausgeschlossen, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen zeitweiliger oder dauernder krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Bewusstseinsstörung unfähig ist, sich nach den durch die Tat berührten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entscheiden“,

also etwas ziemlich Vernünftiges, um dann aber gleich in Absatz 3 hinzuzufügen:

„Wer sich schuldhaft in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rauschzustand versetzt und in diesem Zustand eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, wird nach dem verletzten Gesetz bestraft.“

Das bedeutete: In der Regel nützte Besoffensein nicht. Denn „schuldhaft“ war, nach dem bisschen schematischen Verständnis des entwickelten sozialistischen Menschenbilds, jegliches Zusichnehmen von Wilthener Goldkrone & Co., weil: Das weiß doch jeder (proletarische Grundregel). Andere Drogen gab es in der DDR ja nicht, weil das Rauschgift doch eine typisch kapitalistische Verfallserscheinung ist (Theorie des ZK). Gut, dass wir das nicht haben, denkt noch heute der Freund des Radeberger Weltniveaus und zieht den Trainingsanzug stramm. Früh schon durchschaute ein damals berühmter Freund der deutschen Jugend, „dass der Gegner versucht, durch eine Übersteigerung der Beatrhythmen die Jugend zu Exzessen aufzuputschen“. Später wurde er noch berühmter, trank aber dem Vernehmen nach keinen Eierlikör mit Udo Lindenberg, was ihn letzten Endes sein Amt kostete und den Kapitalismus siegen ließ: Zu viel Dachdeckerei, zu wenig Rock ’n‘ Roll. Amy Winehouse jedenfalls hätten wir in den Jugendwerkhof gesteckt, die könnte heute eine Helene F. sein.
… und jetzt …

Das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik geht deutlich anders an die Sache heran, was bis heute zu Unverständnis und Verbitterung in den neuen Bundesländern führt. Strafrechtliche Verantwortlichkeit, genannt „Schuldfähigkeit“, setzt danach voraus: Wissen, dass man Unrecht tut, und Vermeidbarkeit des Handelns gegen diese Einsicht (Paragraf 20 StGB). Das erste nennt man „Einsicht“ (= Erkennen, dass man gegen das Gesetz handelt), das zweite „Steuerung“ (= sich gemäß der Einsicht in das Unrecht verhalten).

Der Mensch an sich, wie ihn sich das Strafrecht als „Durchschnitt“ erträumt, ist oder kann beides: Er hat Einsicht, und er kann sich „dieser Einsicht gemäß verhalten“. Wenn man ihm sagt, dass seit der Veröffentlichung des letzten Bundesgesetzblatts das Essen von Linseneintopf nunmehr ein Verbrechen sei, verspeist der Deutsche keine einzige Linse mehr, bis das Bundesverfassungsgericht, genannt „Karlsruhe“, entweder das Linsenbekämpfungsgesetz der jeweiligen großen Koalition für verfassungswidrig (Achtung Analysten: Aufschwung der hellbraunen schwäbischen Alblinse) oder für verfassungsgemäß (Absturz der gelbschwarzen abruzzischen Berglinse) erklärt hat. Wer dennoch Linsen isst (strafschärfend: mit Spätzle), kann sich nicht herausreden: Er wusste, er tut Unrecht. Und hat es trotzdem wieder getan!

…und davon wieder die Ausnahme

Jetzt die rechtsstaatliche Ausnahme (Stichwort: Verhältnismäßigkeit): Linsensucht; Wahnerkrankung (Wahn, Linsen seien kleine braune Götter, die Einlass begehrten); Zwang durch Dritte (bewaffnete Bande von Linsenanbauern zwingt Villa Riba & Villa Bacho, riesige Tröge von Linseneintopf zu kochen und zu verzehren). Wer von uns wird schon unter Vorhaltung einer Waffe gezwungen, Linsensuppe zu essen? Andererseits: Wenn man nur genug der hierzulande dank jahrzehntelangem Krieg gegen die Drogen praktisch unbeschränkt erhältlichen Rauschmittel in sich hineinpumpt, das weiß jeder Sprössling jeder Arztfamilie, ist alles möglich.

…und die Ausnahme von der Ausnahme

Die nächstliegende Möglichkeit: Sich so lange berauschen, bis alle Sicherungen durchbrennen. Der wahrhaft Berauschte fühlt sich bestenfalls noch für das Universum verantwortlich, nicht aber für Hab und Gut und Leben seines Nächsten.

So einfach geht das natürlich auch nicht: Wo kämen wir da hin (siehe oben, DDR)! Also hat sich die kapitalistische Strafrechtsdogmatik zwei Ausnahmen einfallen lassen. Ausnahme eins: actio libera in causa (der Jurastudent schreibt hier: alic). Klingt gut, ist gut, wirkt gut. Es bedeutet, übersetzt: Handlung, deren Ursache frei verantwortet ist. Dogmatisch: Vorverlagerung der Schuld, oder: Verantwortlichkeit für die (bloße) Folge einer frei verantwortlichen Handlung. Suchen Sie nicht im Gesetz – das steht dort nicht, sondern ist eine wissenschaftliche Ergänzung, die „richterrechtlich“ einfach übernommen wurde. An dieser Stelle muss ich Sie leider bitten, mir in drei Lehrbuch-Fälle zu folgen. Keine Angst: Alles geht gut aus!

Fall 1: A möchte eine Tankstelle überfallen. Er kauft: 1 Messer, 1 Motorrad-Kopfhaube, 1 Paar Handschuhe, 1 Tüte, 1 Paar gefälschte Nummernschilder. Er weiß, dass er die Tat nüchtern nicht begehen kann, weil große Angst. Daher zieht er sich um 19.30 Uhr eine Flasche Johnny Walker plus ein Gramm Amphetamin rein. Um 20.00 Uhr begeht er die Tat (Beute 1.000 €), wird kurz danach aber festgenommen. Der forensische Psychiater stellt fest: A konnte sich zum Tatzeitpunkt nicht mehr „steuern“.

Dazu sagen Strafrechtsdogmatik und Rechtsprechung folgendes: Pech gehabt. Die „Schuldunfähigkeit“ (also: Unfähigkeit, das Unrecht zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln) spielt keine Rolle, wenn sie vor der Tat vorsätzlich herbeigeführt wurde, gerade um die konkrete (Vorsatz)tat begehen zu können. Die actio (Tat) war libera (frei verantwortlich) in causa (in ihrem Ursprung). Das ist also ganz ähnlich wie im DDR-Strafrecht.

Fall 2: Wie Fall 1, aber A begeht bei dem Überfall auch noch eine „gefährliche Körperverletzung“ am Kassierer B, indem er ihn mit einem Messer verletzt. Das hatte er vorher nicht bedacht.

Lösung: Schuldunfähigkeit schließt eine Bestrafung wegen vorsätzlicher gefährlicher (Paragraf 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder fahrlässiger Körperverletzung (Paragraf 229 StGB) eigentlich aus. Dagegen könnte wieder der Gedanke der actio libera in causa sprechen:

Vorsätzliche actio libera in causa? Nein, denn A hat zum Zeitpunkt des Trinkens/Amphetaminkonsums nicht vorsätzlich „geplant“, B später in schuldunfähigem Zustand zu verletzen. Daher liegt kein „Vorsatz“ vor, den eine Bestrafung wegen „gefährlicher Körperverletzung“ voraussetzen würde. Allerdings ist Körperverletzung auch fahrlässig strafbar (Paragraf 229 StGB). Eine Bestrafung „wegen fahrlässiger Körperverletzung“ ist möglich – obwohl A zur Tatzeit schuldunfähig war –, wenn erstens A zum Zeitpunkt des Sichberauschens aus Unachtsamkeit nicht erkannt hat, dass er eine Straftat begehen könnte (hier sicher gegeben), und zweitens diese Straftat auch fahrlässig (also: aus Unachtsamkeit) möglich ist.

Im Fall: Beides liegt hier vor. Wer (zur Drohung) ein Messer mitnimmt, wenn er eine Tankstelle überfällt, kann und muss damit rechnen (Fahrlässigkeit), dass ein Mensch verletzt wird, auch wenn er es nicht will.

In der DDR wäre der Fall anders gelöst worden: Paragraf 15 Absatz 3 Strafgesetzbuch-DDR schor alles über einen ziemlich groben Leisten. Wer fahrlässig verkannte, dass er infolge Saufens schuldunfähig werden könnte, wäre hier wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung bestraft worden.

Fall 3: Gelegentlich des Überfalls fällt dem volltrunkenen A auf, dass der Kassierer der Tankstelle eine junge Frau ist. Spontan und aufgrund seiner schuldausschließenden Berauschtheit entschließt er sich dazu, ihre Angst vor der Bedrohung mit dem Messer dazu auszunutzen, sie im Genitalbereich über der Kleidung anzufassen.

Lösung: Sexuelle Nötigung (Paragraf 177 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 StGB)? Nein, denn A ist „schuldunfähig“. Actio libera in causa vorsätzlich? Nein, denn A hat in schuldfähigem Zustand an diese Tat überhaupt nicht gedacht und daher auch keinen Vorsatz. Fahrlässige actio libera in causa? Nein: Einen Tatbestand „Fahrlässige sexuelle Nötigung“ gibt es (zum Glück) nicht. Ergebnis bis hierher: Hinsichtlich der sexuellen Nötigung ist A straflos.

Vergleich DDR-Recht: Paragraf 15 Absatz 3, wie immer gnadenlos: Verurteilung wegen vorsätzlicher sexueller Nötigung.

Rausch als Straftat

Noch aber ist das Strafrecht nicht zu Ende: Es folgt die Ausnahme zwei: Paragraf 323a Strafgesetzbuch. Die Vorschrift lautet:

Vollrausch
(1) Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist.
(2) Die Strafe darf nicht schwerer sein als die Strafe, die für die im Rausch begangene Tat angedroht ist.

Gerechtigkeit

Tatbestandliche Voraussetzung einer Strafbarkeit nach dieser Vorschrift ist erstens, dass der Täter sich „vorsätzlich oder fahrlässig“ in einen Rausch versetzt. Das ist leicht: Jede(r) weiß, wie übliche Drogen wirken. Vorsatz oder Fahrlässigkeit liegen daher nur dann nicht vor, wenn der Täter nicht damit rechnet, „berauscht“ zu werden. Das kann im Einzelfall vorkommen, wenn einer trinkungewohnten Person hochprozentiger Schnaps in den Saft gemischt wird, oder wenn einer Person ein Rauschmittel mit Zwang oder List beigebracht wird.

Zweitens muss der Täter im Anschluss „eine rechtswidrige Tat begehen“. Das schaffen die meisten von uns auch noch. Drittens muss er „ihretwegen“ (also: wegen der Tat) nicht strafbar sein, weil (!) er wegen (!) des Rausches entweder sicher oder zumindest möglicherweise schuldunfähig ist.

Letzteres ist in seinen Verästelungen nicht leicht zu verstehen, aber es kommt hier nur auf den Grundsatz an, und der ist im Ansatz ziemlich gerecht. Man muss sich nur auf den Gedankengang des Gesetzes einlassen:

Das Gesetz geht davon aus, dass der Mensch aufgrund des Einflusses von „berauschenden“ Substanzen in einen Zustand geraten kann, in dem er entweder gar nicht mehr erkennt, dass sein Handeln „rechtswidrig“ ist, also gegen ein Strafgesetz verstößt, oder in dem er dieses zwar noch erkennt, aber seine Motivation und Emotion einfach nicht mehr „steuern“ (beherrschen) kann. „Einsichtsfähigkeit“ nennt man das erste, „Steuerungsfähigkeit“ das zweite.

Wie sich der „Rausch“, der solches bewirkt, auf die Strafbarkeit auswirkt, kommt auf die Umstände an. Das Gesetz unterscheidet drei Stufen:

Der Täter will die Tat und berauscht sich in der Absicht, sie begehen zu können (Fall 1: vorsätzliche actio libera in causa).
Der Täter will die Tat nicht, müsste aber mit ihr rechnen, und berauscht sich (Fall 2: fahrlässige actio libera in causa).
Der Täter will die Tat nicht, denkt auch nicht an sie und muss sie auch nicht vorhersehen und berauscht sich unabhängig davon vorsätzlich oder fahrlässig (Fall 3: Straftat des vorsätzlichen oder fahrlässigen Vollrauschs).

„Rausch als Straftat“ (Paragraf 323a StGB) ist der letztgenannte Fall. Denn hier besteht keine Willens- oder Fahrlässigkeitsverbindung zwischen dem Sichberauschen und der späteren Tat; diese ist vielmehr quasi nur zufällig „in diesem Zustand“ begangen. Sie ist, egal ob Ladendiebstahl oder Mord, daher kein „Tatbestandsmerkmal“ der Tat „Vollrausch“. Wäre sie es, so müsste sich ja der Vorsatz oder die Fahrlässigkeit auf sie erstrecken. Dann wäre aber (schon) ein Fall der actio libera in causa gegeben. Anders beim „Vollrausch“: Hier ist nicht der Totschlag oder der Raub „die Tat“, sondern allein das „Sichberauschen“, also das Saufen, Drücken, Sniefen, Schlucken selbst. Bei dem „Vorsatz“ und der „Fahrlässigkeit“ des Paragrafen 323a geht es allein um den Akt des Sichberauschens, nicht aber um die „Rauschtat“.

Gerechtigkeit

Jetzt sollten wir noch kurz überlegen, ob diese kompliziert erscheinende Konstruktion „gerecht“ ist und Vorteile gegenüber dem DDR-Recht (oder anderen) hat.

Die zuletzt genannte Konstruktion (des Paragrafen 323a StGB) könnte einem als ausgesprochen ungerecht erscheinen. Der Mensch und Bürger berauscht sich tagein, tagaus. Er darf gleichwohl in berauschtem Zustand Politik betreiben, Urteile fällen, Herzen transplantieren, Talkshows moderieren, oder Brötchen backen, Software entwickeln oder Bremsen prüfen. Nichts davon ist verboten. Nur in einigen Sonderfeldern hat der Gesetzgeber schon eine Tätigkeit im Rausch unter Strafe gestellt: Straßen-, Luft- und Schiffsverkehr (vergleiche dazu die Kolumne der vergangenen Woche).

Das bedeutet im Gegenschluss: Das Sichberauschen ist nicht strafbar. Auch das Irgendetwas-Tun in berauschtem Zustand ist nicht strafbar. Wer mit 2 Promille Blutalkohol ein Atomkraftwerk leitet, eine Bundesregierung regiert, 500 Schüler unterrichtet, eine Lebertransplantation durchführt oder einen Kommentar auf heute.de spricht, ist nicht strafbar. Auch wer mit Null komma sechs Gramm Crystal Meth im Kopf eine Bundestagsdrucksache unterschreibt, ist straffrei.

Aber wehe, wehe dem, der in berauschtem Zustand den Chef als „Witzfigur“ bezeichnet, ein Antitranspirant für 1,99 € stiehlt oder den Weltkrieg erklärt. Da schaltet sich prompt die Tatbestandsfindungsmaschine ein: actio libera in causa oder „Vollrausch“ wären das Ergebnis. Der gnädige Gesetzgeber begrenzt im letzteren Fall die Strafe für den Vollrausch (fünf Jahre) auf das Maß der Strafe für die Rauschtat (im Beleidigungsfall: ein Jahr).
Schluss

Nun gut, sagt der berauschte Germane, was soll’s? So einfach ist das nicht, spricht die Verfassung. Man muss sich schon entscheiden, was eigentlich „verwerflich“ sein soll, was ein „Verbrechen“, und was „Zufall“. Und für was der Mensch in uns die Verantwortung trägt. Die Grenzen sind nicht so klar und einfach, wie wir sie erhoffen, und das ist keine Erfindung von „spitzfindigen“ Juristen, um den armen Bürger zu drangsalieren, sondern im Gegenteil der ernsthafte Versuch, dem Bürger, der Gesellschaft, der Natur und den Verbindungen zwischen allen dreien halbwegs gerecht zu werden.

(Strafrechtliche) Verantwortung ist ja, wie in dieser Kolumne gelegentlich erwähnt, ein kompliziertes, scheues, verborgenes und brutales Wesen. Sie steht „im Gesetz“, ergibt sich aber in Wahrheit aus unserer Wirklichkeit. Das Recht und seine Anwender haben die Aufgabe, beides so zusammen zu bringen, dass es einigermaßen passt.

Wenn Sie das nicht glauben oder nur mit höhnischem Lachen quittieren: Erinnern Sie sich bitte daran, dass auch heute, da Sie dies hier lesen, auf der Welt wieder 5.000 Kinder an Unterernährung gestorben sind, die Sie und ich ohne Weiteres hätten retten können, wenn wir es nur wirklich gewollt und wichtig gefunden hätten. Ich weiß nicht, welcher Rausch uns beflügelt, das einfach hinzunehmen. Ich befürchte, alle Strafrechtsdogmatik der Welt, wenn sie bei Trost ist, wird nicht ausreichen, um uns als „nicht verantwortlich“ in die goldene Freiheit zu entlassen.