Fehler passieren. Sogar im Bundesgerichtshof. Der Teufel sitzt im Detail. Ein Beispiel.
Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit und Jugend oder aktuellen Beispielen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!
12. April 2016, 16:54 Uhr
Ceterum Censeo: Die Qualitätspresse steht nicht nur für Sachkenntnis des Autors, sondern auch für Präzision des redaktionellen Faktenchecks. Allerdings: Es gibt Unterschiede in der Akkuratesse. Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Beispiel soll jedes Detail stimmen, aber selbst hier kommen Ausnahmen vor. So schrieb eine FAZ-Autorin vor einiger Zeit Folgendes zum Sexualstrafrecht:
„Wer keinen Geschlechtsverkehr möchte, muss sich aktiv dagegen zur Wehr setzen. Das ist geltende Rechtslage. (…). Erforderlich ist nach der Rechtsprechung, dass das Opfer gerade im Hinblick auf seine Schutzlosigkeit auf Widerstand verzichtet. Aufgrund von körperlicher Unterlegenheit (…) auf Abwehr zu verzichten, reicht nicht aus.“
Diese Behauptung ist, wir müssen es leider so deutlich sagen, das glatte Gegenteil der Wahrheit. In der Grundsatzentscheidung des 2. Strafsenats aus dem Jahr 2006 (BGHSt 50, S. 359, 362), dem sich alle anderen Senate angeschlossen haben, heißt es:
„Der Tatbestand (des § 177 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 StGB) setzt (nur) voraus, dass das Opfer „aus Furcht vor möglichen Einwirkungen des Täters auf (…) Widerstand verzichtet“; „Schutzlosigkeit“ setzt voraus, „dass das Opfer möglichen Gewalteinwirkungen des Täters weder erfolgreich körperlichen Widerstand entgegensetzen noch Hilfe Dritter erlangen könnte“.
Mit anderen Worten: „Aufgrund von körperlicher Unterlegenheit auf Abwehr zu verzichten“, reicht nicht nur aus, sondern ist sogar exakt das, was die Rechtsprechung als den Regelfall einer Vergewaltigung ansieht (und mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu 15 Jahren bestraft).
Man könnte nun sagen: Eine seltsame „Qualität“, die zu solch krassen Fehlinformationen der Öffentlichkeit führt. Aber man muss das differenziert sehen. Wo hart gearbeitet wird, passieren im Eifer eben auch einmal Fehler. Und die FAZ liegt ja auflagemäßig jedenfalls noch ein ganzes Stück vor dem Bad Dübener Anzeiger.
Fehler-Dimensionen
Fehler sind unvermeidlich. Auch bei der Justiz passieren sie. Hier sind sie aber nicht bloß menschlich verständlich, sondern liegen in der Natur kleiner wie großer Bürokratien, ganz besonders in der Natur Letzterer. Lassen Sie mich dazu eine kleine Geschichte aus dem Inneren des Revisionsrechts erzählen. Um sie zu verstehen oder jedenfalls ihre Tiefe zu erahnen, muss der Leser zuvor einiges über die Abläufe im BGH erfahren und begreifen.
Beschlüsse
Wie Sie wissen, liebe Leser, entscheiden die Strafsenate des Bundesgerichtshofs über die Revisionen, die vom Angeklagten, der Staatsanwaltschaft oder von Nebenklägern eingelegt werden (oder von allen zugleich), entweder im Beschlussverfahren (etwa 90 Prozent) oder im Urteilsverfahren. Nicht nur der Gang der Dinge bis zur und bei der Entscheidung, sondern auch der Ablauf nach der Entscheidung sind dabei unterschiedlich: Zur Vorbereitung der Beschlussberatung wird – anders als bei den Zivilsenaten – kein „Votum“, also kein vorformulierter Entscheidungsentwurf des Berichterstatters, verteilt.
Nehmen wir an, der Senat gelangt in der Beratung nach dem Vortrag des Berichterstatters zu einem einstimmigen Ergebnis. In den meisten Fällen (etwa 80 Prozent) ist das die Verwerfung der Revision als „offensichtlich unbegründet“ (Paragraf 349 Abs. 2 StPO). Die Verwerfung muss meist nicht ausführlich begründet werden, es reicht nach ständiger – allerdings nicht unumstrittener! – Rechtsprechung eine formelhafte Begründung folgenden Wortlauts aus: „Die Revision wird als unbegründet verworfen, weil die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers ergeben hat.“ Das Formular wird nach der Beschlussfassung alsbald mit dem Datum versehen und reihum unterschrieben. Der Fall ist erledigt. Jedenfalls für den BGH.
Viele Strafverteidiger und auch Wissenschaftler kritisieren das, weil sich aus der formelhaften „Begründung“ inhaltlich nichts ergibt: Weder kann man erkennen, ob der Senat alle Argumente der Revision erwogen und besprochen hat, noch, was er zu einzelnen Rügen meinte oder welche sonstigen Rechtsfragen er möglicherweise erörtert hat.
Ergebnis und Begründungen
Der BGH verweist aber – mit einigem Recht – darauf, dass der Generalbundesanwalt (GBA) zu jeder Revision eine meist gründliche, umfassende Stellungnahme plus Antrag verfasst, die er an den zuständigen Senat schickt, sowie an die Revisionsführer und sonstigen Verfahrensbeteiligten. Verwirft nun der Senat einstimmig und antragsgemäß mit der genannten Formel, heißt das in der Regel, dass er sich den Argumenten des Generalbundesanwalts anschließt. Der Revisionsführer kennt diese schon und hatte bereits Gelegenheit, auf sie zu antworten. Verwirft der Senat die Revision aus ganz anderen Gründen als jenen des GBA, fügt er der Formel in der Regel „Zusätze“ an, die auf den abweichenden Grund hinweisen. Darüber hinaus steht es natürlich jedem Senat frei, auch Verwerfungen als „offensichtlich unbegründet“ (Paragraf 349 Abs. 2 StPO) umfänglich zu begründen. Das geschieht etwa bei Entscheidungen über Grundsatzfragen.
Ergibt die Beratung, dass ein Urteil ganz oder teilweise aufgehoben werden muss, muss dieser (gemäß Paragraf 349 Abs. 4, in Verbindung mit Abs. 2) ergehende Beschluss ausführlich begründet werden. Da ein „Votum“ nicht vorliegt, muss der Berichterstatter die Begründung der Beschlussentscheidung nach Beratung entwerfen und der Senat sie anschließend gutheißen.
„Erledigt“ ist in diesen Fällen die Sache erst, wenn der Beschlussentwurf des Berichterstatters von allen am Beschluss beteiligten 5 Richtern unterschrieben worden ist. Das geschieht meist im Umlaufverfahren und kann – je nach Schwierigkeit der Sache, nach Geschäfts-, Urlaubs- und Krankenlage gelegentlich etwas dauern. Alle Senate streben eine rasche Erledigung an, weil bei der Vielzahl der Fälle die konkrete Erinnerung an die Beratung einer bestimmten Revision rasch schwindet und man sich gelegentlich zwei Monate später gar nicht mehr daran erinnert. Ja, nicht einmal daran, ob man bei der Beratung überhaupt dabei gewesen ist. Der längst entschiedene Fall erscheint dem Bundesrichter beim Lesen des Entwurfs dann wie neu. In Einzelfällen kann das dazu führen, dass Richter versehentlich Beschlussentwürfe unterschreiben, an deren Entscheidung sie gar nicht mitgewirkt haben. Erst die Erinnerung der übrigen oder der Geschäftsstelle klärt den Irrtum auf.
Weil zum Zeitpunkt der Entscheidung (in der Beratung) noch kein Text vorliegt, über den sich endgültig abstimmen ließe, sind sowohl das Ergebnis der Beratung als auch die Gründe so lange „offen“, bis die schriftlichen Gründe „fertiggestellt“ sind, also nach der letzten Unterschrift des letzten Richters zur Bearbeitung an die Geschäftsstelle weitergegeben wurden. Während dieser Zeit kann jedes Senatsmitglied noch eine „Nachberatung“ verlangen, seine Meinung ändern oder eine Beratung über die Fassung der Beschlussgründe anregen. Es gibt solche Entscheidungen, die zunächst einstimmig fallen, über deren schriftliche Gründe unter den 5 Richtern dann aber nachträglich monatelang gerungen wird.
Das Licht der Öffentlichkeit erreichen die Beschlüsse der Revisionssenate – Ergebnis und Begründungen – erst, wenn alles fertig, unterschrieben und an die Verfahrensbeteiligten zugestellt ist. Danach werden die Entscheidungsabdrucke an alle Richter aller Senate verteilt (die sogenannte „Montagspost“, weil der Packen neuer Entscheidungen pünktlich am Montag früh im Akteneingang liegt), auf die BGH-Homepage gestellt und an Zeitschriften und Datenbanken versandt.
Urteile
Anders, wenn es zum Urteil kommt: Hier wird regelmäßig ein fertig formulierter Entscheidungsvorschlag (Votum) vom Berichterstatter angefertigt und mit der kopierten Revisionsakte (dem sogenannten Senatsheft) an alle 5 Mitglieder jener Spruchgruppe verteilt, die zu entscheiden hat. In Einzelfällen werden von Senatsmitgliedern, die andere Gesichtspunkte einbringen wollen, „Gegenvoten“ oder ergänzende Voten verfasst. In jedem Fall liegen dem Senat in der Urteilsberatung, also nach Durchführung einer Revisionshauptverhandlung, schriftliche Entwürfe vor, über die abgestimmt werden kann. Entscheidungen nach Hauptverhandlung ergehen nicht durch Beschluss, sondern durch Urteil, das in öffentlicher Hauptverhandlung mündlich zu verkünden ist: Der Vorsitzende fixiert den „Urteilstenor“, also die Entscheidungsformel, vor der Verkündung schriftlich und „verliest“ sie dann. An der verlesenen Urteilsformel dürfen, von ganz offensichtlichen Schreibversehen oder Versprechern abgesehen, keinerlei Änderungen mehr vorgenommen werden.
Die vom Senatsvorsitzenden im Anschluss an das Verlesen der Urteilsformel mündlich mitgeteilten Gründe sind meist kurze Zusammenfassungen, manchmal noch nicht einmal das. In Ausnahmefällen können sie aber auch die Form einer Vor-Lesung der Gründe aus dem Votum sein. Je nach Geschmack des oder der Vorsitzenden kann es dazu kommen, dass das gesamte Votum samt der darin nacherzählten Feststellungen der Vorinstanz vorgelesen wird.
Diese mündliche Urteilsbegründung ist „die Stunde des/der Vorsitzenden“. Hier werden die Formeln geprägt, die Sinn-Sprüche geäußert, die „Haltungen“ dargestellt, welche das Bild des BGH nach außen prägen. Wurde der Vorsitzende von den anderen Senatsmitgliedern in der Beratung überstimmt, ist es seine Pflicht und Kunst, dreißig Minuten später die Urteilsgründe der obsiegenden Senatsmehrheit mit Grandezza und Vehemenz zu vertreten.
Die schriftlichen Gründe von Urteilen werden im Grundsatz ebenso hergestellt wie die von Beschlüssen. Mit dem Unterschied, dass ein Entwurf (Votum) vorliegt und die Gründe der verkündeten Urteilsformel entsprechen müssen; „Nachbessern“ oder Verändern in der Sache ist weder erlaubt noch möglich. Manchmal – wenn es der Berichterstatter ist, der überstimmt wurde – muss er einen komplett neuen Entwurf schreiben, der das Gegenteil der von ihm selbst vertretenen Ansicht überzeugend begründet. Der Rest ist Routine und Aktenumlauf, siehe oben. Fassungsberatungen von Urteilsgründen sind möglich, zulässig und nicht selten, betreffen aber immer nur Fassungsfragen, nie die verkündete Entscheidung selbst. Das ist der Unterschied zum Beschlussverfahren.
Obiter dicta – Eine Rechtsprechungsänderung
Nach diesen Vorinformationen über den Gang der Dinge nun ein praktischer Fall, in dem sich die gewonnenen Erkenntnisse sowie die Eigenarten der Fehler miteinander verbinden.
Viele Jahre lang blieb unentschieden, welche Folgen eine sogenannte „rechtsstaatswidrige Tatprovokation“ haben könnte. Tatprovokationen sind Fälle, in denen Vertrauensleute der Polizei (also Bürger aus dem „Milieu“) oder Verdeckte Ermittler (Polizeibeamte unter falscher Identität) Unschuldige dazu anstiften, Straftaten zu begehen, damit sie anschließend festgenommen und zur Abschreckung Dritter bestraft werden können. Besonders beliebt war die Tatprovokation lange im Bereich von Rauschgiftkriminalität, Waffendelikten, Menschenhandel und dergleichen. Auch im Bereich rechtsradikal motivierter Delikte soll die Tatprovokation, wie man hört, eine Rolle spielen.
Die Intensität der provozierenden Einwirkung schwankt natürlich, auch die „Tatbereitschaft“ der Provozierten. Klar ist: Wer als Straßendealer von einem verdeckt arbeitenden Polizeibeamten gefragt wird, ob er ihm Crack verkaufe, und das bejaht, kann sich nicht auf eine „rechtsstaatswidrige Provokation“ herausreden. Andererseits: Wer von Verdeckten Ermittlern über Monate hinweg in ein Lügennetz vermeintlicher Freundschaft oder gar Liebe verstrickt und dann unter nachdrücklichem Appell an die Beziehung oder mit Hinweis auf eine angebliche Notlage mühsam zu einer schweren Straftat überredet wird, dem geschieht echtes Unrecht. Der Bürger muss es sich nicht gefallen lassen, vom Staat als bloßes „Mittel zum Zweck“ der Abschreckung missbraucht zu werden.
Rechtslage
So weit, so schlecht. Die Frage, was in solchen Fällen zu geschehen habe, war lange streitig. Der BGH hatte viele Jahre lang entschieden, es sei, wenn eine unzulässige Provokation vorliege, die Strafe zu mildern (Strafzumessungslösung; siehe Urteil des 1. Strafsenats vom 30. Mai 2001 – 1 StR 42/01). Dann kam ein Paukenschlag aus Straßburg: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 23. Oktober 2014, dass die Praxis der deutschen Justiz mit der Menschenrechtskonvention nicht vereinbar sei (Urteil vom v. 23.10.2014, Aktenzeichen 54648/09), weil eine Kompensation des Unrechts, das einer völlig unschuldigen Person dadurch widerfahre, dass sie vom Staat selbst gezielt zu Straftaten gebracht wird, durch bloße Strafmilderung nicht ausreiche. Vielmehr sei in solchen Fällen das ganze Strafverfahren „von Anfang an unzulässig“. Der EGMR verurteilte deshalb die Bundesrepublik.
Das Bundesverfassungsgericht, das die Strafmilderungsrechtsprechung des BGH stets als fehlerfrei angesehen hatte, entschied daraufhin – in einer Kammerentscheidung am 18. Dezember 2014 (Az. 2 BvR 2014 und andere) – , so schnell schössen die Preußen nicht. Selbst wenn der EGMR Recht habe, führe das nicht notwendig zur Unzulässigkeit des Strafverfahrens, sondern vielleicht zu irgendetwas anderem, was allerdings derzeit noch offen bleiben könne… (ebenda, Rn. 38 ff.).
In dieser Rechtslage traf den 2. Strafsenat des BGH nun ein Verfahren, worin in staatsübergreifendem Zusammenwirken von mindestens vier Verdeckten Ermittlern zwei Bürger dazu gebracht worden waren, zweimal Ecstasy-Tabletten aus den Niederlanden einzuführen. Unter anderem hatte man sie mit der vorgetäuschten Legende gelockt, die Familie des als „Freund“ auftretenden Verdeckten Polizisten werde von „der serbischen Mafia“ bedroht, wenn er nicht liefere (vgl. dazu im Einzelnen Urteil vom 10. Juni 2015 – Az. 2 StR 97/14). Der Senat bestimmte einen Termin zur Hauptverhandlung und teilte dies in einer Presseerklärung vom 28. Januar 2015 mit, die – wie es üblich ist – auch allen Bundesrichtern per E-Mail zuging. Die Verhandlung fand, nachdem sie zunächst verschoben werden musste, am 6. Mai 2015 in Anwesenheit zahlreicher Pressevertreter statt. Der Termin zur Verkündung des Urteils wurde auf den 10. Juni 2015 bestimmt.
Zugleich, aber vorerst unbemerkt, hatte der 1. Strafsenat über eine Revision zu entscheiden, die ebenfalls eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation rügte. Er entschied nicht durch Urteil, sondern durch Beschluss am 19. Mai 2015 (1 StR 128/15), also zwei Wochen nach der Hauptverhandlung des 2. Strafsenats. Bedauerlicherweise hatte er bis zu diesem Zeitpunkt weder von der Pressemitteilung vom 28. Januar noch von den Presseberichten über die Hauptverhandlung vom 6. Mai Kenntnis erlangt.
Der 1. Senat unter der Leitung seines damaligen Stellvertretenden Vorsitzenden entschied deshalb unbeschwert von fremden Rechtsansichten und gelangte zur Feststellung, eine Verfahrenseinstellung wegen eines Verfahrenshindernisses sei bei rechtsstaatswidriger unzulässiger Tatprovokation keinesfalls geboten. Sodann prüfte er die Frage, ob in seinem konkreten Fall eine solche Provokation überhaupt gegeben sei. Insoweit kam er zum Ergebnis, dies sei nicht der Fall.
Sein Rechtssatz, eine rechtsstaatswidrige Provokation führe trotz der Entscheidung des EGMR nicht zur Verfahrenseinstellung, war somit ein klassisches „obiter dictum“ (ein bloßes „nebenbei gesagt“). Solche Obiter dicta haben keine Bedeutung für die Entscheidung des konkreten Falles und keine Bindungskraft für andere Senate oder Gerichte. Sie sagen, was sein soll, wenn es so wäre, wie es nicht ist. Das ist in der Regel überflüssig und manchmal gefährlich: Beim nächsten Mal, wenn es in einem Fall wirklich darauf ankommt, können ganz andere Richter beteiligt sein oder andere Meinungen vertreten werden. Obiter dicta haben daher keinen guten Ruf: Sie blasen die Backen auf, wo es nichts zu pfeifen gibt.
Obiter dicta sind übrigens die Kernkompetenz des sogenannten Stammtischs und auch sonst in den Lebenswelten unseres Alltagslebens tief verankert: „Wenn ich (X) wäre, würde ich (Y)!“ „Wenn’s nach mir ginge, …!“ „Wenn zu mir einer käme und würde sagen (…)“.
Trotzdem sind sie natürlich nicht verboten und können gelegentlich auch gewisse Hinweise auf Tendenzen geben. Ungewöhnlich aber ist es, obiter dicta in den Rang von „Grundsatzentscheidungen“ zu heben, die in der sogenannten „amtlichen Sammlung“ veröffentlicht werden. Dieses aber geschah hier.
„Hier brauchst Du keine Taktik, sondern Eier“
Der 2. Strafsenat, dem die Entscheidung des 1. Senats aus oben genannten Gründen zwangsläufig unbekannt blieb, verkündete sein Urteil am 10. Juni 2015: Das Verfahren sei wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen. Für sein Verfahren kam es auf die Rechtsfrage an, denn die rechtsstaatswidrige Provokation war sicher festgestellt. Am selben Tag gab der 2. Senat eine umfangreiche Presseerklärung zu der Entscheidung heraus (Presseerklärung Nr. 91/2015), die wiederum unverzüglich sämtlichen anderen Richtern des Bundesgerichtshofs per E-Mail zuging. Über die Entscheidung wurde alsbald in der Presse berichtet.
Trotz all dieser Bemühungen um Transparenz erreichte weder die Information über die bevorstehende Hauptverhandlung noch die Information über das Grundsatzurteil des 2. Strafsenats jemals den 1. Strafsenat, ohne dass dieses Rätsel je geklärt werden konnte. Jedenfalls nahmen die Dinge im Beschlussverfahren 1 StR 128/14 dort ihren Lauf: Die Beschlussgründe waren zu schreiben.
Kleine Fehler – große Folgen
Der 1. Senat dachte über die Formulierung seines Beschlusses vom 19. Mai 2015 mehr als zwei Monate nach, bearbeitete die Sache also sehr gründlich. Erst am 21. Juli 2015, also mehr als fünf Wochen nach dem Urteil des 2. Strafsenats, gelangten die Beschlussgründe des 1. Senats fertiggestellt zur Geschäftsstelle, zugleich mit der Anordnung des damaligen stellvertretenden Vorsitzenden, sie in die „amtliche Sammlung“ aufzunehmen. In den Gründen – die offiziell als „Beschluss vom 19. Mai“ laufen, obwohl sie erst am 21. Juli geschrieben wurden – fand das Urteil des 2. Senats vom 10. Juni keinerlei Erwähnung.
Das ist nun in der Tat frappierend! Denn die Beschlussgründe des 1. Strafsenats konnten bis zum 21. Juli jederzeit ergänzt oder geändert werden. Trotzdem erwähnten sie die diametral entgegenstehende, die anderen Senate bindende Entscheidung des 2. Strafsenats vom 10. Juni mit keiner Silbe.
Durch die Verkettung von kleinen Fehlern und Zufällen konnte nun der Eindruck entstehen – ja, er musste sich dem Laien geradezu aufdrängen! –, der 2. Senat sei am 10. Juni von einer zuvor ergangenen „Grundsatz“-Entscheidung des 1. Senats unzulässig (also ohne ein Anfrageverfahren durchzuführen) abgewichen. Tatsächlich war es, genau genommen, eigentlich gerade andersherum: Der Beschluss des 1. Strafsenats trat erst am 21. Juli an das helle Licht der Welt und hätte – egal, ob es darauf ankam oder nicht – das fünf Wochen zuvor ergangene, bindende Urteil des 2. Senats beachten müssen.
Da sieht man, wie durch kleine Fehler in einem komplizierten, von außen schwer durchschaubaren Ablauf völlig falsche Eindrücke entstehen können!
Und als sei dies noch nicht genug der Zufälle, kamen gleich noch weitere hinzu: Pressevertreter fragten beim Vorsitzenden des 2. Strafsenats schon lange vor dem 21. Juli an, warum sein Senat eigentlich vom Standpunkt des 1. Senats abgewichen sei. Zu diesem Zeitpunkt konnten sie diesen Standpunkt ja noch gar nicht kennen! Nun ja: Vielleicht war er ihnen im Traum erschienen.
So erstaunlich früh die Presse von der Ansicht des 1. Senats erfuhr, so spät – ein letzter Zufall – der Vorsitzende dieses Senats: Er erlangte Kenntnis erst durch die „Montagspost“ im August 2015, als alles vorbei war. Da sieht man, wie es gehen kann, aus lauter gutem Willen: Der Senat war drei Monate lang zu beschäftigt, um seinen Vorsitzenden über die Grundsatzentscheidung während seines Urlaubs zu informieren.
So kann trotz – oder sogar wegen – großer Bemühung ein Fehler entstehen. Schade nur für den früheren stellvertretenden Vorsitzenden des 1. Strafsenats, dass diese Zufälle sich in seinem letzten großen Fall vor der Pensionierung ereigneten. Immerhin hat ihn dies noch einmal – sozusagen als letzten Gruß – mit dem 2. Strafsenat zusammengeführt, dessen Mitglied er bis 2009 war.
Ausblick
Inzwischen hat die vom Bundesministerium der Justiz eingesetzte Expertenkommission ein gesetzliches Verbot tatprovozierenden Verhaltens von Polizeibehörden gefordert und vorgeschlagen. Die Polizeien mehrerer Bundesländer sollen, Pressemitteilungen zufolge, die Praxis inzwischen eingestellt oder deutlich reduziert haben. So dreht sich mitunter der Wind, bevor die kritische Presse prüfen konnte, welches überhaupt die vorherrschende Windrichtung war!
Es gibt, bei der Presse wie überall sonst, Menschen, die vom eigenen Taktieren so dermaßen begeistert sind, dass sie sich am Ende ins eigene Hinterteil verbeißen. Aber das ist eine andere Geschichte, die mit dem BGH wirklich nichts zu tun hat. Was lasen wir doch gleich heute, aus kundigem Mund, über die Flandern-Rundfahrt: „Hier brauchst Du keine Taktik, sondern Eier.“ Recht hat er, der Pedaleur du Ceur.