Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!
Ein Strafprozess ist die Rekonstruktion von Wirklichkeit. Doch wer definiert, was die wahre Wirklichkeit ist? Das ist nicht nur eine Rechtsfrage.
8. September 2015, 16:24 Uhr
Vorspann
Ort: Deutschland, Strafgericht
Film 1: Landgericht, Strafrechtliche Hauptverhandlung wegen Vergewaltigung
Film 2: Landgericht, Strafrechtliche Hauptverhandlung wegen schwerer räuberischer Erpressung
Film 3: Amtsgericht, Hauptverhandlung wegen Unerlaubten Entfernens vom Unfallort
Cast: unten Beschuldigte (hier genannt: Angeklagte), Strafverteidiger (zwingend erforderlich nur beim Landgericht). Oben Richter: Am Landgericht ein Vorsitzender, ein Beisitzer, zwei „Schöffen“; am Amtsgericht: ein Richter. Seitwärts 1: eine Staatsanwältin. Seitwärts 2: ein Nebenklägervertreter (vielleicht). Seitwärts ganz außen: eine Protokollführerin.
Ton läuft; Film ab.
Die Wahrheit
In dieser und den nächsten Wochen möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, etwas über das Beweisrecht im Strafprozess erzählen. Manche werden diese Ankündigung jetzt zum Anlass nehmen, ihre Maus per Maustaste auf ein vermeintlich prickelnderes Thema zu lenken. Sie irren. Das Beweisrecht ist die Seele des Strafrechts, die „Magna Charta des Verbrechers“, der Kristallisationspunkt unserer Erkenntnis über uns selbst, unsere Taten und die Wahrheit. Nichts in der menschlichen Zivilisation ist so spannend wie die kollektive Konstruktion der Wirklichkeit und, als ihr Wurmfortsatz, die Erhöhung eines Ausschnitts jener Konstruktion zur Legitimationsgrundlage einer Gewalt, die ihrerseits den „Sinn“ der Lebenswelten beherrscht.
„Wahrheit“ ist, in der Sprache des Alltags, ein schmutziges Ding, freilich nur, weil und soweit sie mit anderen Wahrheiten in Berührung kommt: denen anderer Menschen. Für uns selbst haben wir, jede(r) für sich, eine überaus liebevolle und enge Beziehung zur Wahrheit. Kaum einer, der sie nicht will, kaum einer, der nicht meint, sie sei auf seiner Seite. Damit meint der Alltag: Wahrheit über das Leben, über unseren Charakter, über das Fußballspiel von letzter Woche, über den Hergang einer Diskussion – also über alles und alle, bunt durcheinander, Wahrheit der Wertung und Wahrheit der Tatsachen und Wahrheit der Tatsachen über Wertungen.
Im Strafprozess verdichtet sich all dies zu einem rätselhaften Moment der Erkenntnis. Wir messen ihm ungeheuerliche Bedeutung bei: Er entscheidet über Schuld und Unschuld, Leid und Freude, Gefangenschaft und Freiheit, ja sogar über Tod oder Leben. Hier, in dieser Zuschreibung, erlangt die Wahrheit, die wir doch sonst wie Dreck behandeln – als Behauptung, Werbegag, Selbstvermarktung – jenen seltsam vibrierenden, aufwühlenden Unterton, den wir aus amerikanischen Gerichtsfilmen kennen, wenn unten um die wirkliche Wahrheit gerungen wird und oben auf dem Balkon die stummen Zeugen stehen und beten, dass die Macht und die Wahrheit sich verbinden mögen gegen die Macht der Unwahrheit (Wer die Nachtigall stört, R. Mulligan).
So viele Holzhämmer fallen herab in so vielen Tausend Filmen und in noch viel mehr Wirklichkeiten! Und jedes Mal durchfährt das Publikum ein Schauder. Dessen Ausdrucksformen sind unendlich: Sie reichen von der brutalsten Albernheit bis zur sentimentalsten Machtanbetung. Im Mittelpunkt solcher Imaginationen steht – der Richter. Als Wahrheitserkenner und -definierer.
Die Tat
Über die Tat als solche habe ich bei früherer Gelegenheit schon gesprochen: Also über den „Tatbestand“, dessen „Erfüllung“ sich aus der „Verwirklichung“ von „Merkmalen“ ergibt. Auf die Erfindung des Begriffs „Tatbestand“ hält sich die Strafrechtswissenschaft viel zugute. Ja, noch mehr: Seit 200 Jahren definiert sie sich als Gipfel der sanktionierenden Intellektualität, weil und soweit sie den „Tatbestand“ hervorgebracht hat: A schlägt B auf die Nase, die anschließend schmerzt: Der Tatbestand der Körperverletzung. Ein Tatbestand der allereinfachsten Sorte. Eine Entscheidungsaufgabe minderer Qualität, sollte man meinen. Tatsächlich ist es ein bisschen komplizierter.
„Tat“, in einem abstrakteren Sinn, ist nur der Name einer Abweichung. In der Geschichte der Menschheit konnte „Tat“ alles sein: das falsche Tier zu essen, oder am falschen Ort; einen Gott anzubeten oder eben nicht; jemanden zu töten oder jemanden leben zu lassen; eine Grenze zu überschreiten; seinem Herrn Widerworte zu geben oder dem falschen Herrn zu dienen; anders zu sein als die anderen oder genauso zu sein. Tat kann sein, das Privateigentum zu schützen, aber auch, es zu zerstören. Kurz: Was ein „Verbrechen“ ist, bestimmt nicht die ewige Weltordnung, sondern der kleine Mensch.
Der Beweis
Also müssen wir uns überlegen, wie wir die „Täter“ – die Bösewichte – von den Nichttätern unterscheiden: nicht in der Theorie, sondern praktisch.
Das ist im Grundsatz deutlich schwieriger, als man annehmen sollte und als es die sogenannte Lebenswirklichkeit suggeriert. Denn wenn wir auch „Taten“ definieren mögen, von denen wir annehmen, sie hätten eine Strafe verdient, so will doch jeder von uns immer der Strafende sein, nie der Bestrafte: Ausgegrenzt werden sollen bitte die anderen. Da diese aber – wenig überraschend – auf dieselbe Idee gekommen sind, stellt sich die alles entscheidende Frage, wie, wer, mit welcher Autorität, aufgrund welcher Rationalität darüber entscheidet, was „richtig“ ist an den unendlichen Behauptungen von Taten und Unrecht, und was falsch.
Strafprozess ist Rekonstruktion einer Wirklichkeit
Wir müssen uns zum einen überlegen, was „Wahrheit“ bedeuten soll. Das ist sozusagen der übergeordnete Ordner (auf dieser ziemlich untergeordneten Ebene). In diesem Ordner finden wir als Unterordner Begriffe wie „Eingebung“, „Erleuchtung“, „Wissenschaft“, und andere. Seit etwa 500 Jahren meinen die Menschen in Europa, dass die „Eingebung“ wenig, die „Wissenschaft“ aber alles bedeute: Erfahrung, Rationalität, Logik in einem Sinn, der zwischen Individuen mit gleicher Rationalitätsdefinition vermittelbar ist. Das ist ein psychologisches, soziales, politisches Schachbrett unendlicher Möglichkeiten.
Am Ende bleibt uns – wie so vielen Generationen vor uns – die Frage nach den Anforderungen an eine gemeinsame – das heißt gemeinsam verbindliche, also von Macht getragene – Feststellung der Wahrheit über eine Wirklichkeit, die ja stets nicht eine aktuelle ist, sondern (teilweise) weit zurück in der Vergangenheit liegt: Wie war es, als der Täter T das Opfer O traf, in jener finsteren Nacht, ganz allein am Ufer der Elbe?
Strafprozess ist also Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die notwendig und zwingend nicht aktuell, sondern Teil der Vergangenheit ist. Sagen Sie mir, liebe Leserinnen und Leser: Wer hat was getan, gesagt, unterlassen, beim letzten Treffen zwischen Ihnen und Ihrer Großmutter? Wie war es, als Sie beim vorletzten Mal Ihre angeborene Contenance verloren und ihren Lebensgefährten anschrien, Ihr Kind schlugen, Ihr Finanzamt betrogen, Ihren Chef belogen? Was ist die Wahrheit? Und wie würde wohl die Wahrheit der jeweils von Ihren Handlungen betroffenen Person aussehen?
Wir müssen Regeln vereinbaren, wie all dies festzustellen ist, sonst gibt es gar keine Wahrheit. Wenn es aber keine Wahrheit gibt, gibt es auch keine Gerechtigkeit. Zwischen gleichen Rechten, sagte Karl Marx, entscheidet die Gewalt. Das ist evident richtig. Daher gibt es den Staat, der nicht eine zufällige Zusammenklumpung von Verträgen zwischen freilebenden Tieren ist, sondern eine Verfassung von Gewalt-Legitimation über Menschen. Marx-Widerleger aller Länder – sofern Ihr eine intelligentere Vorstellung erfunden haben solltet, bitte meldet Euch!
Zwischen der Wahrheit und dem Beweis besteht eine rätselhafte, unsichere, schillernde Beziehung: Die Wahrheit ist ein Begriff, der im Nichts ruht. Er bezieht sich auf sein Gegenteil, ohne es benennen zu können. Was ist schon „Unwahrheit“, „Lüge“, „Fälschung“, ohne einen Begriff von Wahrheit? Und der Beweis ist nichts als ein dreibeiniger Hund in einer Bar am Mittelmeer: Ein bisschen guter Wille, zu viel Pastis.
Es gab und gibt viele Kulturen, welche alle Wahrheit über die Welt, also auch über das Verbrechen, aus Zeichen generiert haben, die ihrerseits nicht von dieser Welt waren: Zaubern, Eingebungen, Manifestationen des Übersinnlichen in der sinnlichen Welt. Uns erscheint das heute albern: Ins Wasser mit der Hexe! Wenn die Verdächtige wirklich eine Hexe ist, schwimmt sie – dann wird sie verbrannt. Wenn sie keine Hexe ist, ersäuft sie unschuldig und kommt ohne Umwege ins Paradies. So kann man es machen; allerdings braucht man zur Durchsetzung solcher Regeln eine wirklich mächtige, knochenbrechende Gewalt: Den Teufel und die Heilige Katholische Kirche, und Aguirre, den Zorn Gottes.
Vernunft
Wahrheit und Beweis sind, so sagen es uns die Weisen dieser Welt, unendlich entfernte Gestalten desselben Gedankens: Keine Wahrheit ohne Beweis; kein Beweis ohne Wahrheit. Und dennoch Lichtjahre voneinander entfernt.
Wenn wir annehmen wollten, dass der Mensch nicht ein Tier ist, nicht Schaf unter Schafen oder Löwe unter Löwen, sondern ein Individuum, ein Selbst, dann wäre auch seine Wahrheit eine eigene. Dann gäbe es Schuld und Unschuld, Lüge und Wahrheit. Aber wie soll man das herauskriegen? Wie soll man die Offenbarung einer Wirklichkeit erzwingen, die – schrecklich zu sagen – „persönlich“ ist? Der Gedanke daran allein setzt voraus, dass die Eine Gewalt – also „Gott“ – aus der Welt heraustritt und Platz macht für die Gewalt einer Wahrheit, die aus dem Menschen selbst kommt: Seiner Wirklichkeit, seiner Beschränktheit, seinen Interessen, seiner furchtbaren Fehlerhaftigkeit.
Das Bedürfnis nach einem „Beweis“ der Wirklichkeit also ist der Beginn des Sterbens der Götter.