Wer den Schaden hat – Über den Betrug II

Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Was ist Vermögen wirklich? Und wie berechnet sich ein Schaden? Klingt einfach, ist aber oft kompliziert. Das Strafrecht hechelt hinterher.

Eine Kolumne von Thomas Fischer

8. Dezember 2015, 15:07 Uhr

In der vergangenen Woche haben wir über die Täuschung und den Irrtum im Sinn des Betrugstatbestands (Paragraf 263 Strafgesetzbuch) berichtet. Dabei ging es um die „Täuschung“ und den dadurch erzeugten „Irrtum“. In den Kommentaren zu dieser Kolumne purzelten die verwegenen Beispielsfälle nur so durcheinander: vom lieben Gott über Liebesabenteuer auf einsamen Inseln bis zu verwickelten Nachlassstreitigkeiten. Im Eifer der Konstruktion von allerhand Täuschungsfällen vergaßen viele, dass der Betrug ein Vermögensdelikt ist: Der Täter muss zur Tatvollendung „das Vermögen eines anderen beschädigen“; das Täuschen ist bloß das Mittel hierzu. Erforderlich ist also ein sogenannter Vermögensschaden. Um den geht es heute. Mal schauen, wie weit wir kommen.

Was ist Vermögen?

Will man feststellen, ob am Vermögen ein Schaden eingetreten ist, muss man wissen, was unter „Vermögen“ zu verstehen ist. Ist doch sonnenklar, denkt so mancher, und irrt leider. Denn er meint damit sein Haus, sein Auto, seine Goldbarren im Tresor. All das ist irgendwie richtig, aber doch ergänzungsbedürftig, und manchmal sogar falsch.

Um das „Vermögen“ zu bestimmen, gibt es unterschiedliche Ansätze. Sie heißen, wie es in der Jurisprudenz üblich ist, „Theorien“; und in diesem Fall erfüllt das Wort ausnahmsweise einmal seinen Anspruch. Forscht man in den „Kommentar“-Werken (oder was sich so nennt), so findet man die „juristische“, eine „rein wirtschaftliche“, eine „ökonomisch-juristische“ und (neuerdings wieder) eine „normative“ Theorie. Die Liste kann ergänzt werden durch eine „soziale Theorie“, deren Zuordnung zu einer der genannten Schulen freilich ihrer abschließenden Habilitationsschrift noch harrt.

„Vermögen“ ist ein Synonym für „Können“, sollte man denken. Die Begriffsgeschichte der letzten 150 Jahre macht es uns allerdings etwas leichter. Schauen Sie, liebe Leser, auf Wikipedia – wie 100 Prozent der journalistischen Experten – und lernen Sie, dass es in unserem Zusammenhang nicht auf Ihr Vermögen ankommt, siebzehn Twitter-Nachrichten in einer Minute zu schreiben oder Für Elise ohne Metronom in halbwegs gleichmäßigem Tempo zu spielen. Es geht vielmehr ums Geld, oder, genauer gesagt, um den Tauschwert. Denn nur was Tauschwert hat, lässt sich „austauschen“, und nur was austauschbar ist, wird zur Ware, und nur Waren können sich gegen die abstrakteste unter ihnen austauschen lassen: gegen Geld. So viel zu Band 1, Kap. 1 eines dreibändigen Thrillers aus der Reihe „Am Fuß der blauen Bände“.

Vermögen im hier behandelten Sinn ist, nach einer vielfach verwendeten Definition, „die Gesamtheit aller Wirtschaftsgüter, die einer Person zustehen“; dabei bedeutet „Wirtschaftsgüter“: wirtschaftlich Handelbares, also Geld-wertes. Eine andere Definition lautet: „alle geldwerten Rechte, die einer Person durch die Rechtsordnung zugewiesen sind“; eine dritte: „die Gesamtheit der einer (natürlichen oder juristischen) Person zur Verfügung stehenden geldwerten Mittel“. Was soll diese Differenzierung?, werden manche fragen. Das Geheimnis liegt in feinen Unterschieden zwischen „zustehen“, „zugewiesen sind“ und „zur Verfügung stehen“, oder vielleicht nur in Nuancen ihrer lebensweltlichen Bedeutung.

Nehmen wir zum Einstieg ein kompliziertes Beispiel: Die Prostituierte A schließt mit dem Freier B eine Vereinbarung: Dies und jenes gegen 200 Euro. Variante 1: B zahlt (Vorkasse); A geht sich frischmachen und verschwindet mit dem Geld auf Nimmerwiedersehen. Variante 2: B zahlt mit Falschgeld, A leistet in der irrigen Annahme, die Scheine seien echt. Variante 3: A leistet zuerst ihre Dienste, B zahlt anschließend mit Falschgeld. Frage: Betrug oder nicht?

Einstieg: Wo ist hier das Vermögen? Unterstellt, Herr B hat 200 echte Euro einstecken: Sogenanntes „gutes Geld“; woher er es hat, interessiert hier nicht. Frau A hat nichts außer ihrer Arbeitskraft. Wäre sie eine Elektrikerin und B ein Häuslebauer, wäre die Sache halbwegs einfach: Im sogenannten kapitalistischen Wirtschaftssystem nimmt auch die Arbeitskraft von Menschen die Gestalt einer (gegen Geld tauschbaren) Ware an (das ist ja der Gag!). Arbeitsleistung ist das quantitativ zu messende Ergebnis der Betätigung von Arbeitskraft. Wenn Auftraggeber B der Elektrikerin A vortäuscht, er könne und wolle sie bezahlen, und A daraufhin 10 Stunden Arbeit vorleistet, hat sie über ein ihr zustehendes „Vermögen“ (Arbeitskraft) zugunsten des B verfügt.

Fortführung: Wenn also „Vermögen“ einfach alles ist, über das eine Person faktisch verfügen kann und was einen wirtschaftlichen Wert hat, ist die Sache relativ einfach. Es ist dann das Eigentum an Sachen oder Rechten (Ansprüche gegen Dritte), der Besitz von Sachen, die eigene Arbeitskraft. Es geht sogar noch weiter, nämlich so weit „der Markt“ (oder: ein fiktiver Markt) reicht: Dann ist alles als Vermögen definiert, für das es irgendwo auf der Welt einen „Markt“ gibt, was also grundsätzlich gegen Geld getauscht werden könnte. Das sind dann nicht bloß schon bestehende Ansprüche, sondern auch „Erwartungen“ solcher Ansprüche, soweit sie „handelbar“ sind.

Hieraus folgt: Das Geld des Hausbauers B ist „Vermögen“. Die Arbeitskraft der Elektrikerin A ist ebenfalls „Vermögen“. Wie steht es zwischen der Prostituierten und ihrem Freier? Aufseiten des B bleibt es, wenn er „gutes Geld“ hat, beim Vermögen (anders natürlich beim Falschgeld). Bei der Prostituierten könnte dagegen sprechen, dass ihre Arbeitsleistung vom Recht (!) nicht „anerkannt“ ist: „Sittenwidrige“ Verträge sind unwirksam (Paragraf 138 Bürgerliches Gesetzbuch), ebenso wie „gesetzwidrige“ (Paragraf 134 Bürgerliches Gesetzbuch).

Rechtswidrige Täuschungen

Auch hier wieder zunächst die einfache Variante: Wäre A nicht Prostituierte, sondern Auftragsmörderin von Beruf, fiele die Lösung leicht – die „Arbeitskraft“ eines Mörders kann unmöglich vom Straf-Recht (!) gegen „Betrug“ geschützt sein! Das bedeutet: Wer den Killer A mit Falschgeld bezahlt, wird vielleicht wegen Geldfälschung und Anstiftung zum Mord, aber gewiss nicht wegen Betrugs bestraft. Der Grund hierfür ist, dass der Vermögensbegriff eben nicht, wie vielfach behauptet, ein „rein wirtschaftlicher“ Begriff ist. Sondern die herrschende Meinung und die Rechtsprechung machen eine Vielzahl von „normativen“ Ausnahmen. Das sind Ausnahmen, die auf wertende Gesichtspunkte der „Gesamtrechtsordnung“ gestützt sind, nicht zuletzt auch auf Verfassungsgrundsätze. Eine „Leistung“, deren Ausführung mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist (Mord), kann nicht deshalb zum schützenswerten Gut werden, weil irgendwo auf der Welt ein „Markt“ dafür besteht.

Umgekehrt ist es schon schwieriger: Was ist, wenn der Auftragsmörder den Lohn vorab kassiert und dann (wie geplant) nichts tut? Kann dann der Auftraggeber den verhinderten Mörder wegen „Betrugs“ verfolgen, weil er die versprochene Leistung nicht geliefert hat? Auf der Grundlage der herrschenden Meinung, wonach Geld immer „gutes Geld“ ist, wäre das zu bejahen.

Der Kolumnist vertritt hier eine abweichende Ansicht: Die normativen Erwägungen, die zur Wertlosigkeit der Mörder-„Leistung“ führen, führen umgekehrt zur Wertlosigkeit des für sie eingesetzten Geldes. Der Betrugstatbestand schützt Vermögen gegen rechtswidrige Täuschungen. Vorzutäuschen, man werde gegen Entgelt einen Mord begehen, ist aber deutlich weniger rechtswidrig, als ihn wirklich begehen zu wollen. Das Anbieten von Entgelt für einen Mord ist zugleich als (versuchte) Anstiftung zu werten und mit hoher Strafe bedroht. Daher gilt hier – nach meiner Meinung – nichts anderes als oben: Wer für Mord (oder andere Straftaten) bezahlt, ist nicht gegen „Betrug“ geschützt, mag sein Geld noch so „gut“ sein.

Das gilt entsprechend auch für andere verbotene Leistungen, etwa für den Handel mit verkehrsunfähigen Waren. Der Dealer ist durch Paragraf 263 StGB nicht gegen Betrug geschützt, denn die Leistung, die er anbietet, ist ihrerseits eine strafbare Handlung (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln). Das sollte dann freilich auch für den Käufer gelten: Wer für gutes Geld Puderzucker erhält, hat Pech gehabt.

Zurück zum Ausgangsfall der Prostitution. Sie ist weder eine Straftat noch grundsätzlich verboten. Sie gilt allerdings weithin noch immer als „sittenwidrig“. Das Prostitutionsgesetz (ProstG) von 2001 hat – aus welchen Gründen, spielt hier keine Rolle – eine komplizierte Regelung getroffen: Die bloße Vereinbarung zwischen der Prostituierten und ihrem Kunden ist sittenwidrig und unwirksam (Paragraf 138 BGB); keiner von beiden kann rechtlich geschützte Ansprüche daraus ableiten. Auch die Vorabzahlung des Kunden begründet keinen Anspruch auf Leistung (sondern bestenfalls auf Rückzahlung bei Nichtleistung). Anders ist es, wenn die Prostituierte vorleistet: In diesem Moment wird der Vertrag wirksam und sie erwirbt einen rechtlich anerkannten (und gerichtlich durchsetzbaren) Anspruch auf das Entgelt.

Diese Regelung soll die Rechtsstellung der Prostituierten verbessern und ihre Ansprüche unabhängig von der bloßen Gewalt-Durchsetzung sichern. Ob das gelang, ist streitig; aber darauf kommt es hier nicht an. Es führt zu einer merkwürdig ambivalenten Bewertung der Leistung: Sie gilt einerseits als weiterhin sittenwidrig, andererseits nach Vornahme als rechtlich geschützt.

Für die Betrugsdogmatik müsste das heißen, dass zwischen den Phasen des Geschäfts zu unterscheiden ist: Nach herrschender Meinung ist vor Vollzug der Leistung nur der Kunde gegen Betrug geschützt, nach Vollzug auch die Prostituierte. Nach der abweichenden Meinung des Kolumnisten gibt es auch hier für die Differenzierung keine Berechtigung. Vielmehr meine ich, dass nach der Wertung des ProstG die Leistung von Prostituierten allgemein als rechtlich anerkannter Vermögenswert anzusehen ist. Für Schutz-Einschränkungen aufgrund von „Sittenwidrigkeit“ besteht kein legitimer Grund mehr.

Der Schaden

Dieser Blick in dogmatische Feinheiten des strafrechtlichen „Vermögens“-Begriffs war erforderlich für das Verständnis des Tatbestandmerkmals „Schaden“. Dessen allgemeine Definition ist schlicht: ein negativer Saldo des Vermögens.

Im Grundsatz ist es ganz einfach: A kauft von B ein gebrauchtes Kfz und zahlt dafür 10.000 Euro. B versichert: unfallfrei, Laufleistung 50.000 Kilometer. Tatsächlich (wie er weiß) Laufleistung 250.000, drei Vorschäden, Marktwert: 2.000 Euro. Der Schaden am Vermögen des A beträgt 8.000 Euro. Es wird also gegengerechnet: Was hat er aus seinem Vermögen verloren (10.000), was hat er in sein Vermögen erhalten (2.000)? Der „Schaden“ im Sinne der Vermögensstraftaten ist immer ein Saldo-Schaden, weil er sich auf das „Gesamtvermögen“ bezieht. Anders ist es etwa bei Diebstahl oder Raub: Da kommt es nur auf die einzelne Sache an, die weggenommen wird. Auch wenn der Dieb, der eine Armbanduhr für 10.000 Euro entwendet, dabei aus Mitleid 100 Euro auf dem Küchentisch zurücklässt, beträgt der Diebstahlsschaden 10.000 Euro. Hätte er dem Eigentümer die (angeblich „wertlose“) Uhr für 100 Euro abgeschwatzt, betrüge der Betrugsschaden nur 9.900 Euro.

Das ist der Grundsatz. Er reicht zum Glück für die meisten Fälle (deshalb heißt er so). Von da an aber wird alles ziemlich schwierig. Denn die Welt des „Vermögens“ besteht aus einem einzigen Geschiebe und Gezerre, Geschrei und Gezeter. Eine Schlangengrube – vier Meter tief und gefüllt bis zum Rand – ist ein übersichtlicher Ort im Vergleich zur „Interessenlage“, zum „Theorienstand“ und zur Meinungsvielfalt im Vermögensstrafrecht.

Dieser Befund empört nun gewiss wieder die Vertreter der Einfachheit und Übersichtlichkeit, und die Verächter der Juristen („zwei Juristen, drei Meinungen“). Also jene, die meinen, selbst ganz genau zu wissen, was richtig ist. Leider hört bloß niemand auf sie. Schon der Nachbar hinterm Gartenzaun vertritt die grad entgegengesetzte „Theorie“: Auch er natürlich nicht, weil sie ihm mehr einbringt, sondern ausschließlich aus Gründen der wissenschaftlichen Gründlichkeit!

An dieser Stelle also muss die Aktion „Ein Herz für Strafjuristen“ wieder einmal um Ihr Verständnis werben, liebe Leser, Vermögensinhaber, Betrüger und Geschädigte: Die Strafrechtsdogmatik hat die Welt des Anlagebetrugs, Schneeballsysteme und der Abzocke um jeden Preis nicht erfunden. Nein, das waren Sie, und Sie fahren jeden Tag damit fort. Das Strafrecht versucht, Ihren Absichten halbwegs zu folgen und eine Form von Systematik in das Geschehen zu bringen, die es erlaubt, das „Unmoralische“ und „Zweifelhafte“ vom „Strafbaren“ zu trennen.

Mit anderen Worten: Nicht Strafjuristen sind daran schuld, dass manche Menschen Straftaten begehen, die ähnlich kompliziert sind wie die wirtschaftlichen Strukturen, welche sie ausnutzen. Die „Vereinfacher“ fordern Einfachheit ja immer nur bei den anderen; ihre eigenen Schäfchen versorgen sie in vieldimensional komplizierten Stall-Sonderanfertigungen.

Wertungen

Fall 1: Staubsaugervertreter S verkauft der Hausfrau H an der Haustür einen Staubsauger mit Klopf-, Saug- und Blasfunktion für 600 Euro. Er sagt ihr unzutreffend, dies sei ein einmaliges Sonderangebot; normalerweise koste das Gerät das Doppelte. Abends fällt H ein, dass sie schon einen Staubsauger hat und weder etwas zum Klopfen noch zum Blasen braucht.

Fall 2: Büchervertreter B verkauft dem syrischen Flüchtling F ein 24-bändiges Konversationslexikon mit Goldprägung für 10.000 Euro mit der Behauptung, der Besitz des Werks sei Vorschrift für die Anerkennung als Asylbewerber und den Besuch der Grundschule für die Kinder des F. Familie F spricht kein Wort Deutsch.

Fall 3: Disponent D des Landwirtschaftshandels L verkauft an Bauer B eine neue Melkmaschine für 50 Milchkühe zum Marktpreis von 23.000 Euro mit der unzutreffenden Behauptung, ab nächstem Jahr würden nur noch Betriebe mit mindestens 50 Milchkühen gefördert. B hat aber nur 4 Kühe.

Drei Fälle, wie sie das Leben schreibt, Tag für Tag für Tag. Die Fantasie, die Gier, die Skrupellosigkeit, die Dummheit, die Hilflosigkeit, der Einfallsreichtum, der Zynismus, die Gnadenlosigkeit der Menschen ist unendlich und unvorstellbar. Es gibt Menschen, die ein Betrugssystem auch dann noch durchziehen, wenn das Opfer fast vollständig ruiniert ist. Die auch die allerletzte Rücklage und das allerletzte Konto einer Person, die sie liebt und ihnen vertraut, ohne Gnade leerräumen. Es gibt Anlageberater, die 70-jährige geistesschwache Personen dazu bringen, ihre gesamte Altersvorsorge aufzulösen und in Derivate mit 25-jähriger Laufzeit zu investieren. Es gibt Menschen, deren gesamte Berufsbiografie daraus besteht, ein Betrugssystem nach dem anderen zu konzipieren und umzusetzen, um benachteiligte, arme, dumme, gutgläubige, hilfsbedürftige Menschen bis auf den letzten Cent auszuplündern.

Weil das so ist – und nicht, weil Juristen so gerne „Wind“ machen – gibt es eine Vielzahl von Ausnahmen, Sonderfällen, Fallgruppen und Einschränkungen im Bereich des Vermögensstrafrechts und speziell der Schadensbestimmung. Denn wenn dies nicht so wäre, müsste man nur gegenrechnen: Flüchtling F (aus Fall 2) hat aufgrund einer Täuschung 10.000 Euro aus seinem Vermögen verloren (Anspruch des Verkäufers). Er hat allerdings auch ein Lexikon erlangt, das auf dem Markt tatsächlich 10.000 Euro wert ist. Er hat also wirtschaftlich betrachtet keinerlei Schaden erlitten – Pech gehabt. Nicht anders geht es Landwirt B: Die Maschine ist ja wirklich 23.000 Euro wert, also was soll’s?

Das ist die Stunde der Theorie vom „persönlichen Schadenseinschlag“: Wenn bei Austauschverträgen (Kauf, Miete, Dienstleistung) die Gegenleistung des Täuschenden für den Getäuschten „unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse“ und nach Maßgabe einer „normativen Gesamtbewertung“ überhaupt keinen Sinn hat, dann kommt es ausnahmsweise nicht auf den „Marktwert“ der Gegenleistung an, sondern auf den „subjektiven Wert“ (also den Wert für das konkrete Individuum), und der kann gegen null gehen. Und 10.000 Euro Leistung für eine Gegenleistung im Wert null ergibt im Saldo einen Schaden.

Der bekannteste und berüchtigtste der „normativen“ Schäden – also solcher, die sich entgegen der „wirtschaftlichen Theorie“ gerade nicht aus einer saldierenden Gegenüberstellung von Wertabfluss und Wertzufluss ergeben, sondern aus einer individuellen, Geld-unabhängigen, qualitativen Bewertung – ist der sogenannte „Gefährdungsschaden“.

Versuchen Sie, liebe Leser, ihn sich bildlich und begrifflich vorzustellen: Begrifflich ist er das Pendant zum Vermögenszuwachs durch „geldwerte Erwartungen“ (Anwartschaften, anwachsende Vorstufen eines Anspruchs, unternehmerischer „Goodwill“ und dergleichen). Bildlich kann man einen klassischen Fall des Bestell-Betrugs darstellen: A bestellt bei Versandhändler V eine Ware zum Kauf auf Rechnung. Zahlen will er von Anfang an nicht. Also: Täuschung (über Zahlungswilligkeit) ja; Irrtum (bei V) ja; Verfügung über Vermögen (Ware) ja: mit Absendung. Ein Schaden liegt schon mit Übergabe des Pakets an das Zustellunternehmen vor, denn die Ware ist weg. Aber noch hat sich dieser Schaden noch nicht ganz realisiert, denn V könnte die Auslieferung an A immer noch stoppen. Auf dem Weg von V zu A nimmt die Gefahr des Vermögensverlusts für V kontinuierlich zu; erst mit Auslieferung an A erreicht sie die volle Höhe des Warenwerts. Was „unterwegs“ vorliegt, nennt man „Gefährdungsschaden“.

Das ist natürlich ein sehr vereinfachtes Beispiel. Gefährdungsschäden gibt es in zahlloser Form. Stellen Sie sich ein klassisches „Schneeballsystem“ des Anlagebetrugs vor (bei dem überhaupt nichts angelegt, sondern die eingeworbenen Gelder von den Tätern für eigene Zwecke verbraucht werden). Hier werden immer wieder und so lange wie möglich neue Anleger angeworben, aus Einlagen der neuen werden die (angeblichen) Renditen der Altanleger anfangs noch bedient, damit das System eine Weile weiterlaufen kann. Wie hoch ist also der Risiko-Schaden der Anfangsanleger nach Leistung ihrer Einlage zu bewerten? Er ist nicht null, aber auch nicht 100 Prozent.

Wenn Vermögensberater B dem 80-jährigen Rentner R vorspiegelt, alle Sparkonten würden demnächst mit 80 Prozent besteuert, nur noch Wertpapiere mit 10-jähriger Laufzeit blieben unversteuert, und wenn R daraufhin sein gesamtes Sparvermögen von einer Million Euro in Derivate „umschichtet“ (Provision für B: 5 Prozent): Dann ist die Höhe des täuschungsbedingten Betrugsschadens vermutlich nicht eine Million, aber auch nicht null, sondern irgendetwas dazwischen. Denn irgendwas werden die Derivate ja wohl (hoffentlich) wert sein. Bloß – wie soll man das berechnen?

Die Rechtsprechung sagte früher: Das „berechnen“ wir erst gar nicht, sondern nehmen einen „normativ“ zu bestimmenden Abschlag auf den „Endschaden“ vor. Ein Strafsenat des Bundesgerichtshofs kam dann auf die etwas merkwürdige (und „begriffsjurisprudentische“), inzwischen wieder aufgegebene Idee, einen „Gefährdungsschaden“ gebe es gar nicht: Denn es „dürfe“ ihn nicht geben, weil ja Paragraf 263 Abs. 1 Strafgesetzbuch nicht von einer „Gefährdung“, sondern von einer „Beschädigung“ spricht. Das nimmt zwar keine Rücksicht auf die Wirklichkeit, ist aber begrifflich kaum zu bestreiten. Deshalb sprang (so meinten manche) dieser Theorie alsbald das Bundesverfassungsgericht bei, das auf die Einhaltung der „Tatbestandsgarantie“ (Art. 103 Abs. 2 GG) zu achten hat. Dieses entschied freilich wie immer, also irgendwie dann doch anders (und seinerseits ein bisschen verquer): Einen „Gefährdungsschaden“ gebe es zwar, dieser müsse aber, damit seine Feststellung der Verfassung genüge, gegebenenfalls mithilfe von Sachverständigen immer ganz genau bestimmt und beziffert werden.

Das war vor: etwa dreieinhalb Jahren. Seither hat sich geändert: nichts. Weder weiß irgendjemand, nach welchen Maßstäben welche Sachverständige den „Gefährdungsschaden“ berechnen sollten, noch gibt es die erforderlichen Sachverständigen, noch werden solche in nennenswerter Zahl von Gerichten herangezogen, noch hat es irgendwelche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den Anforderungen an die Gutachten gegeben. Es dürften, über den Daumen, mindestens 100.000 Strafverfahren entschieden worden sein, ohne die „verfassungsrechtlich zwingenden“ Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu beachten. Eine Verfassungskrise wurde gleichwohl nicht konstatiert. Das spricht für die Theorie der „heißen Luft“, nicht aber gegen die Notwendigkeit einer Diskussion.

Denn es gibt, wenn man der h. M. folgen will, zahllose ungelöste Probleme im Bereich des Schadens. Eine Armada hochqualifizierter Strafverteidiger, noch höher qualifizierter Professoren und schließlich höchstqualifizierter als Professoren tätiger Strafverteidiger erscheint auf der Drehbühne des Schicksals, sobald das Wort „Schaden“ in Verbindung mit einer gewissen Mindestsumme gemurmelt wird. Sie machen sich Sorgen um die Verfassung, da der Begriff des Schadens so kompliziert ist. Eigentlich, so meinen manche, dürfe man in Deutschland überhaupt niemanden mehr wegen Betrugs oder Untreue verurteilen. Wissenschaft eilt herbei und springt zur Seite: Eine Kultur der kommunikativen Aushandlung und der marktorientierten Binnen-Sanktionierung müsse endlich das grobschlächtige alte Strafrecht ersetzen (sagt die „Frankfurter Schule“) …

Die Staatsanwaltschaften machen sich um die Verfassung weniger Sorgen, da es schon jemanden geben wird, der dafür zuständig ist. Freilich darf man sich die Kavallerie der Justiz im „Kampf“ gegen die Wirtschaftskriminalität nun auch nicht vorstellen wie Randolf Scott oder John Wayne an der Spitze ihrer schräggeknöpften Truppen im Kampf gegen die Crees, Cheyennes oder Islamisten – also nicht wirklich zur Bombardierung von Hochzeitsgesellschaften entschlossen. Der staatsanwaltschaftliche Kampfhund unserer Tage weiß, wie man ein Dezernat aufgeräumt und die örtliche Presse einigermaßen bei Laune hält. Diese Andeutung schreitet das Gewässer der „Opportunität“ ab. Sie dürfen, liebe Leser, sich diese Örtlichkeit vorstellen als großen dunklen Teich, gefüllt mit Bouillabaisse, auf dessen Grund Wesen leben, von denen Sie noch nie gehört haben und auch nicht wirklich hören möchten, weil Sie schon genug schwere Träume haben.
Opportunität – was ist Verfügung?

Opportunität

Die Dinge sind, wie ausgeführt, immer schwierig; die Anzahl der Lösungsvorschläge ist groß; das Ergebnis des Einzelfalls ist bestenfalls unvorhersehbar. Bevor die Wissenschaft geklärt hat, ob die einer Finanzkrise vorausgehenden und sie ohne jeden Zweifel auslösenden allgemeinen Usancen täuschend und die Folgen ein anerkennenswerter Schaden sind, ist bedauerlicherweise schon die Verjährung eingetreten, weshalb es darauf nun auch nicht mehr ankommt – vor allem da wir hier noch über die vorletzte Finanzkrise sprechen und inzwischen auch schon die nachfolgende der Verjährungsgrenze entgegenstrebt. Die Dämmerung sinkt hernieder, und der Nebel legt sich schwer über das Bankenviertel und das Westend von Frankfurt am Main, und über die Kampfhundeplätze.

Wenn Sie, verehrte Leserin, auf die Idee kommen sollten, sich durch Vortäuschung von Zahlungsfähigkeit und –willigkeit zu Lasten des Modeversands „schön& schöner“ zu bereichern: Lassen Sie es bleiben! Sie kriegen zweimal Bewährung und beim dritten Mal auch bei einer Schadenssumme unter 1.000 Euro sechs Monate ohne. Kein Spaß.

Wenn Sie allerdings im Vorstand einer Bank oder eines anderen Dax-Unternehmens beschäftigt sind und mit Strafverteidigern zusammenarbeiten, deren Stundenhonorar 1.000 Euro beträgt und die sich deshalb oder trotzdem von Ihnen wie gehobene Lakaien behandeln lassen, steigen Ihre Chancen. „Ich scheiß dich zu mit meinem Geld“, sprach der Klebstofffabrikant Heinrich Haffenloher zu Baby Schimmerlos, und hat irgendwie recht.

Und weil an der Spitze der Gesellschaft, wo die großen Räder gedreht werden, kaum jemand so dumm ist, seine Gehaltsabrechnung zu fälschen, damit er einen Kleinkredit für den neuen Fernseher bekommt, sondern sehr viele kleine, kleinste und unsichtbare Rädchen ineinandergreifen müssen, damit 100 Millionen Euro einfach spur- und rückstandslos verschwinden und sich viel später am Genfer See wieder in echte Materie zurückverwandeln, kommt, falls es fünf Jahre später denn überhaupt auffällt, der örtlich zuständige Dezernent der Staatsanwaltschaft, der 100 Eingänge im Monat hat, ein wenig ins Schwitzen, wenn er klären soll, wer was wann sagte, glaubte, irrte und verfügte. Vor allem, wenn bedauerlicherweise alle Aufzeichnungen irrtümlich gelöscht wurden.

Für diese wie für andere Fälle hält die Strafprozessordnung Vorschriften bereit, die zur gewünschten „Vereinfachung“ und allgegenwärtigen „Beschleunigung“ segensreich beitragen können: Einstellungen des Verfahrens wegen geringer Schuld, gegen Auflagen; Einstellungen aus verfahrensökonomischen Gründen, weil die zu erwartende Strafe neben anderen „nicht ins Gewicht fiele“ (da kann man auch schon mal 39 von 40 Taten einstellen); schließlich das schöne Feld der Absprachen. Bestellbetrüger und Zechpreller haben nichts, mit dem sie eine Absprache erzwingen könnten. Vorstände schon: unendliche Komplikationsmöglichkeiten. Die Staatsanwaltschaften schlagen gelegentlich zurück, indem sie schon das Ermittlungsverfahren so gestalten, dass es einer existenzvernichtenden Strafe nahekommt.

Was ist Verfügung?

Wie kommen die Täuschung, der Irrtum und der Vermögensschaden zusammen? Das ist ein eher einfaches Kapitel: Durch „Verfügung“, sagt h. M., was stimmt. Das knüpft an die übliche Kausalitätsvorstellung an und meint: Zwischen Irrtum und Schaden kann ein kausaler Zusammenhang nur dann bestehen, wenn derjenige, der irrt, den Schaden auch herbeiführt.

A klingelt an der Tür des B. B fragt: Wer da? A sagt: Dein guter Freund C. B öffnet die Tür. A schlägt B nieder und nimmt seine Geldbörse. Ist das Betrug? Nein, sagt das StGB, das ist ein Raub: „Wegnahme einer fremden beweglichen Sache …“ „Weg-Nahme“ ist also das Gegenteil von „Verfügung“, denn Letztere bedeutet „Weg-Geben“.
Jetzt werden Sie gewiss alsbald fragen: Wieso ist im Beispielsfall nicht das (täuschungs- und irrtumsbedingte) Öffnen der Tür als „Verfügung“ anzusehen? Antwort: Weil es den Tatbestand des Raubs (der „Wegnahme“) gibt. Weil das Öffnen einer Tür in der Regel (das heißt: nach seinem sozialen Sinngehalt) noch nicht den Zugriff auf das Vermögen des Öffnenden bedeutet. Weil wir es halt systematisch so unterscheiden wollen. Man könnte das zwar auch anders sehen. Das hätte aber keine erkennbaren Vorteile im Hinblick auf Gerechtigkeit, Billigkeit, Wertungsvergleiche. Daher hat sich der Gesetzgeber seit langer Zeit entschieden, zwischen „Wegnahme“ und „Weggabe“ zu unterscheiden.

Betrug geht also, zusammengefasst, so: Täuschung – Irrtum – Vermögensverfügung – Vermögensschaden. Jede Stufe muss kausal für die nächste, alle Stufen müssen vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Ein Vermögensvorteil auf der Täterseite ist nicht erforderlich; insoweit reicht die Absicht dazu. Im Grundsatz also durchaus übersichtlich.

2016-11-10T09:19:00+01:00Dienstag, 8. Dezember 2015|Kategorien: Vermögensdelikte|

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