Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!
Das Recht lebt von klaren Grenzen zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten. Wer nichts Strafbares tut, den darf die Justiz nicht verfolgen. Im Fall Edathy wurde diese Regel missachtet –Einspruch eines Bundesrichters
Von Thomas Fischer
27. Februar 2014, 7:00 Uhr / Editiert am 6. März 2014, 10:15 Uhr DIE ZEIT Nr. 10/2014
Kriminalistische Erfahrungen
Ganz leise verbreitet sich zurzeit eine Erkenntnis über das Strafgesetz und die Strafverfolgung, die verwirrender kaum sein könnte. Das Strafrecht, so die Erkenntnis, ist zur sogenannten Bekämpfung von sogenannter Kinderpornografie ebenso nutzlos wie legitimationslos. Der Gedanke klingt überraschend und ist vertrackt.
Erstens: Das Besitzen nicht verbotener Nacktfotos minderjähriger Personen begründet regelmäßig einen für eine Hausdurchsuchung hinreichenden Verdacht auf den Besitz auch strafbarer Bilder. Was immer an sozialer Vernichtung folgen mag, hat der Beschuldigte sich selbst zuzuschreiben.
Zweitens: Staatsanwälte und polizeiliche Ermittler berichten, noch nie (!) habe ein Bezieher von nicht strafbarem Foto-Material sich auf solches beschränkt. Und sie zeigen uns ein weiteres Mal, dass der kleine Mann und seine kleine Frau sich gar keine Vorstellung machen können von der Tiefe des Abgrunds unter ihren Füßen. Ob das stimmt? Die tägliche Zeitungslektüre zeigt uns, dass die Welt des kleinen Mannes bevölkert ist von seinen eigenen Untaten.
Die genannten Aussagen jedenfalls, die von der Staatsanwaltschaft Hannover in viele Mikrofone gesprochen wurden, sollten die hohe Bedeutsamkeit und die Fehlerlosigkeit der wichtigen Tätigkeit jener Behörde vermitteln. Dieses kann freilich vom Bürger sowieso nicht und muss vom Fachmann nicht öffentlich beurteilt werden. Denn es ist – jedenfalls im Ergebnis – erschütternd belanglos.
Drittens: Das Strafrecht lebt – wie jede andere formelle oder informelle Sanktionierung abweichenden Verhaltens – davon, dass es klare gesetzliche Grenzen zieht zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten. Diese Grenzen sind nicht zu dem Zweck erfunden worden, Staatsanwälten Anhaltspunkte für den Start von Vorermittlungen oder für die Anberaumung von Pressekonferenzen zu geben, sondern allein um der Bürger willen. Die wollen nämlich, seit sie sich als Bürger und nicht als Untertanen verstehen, eine Staatsgewalt, die die Guten und die Bösen voneinander scheidet, ohne zu diesem Zweck zunächst alle des Bösen zu verdächtigen und auch so zu behandeln.
Wenn nun aber die, die das Erlaubte tun, „nach kriminalistischer Erfahrung“ stets auch das Unerlaubte tun und deshalb, gerade weil sie Erlaubtes tun, vorsorglich schon einmal mit Ermittlungsverfahren überzogen werden müssen, hat die Grenzziehung jeden praktischen Sinn verloren. Strafrechtspraktisch befinden wir uns dann wieder im Zustand von Tombstone zu Zeiten von Wyatt Earp und Konsorten, als die Frage, wer Staatsgewalt sei und wer Räuber, noch offen war: Der vernichtenden Gewalt des Redlichen kann nur entkommen, wer sie freudig begrüßt und aktiv unterstützt. Gerechtfertigt wird dies mit der goldenen Regel aller Stammtische: Wer nichts zu verbergen hat, muss auch nichts befürchten. Ganz ähnlich sieht man das in Nordkorea.
Viertens: Verheerender als die praktische Sinnlosigkeit einer solchen Strafverfolgung ist der Verlust ihrer Legitimität. Es ist, so lautet die Botschaft, weder möglich noch nützlich, noch ausreichend, sein Verhalten an den gesetzlich bestimmten Grenzen zu orientieren. Denn die immer höhere, immer weiter vorverlagerte Bestrafung von Menschen mit sexuell devianten Neigungen führt – gegen alle Ankündigungen der Rechtspolitiker – in Wahrheit nicht dazu, dass jene sich für das Recht (also das Erlaubte) und gegen das Unrecht entscheiden können oder auch nur wollen. Und wenn sie es täten, hülfe es ihnen nichts: Die Bemühung, nur und gerade das zu tun, was noch erlaubt ist, begründet erst recht den Verdacht, dass die wahren Verbrechen jetzt bloß verschleiert werden sollen.
Wenn aber dies das Konzept wäre, nach welchem strafrechtlicher Rechtsgüterschutz zu organisieren ist: dann lebe wohl, Rechtsstaat! Ade, Bürgergesellschaft! Aus den Kulissen träten alsbald, mit gleichem Recht, die Bekämpfer der Korruption, der Gewaltverherrlichung, des Völkermords. Denn kriminalistische Erfahrung zeigt ja auch: Wer als Maschinenfabrikant legale Geschäfte in Tansania oder Venezuela macht, macht allemal auch illegale!
Wer straflose FSK-18-Spielfilme bestellt, in denen Menschen zerhäckselt werden, hat gewiss auch strafbare Gewaltverherrlichung auf der Festplatte.
Wer Menschenrechtsverbrechen in Abu Ghraib als „Notwehr“ verharmlost, schreckt sicher nicht davor zurück, Taten in Vernichtungslagern Nordkoreas oder des Sudans zu unterstützen, die dann auch nach deutschem Strafrecht verfolgt werden müssen.
Mag auch nichts mehr sicher scheinen in Deutschland (diesem Fettauge auf der See der Auszehrung), mag auch niemand mehr wirklich wissen, was Wahrheit und was Lüge ist und wer die Wahrheit überwacht, mag der erwiesene Geheimnisverrat den Minister zum Ehrenmann machen und mag es der schlimmste von allen politischen Skandalen sein, dass er herauskommt – immerhin eines bleibt uns doch gemeinsam: unsere unschuldige Liebe zu den sexuell ausgebeuteten Kindern.
Der Schutz der Kinder, namentlich der unterprivilegierten, der armen, der in Containern hausenden, der bettelnden, stehlenden, der frühreifen, armen Kleinen in Rumänien und Afghanistan, Kolumbien und Tansania, liegt uns am Herzen wie sonst nichts auf der Welt. Mögen sie ihr Dasein fristen auf den Müllhalden unseres Reichtums, so wollen wir doch zumindest ihre Seelen retten und ihre Menschenwürde!
Jugendliche, kindliche Körper, halb bekleidet oder nackt, in sexualisierten Posen! Ekelhaft!
Zur Beruhigung greifen wir zur Vogue, zur Elle und zu Harper’s Bazaar. Da leben unsere magersüchtigen kleinen Prinzessinnen; im Junkielook gestylte minderjährige Luder, rund um die Welt gecastet und mit zwanzig vergessen.
An der Spitze der Strafverfolgung steht die Staatsanwaltschaft. Wer auf der Pressekonferenz den Stand der Ermittlungen bekannt gibt, ist meist der Leiter der Behörde. Auch dieser ist nicht Rechtspolitiker, sondern ein Beamter, der im Karriereweg auf einer Stufe angekommen ist, deren Besoldung sich, je nach Zahl der Untergebenen, zwischen der eines Oberstudiendirektors und der eines durchschnittlichen niedergelassenen Internisten bewegt. Der Sachbearbeiter selbst wird besoldet wie ein Richter am Amtsgericht. Jugendstilvillen und Luxuslimousinen haben Staatsanwälte nur im Fernsehen.
Die Herrin des Verfahrens
Die Staatsanwaltschaft ist die Herrin des Verfahrens. Im Tatort, aus dem der Bürger seine Kenntnisse über den Rechtsstaat gewinnt, ist der zuständige Staatsanwalt eine Art Dienstvorgesetzter der Mordkommission und ermittelt nach Dienstschluss auch gern selbst ein bisschen, vor allem, weil er ja nur diesen einen Fall zu bearbeiten hat. Das ist – natürlich – grober Unfug. Der in der Wirklichkeit ermittelnde Staatsanwalt kann froh sein, wenn die Polizei ihn halbwegs ernst nimmt und nicht nur für einen Täterversteher und Bedenkenträger hält – zwei in den Augen vieler Polizisten schwere charakterliche Fehlentwicklungen bei Justizjuristen.
Die Staatsanwaltschaft ist die objektivste Behörde der Welt. Jedenfalls in Deutschland. Denn sie ist nur Recht und Gesetz verpflichtet. Sie hat gegen und für Beschuldigte zu ermitteln. Sie ist nicht Partei und nicht eifernde Verfolgerin. Sie wird nicht gewählt und muss sich vor niemandem rechtfertigen als vor den ihrerseits unabhängigen Gerichten. Das alles stimmt – wenn man es als Auftrag, als ein Sollen versteht. Ob es in der Praxis verwirklicht wird, hängt von vielerlei Umständen ab. Diese sind nicht so unergründlich, wie oft behauptet wird.
Staatsanwaltschaften sind – selbstverständlich – letztlich auch politisch abhängig. Das Weisungsrecht der Landesministerien, das in der Praxis so gut wie nie ausgeübt wird, ist dafür eher symbolisch. Geführt wird, effektiv und verantwortungsschonend für die jeweils obere Ebene, durch das Berichtswesen. Es gibt Verhaltenserwartungen, die ausgesprochen oder unausgesprochen sein mögen. Berichte durchlaufen eine bürokratische Hierarchie, die ihrerseits, je weiter sie sich nach oben zuspitzt, den „Geschmack“ der jeweiligen Hausspitze zu treffen versucht. Diese aber ist regelmäßig (partei)politisch. Ob Staatsanwaltschaften anders und besser entschieden und agierten, wären sie nicht weisungsgebunden – man weiß es nicht.
Ein Staatsanwalt in einem Allgemeindezernat hat mal 60, mal 90 Verfahren pro Woche zu erledigen. Hat er beim Dezernatswechsel Pech, stößt er dort auf 300 unerledigte Altverfahren aus dem Mutterschutz der Vorgängerin. Bewältigbar ist die Arbeit nur, wenn zwei Drittel der Verfahren zügig eingestellt werden. Zeit für sorgfältige dogmatische Arbeit, wie sie an der Universität gelehrt wurde, bleibt nicht. Was aber bleibt, ist die Devise: keinen Fehler machen! Nach zwei Jahren wechselt der Staatsanwalt das Dezernat; der nächste Anfänger kommt.
In Abläufe bei der Polizei haben Staatsanwälte nur eingeschränkt Einblick. 32-jährige Berufsanfänger bei der Staatsanwaltschaft stehen vielköpfigen Kommissariaten und deren „Erfahrung“ gegenüber. Die können Anzahl, Zeitpunkt, Größe von Ermittlungsverfahren fast beliebig steuern, wenn sie wollen. Die Pflicht zur „Verfahrensherrschaft“ kann da rasch zum Albtraum werden. Das führt gelegentlich zu einer Anpassung der Staatsanwaltschaft an die Polizei. Diese bestimmt heute zu mehr als 90 Prozent nicht nur die Tätigkeit, sondern auch die Ergebnisse staatsanwaltschaftlicher Arbeit.
Die Polizei hat aber – mit guten Gründen – andere Sichtweisen, Verständnisweisen, Aufgaben. Der Rechtsstaat lebt gerade von der Unterscheidung von Polizei und Justiz. Die Bürger in Deutschland wissen dies nicht mehr – wenn sie es denn nach 1945 je verstanden hatten. Und wer es bestreitet, darf sich heute an der Spitze einer herrschenden Meinung fühlen. Strafrechtspolitik, Strafverfolgung, Rechtsgüterschutz: Im Zentrum aller Forderungen steht stets und dringlich die „Sicherheit“. Ein Innenminister, der sie als Grundrecht bezeichnet, gar als ein den anderen Grundrechten übergeordnetes „Supergrundrecht“, sagt das, was das Volk will und die Polizei wünscht.
Fehlerquellen und Fehlbeurteilungen
Im Allgemeinen Preußischen Landrecht aus dem Jahr 1794 hieß es: „Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey.“ Dies war die Sichtweise des aufgeklärten Absolutismus: Dieses Amt der Polizei aber ist unbeschränkt, maßlos, im Kern totalitär. Es sollte daher, so meinte man seit 1848 und dann gewiss im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 sowie in den Reichsjustizgesetzen 1877, beschränkt werden durch das Recht der Bürger, in Ruhe gelassen zu werden, wo und solange sie die Gesetze befolgen, die doch auf ihren eigenen Entscheidungen beruhen.
Heute sind wir, während im Kino Gravity läuft, auf Erden fast wieder angekommen im Zeitalter der Restauration.
Weil sie so sind, wie sie sind, machen Staatsanwaltschaften Fehler. Die weitaus meisten Fehler haben nichts mit Prominenten oder spektakulären Verfahren zu tun. Sie entstehen aus Gedankenlosigkeit, Verzögerungen, Desinteresse, Überlastung, bürokratischen Strukturen, Missverständnissen. Sie könnten verringert werden durch angemessene Ausstattung und Technik, durch längerfristige Personalplanung. Das dauert lange und kostet Geld. Die politischen Parteien, die den Staat inzwischen nur mehr als Teil ihres eigenen Selbst ansehen, interessiert es daher nicht.
Hinzukommen muss – unbedingt – ein neues und endlich wieder grundsätzliches Nachdenken über die Rolle und die Funktion dieser Behörde in unserem Rechtsstaat: als Vertreterin eines Staats, der im Strafverfahren nicht parteiisch ist, sondern neutral. Der Verdächtigungen nicht behandelt wie Verurteilungen und der die mögliche Strafe nicht schon im Ermittlungsverfahren vorwegnimmt. Der beschuldigten Bürgern dasselbe Maß von Rechten gewährt wie denen, die Opfer von Straftaten geworden sind.
Der Rest ist: weißes Rauschen. Es findet in den Massenmedien statt. Der Anspruch, alles immer schneller zu wissen, zu beurteilen und schon morgen für überholt zu halten, ist verächtlich: Er missachtet die Sache selbst, um deren Erkenntnis es angeblich doch geht. Eine Schnecke ist eine Schnecke ist eine Schnecke. Wer aus ihrer Fortbewegung eine Sensation machen will, macht sich lächerlich. Mediale Schneckenbeschleuniger gibt es wie Sand am Meer. Auch Leitende Oberstaatsanwälte stehen gelegentlich in dieser Gefahr, wenn sie aufgeregt sind oder sich fürchten. Das ist aber weder verboten, noch entwertet es die Arbeit an sich; es ist weit weniger skandalös als die angeblich aufklärerische „Investigation“, die täglich neue Versager und Bösewichter über die Bühne hetzt.
Man wagt es kaum zu sagen: Vielleicht sollte sich der Rechtsstaat – jedenfalls vorläufig, bis zum Beweis des Gegenteils – bei dem Beschuldigten Sebastian Edathy einfach entschuldigen. Er hat, nach allem, was wir wissen, nichts Verbotenes getan. Vielleicht sollten diejenigen, die ihn gar nicht schnell genug in die Hölle schicken wollen, vorerst einmal die eigenen Wichsvorlagen zur Begutachtung an die Presse übersenden. Vielleicht sollten Staatsanwaltschaften weniger aufgeregt sein und sich ihrer Pflichten entsinnen. Vielleicht sollten Parteipolitiker ihren durch nichts gerechtfertigten herrschaftlichen Zugriff auf den Staat mindern. Vielleicht sollten aufgeklärte Bürger ernsthaft darüber nachdenken, wo sie die Grenze ziehen möchten zwischen Gut und Böse, zwischen dem Innen und Außen von Gedanken und Fantasien, zwischen legalem und illegalem Verhalten. Zwischen dem nackten Menschen und einer „Polizey“, die alles von ihm weiß.