Im Rausch

Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit und Jugend oder aktuellen Beispielen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Warum dürfen wir nicht betrunken Auto fahren? Sie glauben es zu wissen? Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.

1. März 2016, 15:44 Uhr

Vorwort: Rückblick und Echo

Bitte erlauben Sie mir, liebe Leser der heutigen Kolumne, einen kleinen Rückblick auf die vorausgegangenen vier voranzustellen. Der Grund dafür ist einfach. Wenn man schreibt: „Nieder mit der Ärztekorruption!“, kriegt man einige böse, aber auch zahlreiche zustimmende Kommentare und E-Mails von Ärzten. Wenn man schreibt: „Der Gesetzgeber (hat) versagt“, kriegt man massenhaft Zuschriften, die mal das eine, mal das andere meinen. Auch von Abgeordneten. Alles ganz normal. Anderes widerfährt einem, wenn man schreibt, dass die Presse vielfach unzutreffend, verzerrt oder tendenziös über das Strafrecht berichte. Man bekommt auch dann Lob: verdient oder unverdient, von den Richtigen oder den Falschen. Aber praktisch keines von Vertretern der Presse.

Im Gegenteil. „Die Presse“, meint die Presse, sei sowieso eine vollkommen unzureichende Pauschalbezeichnung. Von 30 Journalisten, mit denen der Kolumnist gesprochen hat, meinten 29, sie selbst, ihr Medium, ihre Redaktion und ihre Arbeit könnten unmöglich mit den (angeblich feindseligen, „pauschalisierenden“ oder verzerrenden) Urteilen des Kolumnisten gemeint oder getroffen sein. Diesem mangele es eklatant an Differenzierung, Genauigkeit und Unterscheidung von „Qualität“ und „Nicht-Qualität“. Ein besonders schmerzlicher Vorwurf: Der Kolumnist „betreibe das Geschäft von Pegida“. Manche meinten, im Vertrauen, man dürfe die von mir kritisierten Beispiele sowieso nicht dem „Qualitätsjournalismus“ zurechnen.

All das ist – mit Verlaub – erstaunlich, bedenkenswert, bedrückend, interessant. Woher kommen solche Wahrnehmung und solches Echo von „Betroffenen“? Möglichkeit eins: Der Kolumnist hat alles falsch gemacht. Unwahrscheinlich. Möglichkeit zwei: Die Profis des Kommunikationsgewerbes, die Kritik von außen ansonsten nur aus „Leserbriefen“ kennen, reagieren auf Kritik so souverän wie der Vorstand eines Karnickelvereins auf den überraschenden Antrag zu seiner Abwahl. Da ist wahrscheinlich was dran, aber in dieser Breite ist es auch unwahrscheinlich. Möglichkeit drei: Irgendetwas funktioniert kommunikativ nicht richtig.

Ich entscheide mich für die Variante drei. Und sage: Verehrte Qualitätsjournalisten! Lassen Sie mich eingangs sagen, dass ich diesen Begriff, den Sie für sich ausgewählt haben, um sich von irgendeinem verachteten Untergrund zu differenzieren (wenn er nicht dabei ist), ausgesprochen albern finde. Es ist daher wahrscheinlich, dass er mir etwas ironisch herausrutscht. Kein Richter, Rechtsanwalt, Schriftsteller oder Musiker würde auf die Idee kommen, sich öffentlich als „Qualitätsjurist, -musiker usw.“ zu bezeichnen, um sich damit von einer imaginären Bande von Nichtskönnern abzuheben, die immer aus denen besteht, die gerade nicht mit am Tisch sitzen. Schon das (ganz ernsthafte!) Hervorheben des Begriffs des „Qualitätsjournalismus“ und der Vorwurf an den Kolumnisten, er verwende dieses Wort „ironisch“ (wohl wahr!), offenbart das Jammertal eines Berufsstands, der sich als solcher ständig in einer Selbstbehauptungs- und Verteidigungsposition wähnt.

Dabei wäre das gar nicht erforderlich. Ich selbst – wie auch die große Mehrzahl der Leser, Hörer und Zuschauer – erkennen und entdecken hohe Qualität im Journalismus überall, und benötigen dafür kein handgemaltes Etikett. Ich bewundere, fordere, genieße und lobe die Qualität journalistischer Arbeit, wo immer ich kann. Sie findet im Fernsehen statt, im Hörfunk und in Zeitungen, im Internet und sonst wo. Muss man, Qualitätsjournalisten, dies hier wirklich schreiben, damit nicht am Ende das Volk da draußen denkt, der Kolumnist halte alle Presse für Teufelszeug?

Qualität findet überall statt. In der Justiz zum Beispiel findet jeden Tag eine erstaunliche, beeindruckende und erfreuliche Menge von Qualitätsarbeit statt. Auch bei Augenärzten, Versicherungen, Straßenbauämtern, Änderungsschneidereien und Kraftfahrzeugzulassungsstellen, von den Werkstätten, Installateuren und Hühnchenschlachtern ganz zu schweigen. Hat dies eigentlich jemals – und wann war das? – die Presse dazu veranlasst, in ihre sämtlichen wöchentlichen Mängel- und Skandalberichte über „die Justiz“, „die Krebsmafia“, „die Pharmaindustrie“, „die Banker“, „die Schweinemastkartelle“ und all die anderen zahllosen Krebsgeschwüre unserer Zivilisation stets pflichtgemäß hineinzuschreiben, es gebe auch 22 tadellose Versicherungsvertreter, vier supergute Bankberater und neben jeder faulen auch eine fleißige Familienrichterin? Mir ist solches nicht aufgefallen. Ich werde demnächst verstärkt darauf achten, ob in jedem kritischen Presseartikel über die Justiz auch immer steht, dass die jeweilige Kritik natürlich nur einen verschwindend geringen Teil der Justiz betreffe, während diese den überwältigenden Teil ihrer Aufgaben überzeugend und vorbildlich erledige. O je! Schon wieder Ironie! Hoffentlich merkt es keiner!


Nun die Kolumne: Was ist eine Gefahr?

Gefahrenkonstruktionen

Jetzt aber Themenwechsel. „Gefahrenkonstruktionen“ scheinen mir ein Thema zu sein, das einen vertieften Blick verdient hat. Auch hier geht es natürlich ums Strafrecht. Das Strafgesetzbuch widmet sich den „Gefahren“ in außerordentlich großem Umfang. Damit ist nicht bloß die Tatsache gemeint, dass die Strafbarkeit der Körperverletzung den Bürger vor der „Gefahr“ einer wirklichen Körperverletzung schützen soll. In jedem „Erfolgsdelikt“ wie der Körperverletzung liegt logisch ein quasi vorausgehendes Gefährdungsdelikt. Das ist aber meistens nicht strafbar: Es gibt keinen Straftatbestand, der das In-der-Hand-Halten von Messern verbietet, das Aufstellen von Leitern, das Öffnen von Fenstern oder das Benutzen eines Kochfeldes. Schon wer diese Aufzählung liest, erahnt die Verletzungen menschlicher Körper, die hier entstehen können. Trotzdem wartet das Gesetz ab: Sticht er einen Menschen ab oder schneidet er nur Brot? Verbrüht er jemanden oder kocht er nur Kartoffeln? Wirft er ein Kind aus dem Fenster oder lüftet er sein Büro?

Ein Fall

Nächtliche Nacht. Wolkige Wolken. Nieselnder Nieselregen, wilderndes Wild. Der deutsche Autofahrer unterwegs von A nach B. Alles gut. Da, plötzlich, blau blinkende Blinker: Verkehrskontrolle. Alkomat, Blutprobe, eins Komma eins Promille. Vier Monate Freiheitsstrafe, Fahrerlaubnis weg, arbeitslos, Reihenhaus perdu. Pech gehabt.

Die Rechtslage

Paragraf 316 Strafgesetzbuch (StGB) lautet:

Trunkenheit im Verkehr
(1) Wer im Verkehr (§§ 315 bis 315d) ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 315a oder § 315c mit Strafe bedroht ist.
(2) Nach Absatz 1 wird auch bestraft, wer die Tat fahrlässig begeht.

Paragraf 24a Straßenverkehrsgesetz (StVG) lautet:

(1) Ordnungswidrig handelt, wer im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er 0,25 mg/l oder mehr Alkohol in der Atemluft oder 0,5 Promille oder mehr Alkohol im Blut oder eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer solchen Atem- oder Blutalkoholkonzentration führt.
(3) Ordnungswidrig handelt auch, wer die Tat fahrlässig begeht.
(4) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu dreitausend Euro geahndet werden.

Paragraf 24c StVG lautet:

(1) Ordnungswidrig handelt, wer in der Probezeit nach § 2a oder vor Vollendung des 21. Lebensjahres als Führer eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr alkoholische Getränke zu sich nimmt oder die Fahrt antritt, obwohl er unter der Wirkung eines solchen Getränks steht.
(2) Ordnungswidrig handelt auch, wer die Tat fahrlässig begeht.

Alles schön und gut und wie gewohnt:

Eine Ordnungswidrigkeit ist ein sogenanntes „Verwaltungsunrecht“, ein bloßer „Ungehorsam“ mit minderer Schuldqualität. Ordnungswidrig ist es, die Buchenhecke im Sommer zu schneiden, nachts die Hupe zu betätigen oder den Hundekot im Park nicht aufzusammeln. Die Sanktion ist „Geldbuße“. Die zahlt der Falschparker routinemäßig und fühlt sich dabei keineswegs als Krimineller. Anders die „Strafe“: Sie ist die Sanktion für „kriminelles“, schweres Unrecht. Wer zum dritten Mal wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (Paragraf 316 Abs. 2 StGB) verurteilt wird, erfährt, was das heißt: in der Regel Freiheitsstrafe ohne Bewährung.

Natürlich gibt es, wie üblich, Merkwürdigkeiten, die mit dieser Einteilung in Straftat = schweres Unrecht = schwere Sanktion einerseits, OWi = leichtes Unrecht = leichte Sanktion andererseits überhaupt nicht zusammenpassen. Geldbußen-Drohungen für „Ordnungswidrigkeiten“ reichen inzwischen bis in unermessliche Höhen; die Geldbuße, die ein Unternehmen treffen kann, dessen Mitarbeiter eine fahrlässige Straftat begangen hat, kann die wirtschaftliche Existenz vernichten.

Wo genau verläuft die Grenze zwischen „Verwaltungsunrecht“ und „Straftat“? Früher einmal, bei Einführung der „Ordnungswidrigkeiten“, gab es dazu bedeutende theoretische Streitigkeiten und so etwas wie ein gesetzgeberisches Konzept. Heute ist alles mehr oder weniger Zufall, „Beurteilungsspielraum“, „Einschätzungsprärogative“ – meint: Mal so, mal so, wie es kommt oder gesetzestechnisch passt.

Dahinter aber immer der drohende Schatten des Verfassungsrechts: Gleichbehandlung! Verhältnismäßigkeit! Rechtsstaatsprinzip! Würde der Gesetzgeber den Mord zur Ordnungswidrigkeit (Geldbuße 1000 Euro) machen und das Unterlassen der Mülltrennung zum Verbrechen erklären und mit lebenslanger Freiheitsstrafe ahnden, würde das Bundesverfassungsgericht diese Bewertung gewiss als fehlerhaft ansehen und aufheben. Zwischen diesem klaren Fall und dem Nirwana des Zufalls liegt der Kosmos der „Beurteilungsfreiheit“, also: Nichts Genaues weiß man nicht. Einen halben Liter Öl in den Rhein zu leiten, ist eine Straftat; einen 40-Tonnen-Lkw mit 30 Prozent Überladung und abgefahrenen Reifen mit 120 statt den erlaubten 80 Stundenkilometern und 0,5 Promille Blutalkohol über die Bundesautobahn zu dreschen, ist eine Ordnungswidrigkeit. Der Gesetzgeber wird sich schon was dabei gedacht haben; man muss nicht alles hinterfragen.

Trunkenheit im Verkehr

Gefährdung

Das Leben ist gefährlich. Diese Binsenweisheit unterschreibt jeder. Andererseits weiß ein jeder auch: Das Leben ist Zufall, Schicksal, unvorhersehbar, bunt. Was haben beide Erkenntnisse mit dem Strafrecht zu tun? Um das zu beantworten, muss man sich auf die extrem hohe Abstraktionsebene des „Rechtsguts“ begeben, wahlweise auf die extrem niedrige Abstraktionsstufe des „Interesses“. Keine Angst: Beides führt zum selben Ergebnis, auch wenn die Rechtsgutslehre die Sache noch nicht endgültig aushabilitiert hat: Noli me tangere!, spricht das Rechtsgut, und Verpiss Dich!, schreit das dumpf-menschliche Interesse.

Viele unserer Rechtsgüter sind wertvoll – manche mehr, manche weniger. Nehmen wir nur, als populäres Beispiel, die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern. Sie ist dem Deutschen des Jahres 2016 das höchste aller Rechtsgüter. Das Zeichnen eines Strichmännchens, das an, vor oder mit einem anderen Strichmännchen eine sexuelle Handlung ausführt, nicht ausführt, aufzeichnet oder aufzuzeichnen unternimmt, verabredet oder zu verabreden unternimmt, ankündigt, anbietet oder schildert, ist auf jeden Fall strafbar. Und zwar egal, wie weit ein Kind und seine Selbstbestimmung von einer posttraumatischen Belastungsstörung entfernt sind. Das klingt jetzt ein bisschen ironisch und ist auch so gemeint. Pläne von Atombomben dürfen Sie nämlich straflos abmalen, so oft Sie wollen. Auch die planerische Skizzierung eines Völkermords ist durchaus erlaubt, solange Sie nicht dazu aufrufen, Ihren hobbymäßig erstellten Generalstabsplan umzusetzen. Aber der Besitz der bildlichen Darstellung eines kindlichen Geschlechtsteils bringt Ihnen ein Jahr Freiheitsstrafe ein. Darauf müssen wir gelegentlich zurückkommen. Da diejenigen, die derartige Bewertungen des Unrechts und Beurteilungen realer Gefahren vornehmen, in erheblichen Kohorten mitten unter uns leben, beschleicht einen gelegentlich das unheimliche Gefühl, in einem geheimen Kosmos von wahnsinnigen Kinder-Geschlechtsteil-Guckern zu leben, ohne es bisher bemerkt zu haben. Muss man alles für möglich halten, nur weil man „Matrix“ gesehen hat?

Gefahr und Strafe

Der Gesetzgeber geht von einem ehernen Gesetz aus, das vom Berge Sinai herabgeworfen wurde und lautet: Du sollst die schwere Schuld schwer und die leichte leicht bestrafen. Daraus folgert er: Du sollst die große Gefahr schwerer bestrafen als die kleine, und die Gefahr für wichtige Rechtsgüter härter als die für unwichtige.

Das ist jetzt ein bisschen verkürzt, weil es ja gar nicht selbstverständlich ist, das bloße Schaffen von Gefahren überhaupt schon als sanktionierungswürdig anzusehen. Aber wenn man das akzeptiert, verlangt die Art von Rationalität, die uns eingeboren ist, genau dies. Man kann darüber lange streiten, ob die Bestrafung der Gotteslästerung noch Gefährdungs- oder schon Verletzungsdelikt ist: Je nachdem. Oder ob die Verseuchung des deutschen Biers mit Glyphosat schon ein Rechtsgut verletzt oder erst ein Rechtsgut gefährdet.

Aber wenn man sich auf diese – vernünftigen – Kriterien eingelassen hat, muss man sie durchhalten. Das heißt, man muss die „immanente“ Rationalität, die Stimmigkeit, die Tatsachengestütztheit prüfen. Die Theorie vom Rechtsgüterschutz ist der Versuch einer Verbindung von Empirie und Recht, Soziologie und Metaphysik. Knut Amelung (verstorben 2016) und Winfried Hassemer (verstorben 2014), zwei bedeutende deutsche Strafrechtslehrer, haben dies vor 45 Jahren fast zeitgleich beschrieben. Seither ist, allen Symposien zum Trotz, nichts durchgreifend Neues dazu erschienen.

Trunkenheit im Verkehr

Aus den Höhen zurück zur Erde. Frage: Wann, verehrte Leser, sind Sie im Verlauf des kommenden Abends/Wochenendes persönlich am gefährlichsten, wenn Sie in unmittelbarem Kontakt stehen a) mit einem Vorrat an Alkohol und b) mit einem Kraftfahrzeug? Überlegen Sie genau!

Man könnte die Frage noch differenzieren: Wie viel Gläser Wein spornen Sie an, heute Abend unbedingt noch etwas mit dem Kfz zu unternehmen? Und wie viele turnen Sie eher ab? Anders: Wie fahren Sie, wenn Sie zwei bis drei Viertel Wein oder Halbe Bier getrunken haben? Und wie fahren Sie mit dem a) doppelten, b) dreifachen Quantum?

Der Gesetzgeber sagt: Je mehr Alkohol Sie getrunken haben, desto gefährlicher sind Sie für den Straßenverkehr. Im Ordnungswidrigkeitenrecht (Paragraf 24a StVG) stellt er aufgrund dieser Vermutung sogar eine gesetzliche Grenze auf (0,5/0,8 Promille Blutalkohol). Im Strafrecht gibt es die nicht. Dort heißt das Tatbestandsmerkmal: „zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet“ (Paragraf 316 StGB); ob das bei 0,8 oder 2,5 Promille Blutalkohol der Fall ist, sagt das Gesetz nicht. Der Bundesgerichtshof weiß es wundersamerweise trotzdem in 100 Prozent aller Fälle: 1,1 Promille sind ein „unwiderlegbares Beweisanzeichen“ für „Ungeeignetheit“. Das weiß das Gericht aus einem Gutachten von rechtsmedizinischen Instituten, die sich vor 25 Jahren auf diesen Wert geeinigt haben. Vorher hatten sie sich auf einen anderen Wert geeinigt (1,3 Promille).

Ob das wohl stimmt? Wenn ich mich nicht sehr irre, ist die Antwort: Es kommt darauf an, ist aber fraglich. Eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen zu den – sehr gut erforschten – Wirkungen des Alkohols weist darauf hin, dass bei relativ niedrigen Alkoholpegeln (sagen wir: 0,5 bis 1,0 Promille) das Maß der angstlösenden, euphorisierenden, in jedem Sinn „beschleunigenden“ Auswirkungen bei Weitem am höchsten ist. In diesem Bereich wirkt Alkohol wie „Speed“ und wird auch täglich millionenfach absichtlich so eingesetzt.

In einem Lebensbereich, in dem sich die Gefahren für (eigene und fremde) Rechtsgüter gerade aus einer Überforderung der mentalen, emotionalen und intellektuellen Bewältigung von Geschwindigkeit ergeben (also dem Straßenverkehr, in dem Menschen nach individueller Entscheidung mit Geschwindigkeiten zwischen 10 und 250 Stundenkilometern unter Mitführung von rund 1,5 Tonnen Vernichtungspotenzial unterwegs sind), drängt sich die Annahme auf, dass der „angstlösende“ Bereich der alkoholischen Gehirnmanipulation mindestens so gefährlich, vermutlich aber gefährlicher ist als ein Bereich, in dem gewöhnlich Elemente des Rückzugs und der Unsicherheit überwiegen.

Ganz banal: Bei 0,7 Promille neigt der Mensch zur deutlichen Überschätzung seiner Fähigkeiten. Er fährt schneller als sonst, er fährt dichter auf, er überholt, wo er normalerweise abwarten würde. Bei 2,7 Promille neigt er, falls er überhaupt noch sein Auto findet, zu übervorsichtigem, oft auffällig langsamem, unsicherem Führen von Kraftfahrzeugen. Ausnahmen hiervon gibt es immer, wir sprechen hier aber von der Regel.

Was ist die häufigste Ursache für schwere Verkehrsunfälle mit Personenschaden? Sogenannte „nicht angepasste“ Geschwindigkeit, also zu schnelles Fahren. Wann fährt der Mensch besonders gern und oft zu schnell? Nicht bei besonders hohen Blutalkohol-Konzentrationen, sondern bei solchen zwischen 0,5 und 1,1 Promille. Warum ist dies nur eine Ordnungswidrigkeit, das Fahren ab 1,1 Promille aber eine Straftat? Ist man ehrlich, muss man sagen: Wir wissen es nicht. Es wird dieser Kategorisierung vielleicht irgendein „Kompromiss“ zwischen der Alkoholindustrie, der Rechtsmedizin und dem gesunden Menschenverstand zugrunde liegen, der da sagt: 2.000 Tote durch zu schnelles Fahren mit wenig Alkohol muss uns der deutsche Riesling wert sein, und die Gemütlichkeit. Auf dem Weg zu diesem Kompromiss könnte der sogenannte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz übersehen worden sein. Derart kleine Unaufmerksamkeiten sind ja typisch für die Phase zwischen dem zweiten und dem vierten Weißbier. Ein Kasperltheater, tausendfach, jeden Tag

Vorsatz, Fahrlässigkeit und Schuld

Bitte werfen Sie, liebe Leser, noch einmal einen Blick auf den oben abgedruckten Text des Paragrafen 316 Strafgesetzbuch: Die vorsätzliche Trunkenheitsfahrt wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft (Absatz 1). Und die fahrlässige Trunkenheitsfahrt wird „ebenso bestraft“ (Absatz 2). Das ist, nach den üblichen Kriterien unserer strafrechtlichen Dogmatik, zurückhaltend gesagt: überraschend, ehrlich gesagt: Unsinn. Denn Fahrlässigkeit und Vorsatz sind zwei „Stufen“ des Verschuldens, die unterschiedliche Voraussetzungen haben und vom geltenden Recht durchgängig als qualitativ unterschiedlich bewertet werden. Niemand würde sagen, es sei gleich verwerflich, einen Menschen mit Vorbedacht absichtlich zu töten, wie durch eine momentane Unaufmerksamkeit einen Fehler zu machen, in dessen Folge durch „tragische Verkettung von Umständen“ ein Mensch zu Tode kommt. In der Fahrlässigkeitstat liegt stets ein gehöriges Maß an Zufall, den man dem Täter nur schwer zurechnen kann, ganz anders als bei der Vorsatztat, die auf die Verletzung des Rechtsguts bewusst abzielt. Wie kann man dann aber auf die Idee kommen, die leichteste Fahrlässigkeit mit der kriminellsten Absicht im Gesetz gleichzusetzen?

Es gibt keinen materiell vernünftigen Grund dafür. Der Gesetzgeber tut es aber trotzdem, und alle Gerichte halten sich daran. Der Grund sind angebliche „Beweisschwierigkeiten“: Man kann einem alkoholisierten Kraftfahrer nur schwer nachweisen, dass er beim Fahren dachte, er sei „verkehrsuntüchtig“. Der/die gesetzgebende Abgeordnete denkt vielmehr, tief in sich selbst hineinhorchend oder in das, was er „den Bürger draußen im Lande“ nennt: Je besoffener, desto verkehrstüchtiger fühlt sich der Mensch. Und weil man das alles nicht weiß, obgleich 47.000 Forscher darüber seit 47 Jahren und 47 Tagen Fachtexte schreiben, bleibt man dann halt im dogmatischen Niemandsland stecken, und der Bürger/Autofahrer/ADAC muss sehen, wie er damit klarkommt: Vorsatz ist dasselbe wie Fahrlässigkeit, und umgekehrt, und alles ist sowieso wurst, weil auch die Strafe dieselbe ist.

Deshalb fragt der Richter am Amtsgericht den siebenten Trunkenheitsangeklagten an einem sonnigen Verhandlungsmorgen wieder: Fühlten Sie sich fahrtüchtig? Heftig nickt der Herr Verteidiger, und der Sünder auf der Anklagebank legt das Gesicht in die Falten der Aufrichtigkeit: Absolut. Nun gut, sagt der Richter, dann wird’s wohl wieder mal fahrlässig gewesen sein.

Ein Kasperltheater, tausendfach, jeden Tag. Die formale Abarbeitung angeblich „zwingender“ rechtlicher Normen, die aber weithin aus Konventionen, „herrschender Meinung“ (hM), ein bisschen Beweiserleichterung und einem Haufen Widersprüchen bestehen. Was soll’s, fragt hM, wenn’s doch funktioniert? Und die Großen aus der Zunft der Großtheoretiker werden aus dem bloßen Sosein des Sosein-Müssens gewiss eine normativ-ontologische Komponente filtern, die uns mit der Frage konfrontiert, wie wir das rauschhafte Sein des Hefeweizentrinkers überhaupt mit dem seinhaften Rausch des GTI-Fahrers in eins mischen können. Und sowieso besteht auf jeden Fall noch Forschungsbedarf.

Ist gebongt, Herr Professor, sagt da der Amtsrichter. Und der Professor, nach einem Schluck vom edlen Jahrgang, sagt: Es hat doch alles Sinn und Maß, und ich bin sein Verkünder.

Grenzen

Die Grenzen, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gezogen werden, sind nicht gerecht. Sie sind noch nicht einmal rational. Eine „unwiderlegliche Vermutung“ ist dem deutschen Strafprozessrecht fremd. Die Annahme, ab 1,1 Promille Blutalkohol sei „unwiderleglich“ vom objektiven Vorliegen des Tatbestandsmerkmals „Ungeeignetheit“ (Paragraf 316) auszugehen, ist daher systemwidrig. Es gibt auch keine Parallele zu solch einem Rechtssatz. Das gesamte materielle Strafrecht steht unter dem Vorbehalt seiner formellen Anwendbarkeit, und deren Formen bestimmen sich nach der Strafprozessordnung. Dort gibt es keine „unwiderleglichen“ Vermutungen, keine „Durchschnittswerte“ und „Beweiserleichterungen“.

Es gibt auch keine „absoluten“ Grenzen und Beweiserleichterungen bei der Beeinflussung durch Cannabis, Amphetamin, Kokain, Heroin, Morphium und tausend andere Drogen, durch Tabletten oder Hustensaft, Rohypnol, Antidepressiva oder was auch immer. Obwohl diese Substanzen und ihre Wirkungen in den meisten Fällen seit vielen Jahrzehnten bekannt, erforscht, beobachtet und analysiert werden, gelingt es der Wissenschaft einfach nicht, irgendeinen „Grenzwert“ zu bestimmen, an welchem die „unwiderlegliche Beweisvermutung“ zuschlägt und die rotäugige, kichernde und verzögert antwortende Cabrio-Fahrerin zwangsläufig ins Reich der Kriminellen zu befördern ist. Das wird von Gesetzgebung und Rechtsprechung hingenommen wie die Auskunft, es sei leider „noch nicht“ möglich, die Rückseite des Jupitermondes „Europa“ zu kartografieren.

Richtig ist, dass es einmal eine Zeit gab, in der ein Strafsenat des Bundesgerichtshofs meinte, man müsse unbedingt „klare Grenzen“ setzen: ab 2,0 Promille „eingeschränkt schuldfähig“, ab 3,0 Promille „schuldunfähig“. Ab 1,3 oder 1,1 oder 1,0 Promille fahruntüchtig, mit oder ohne oder mit dreifach durch die Quersumme seiner Wurzel geteiltem „Sicherheitszuschlag“. Alles Unsinn: Es geht um Praktikabilität, Plausibilität und Legitimität. Was dürfen wir den Menschen bei Strafandrohung verbieten, und warum?

Autofahrer sind ab 1,1 Promille kriminell. Radfahrer ab 1,7 Promille, Bootsführer vielleicht auch, nicht aber Surfer. Schlauchbootfahrer noch nicht entschieden, Elbekahnfahrer jedenfalls ab 2,0 Promille. Krabbenfischer ab 2,5 Promille, vielleicht aber auch nicht, Seenotrettungskreuzerfahrer ab 1,1 Promille. Flüchtlingsbootesteuermänner und Flugkapitäne: Wir warten auf Weistümer. All das ist: Vermutung, Rechtspolitik, Konfliktvermeidungsrecht. Von Wissenschaft keine Spur.

Dazu kommt: Wir rechnen die Alkoholkonzentration auf die zweite Dezimalstelle aus, also aufs Hundertstel Promille. 1,09 ist ordnungswidrig, 1,10 ist kriminell. Die Grundlage für diese beglückende Genauigkeit des Rechts sind Trinkmengenangaben des Beschuldigten oder Blutproben, die nach „Formeln“ hochgerechnet werden, deren Unsicherheitsfaktor locker das Hundertfache beträgt: Männer bestehen zu 70 Prozent aus Wasser, Frauen zu 60 Prozent, ist eine der Annahmen, die täglich tausendfach angewandt werden, aber einen Genauigkeitswert aufweisen wie die Aussage, im Mai falle weniger Niederschlag als im Juni. Ist meistens so, muss aber nicht sein.

Einschätzungen

In gewissem Maß ist der Gesetzgeber frei, zu pauschalisieren. Und er darf, bei unsicherer Tatsachenlage, auch vorläufige Entscheidungen treffen, wenn und soweit es dafür sachliche Anhaltspunkte gibt: Dynamit als gefährlicher anzusehen als Wunderkerzen, ist vermutlich nicht falsch. Aber wie ist es mit der Gefährlichkeit des Straßenverkehrs, des Automobils und des Alkohols?

Das Letztere ist klar: 10.000 Jahre Zivilisation haben erwiesen, dass der Mensch die Finger vom Schnaps lassen soll, wenn ihm sein und das Leben seiner Mitmenschen etwas wert ist. Und auch, dass er es hartnäckig nicht tut. Nun aber: Wie viele Menschen kommen jährlich zu Schaden durch eine Kombination von Alkohol und Messer; Alkohol und Schlagwerkzeug; Alkohol und Ehestreit? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand unter Alkoholeinfluss eine Fahrt mit einem Kraftfahrzeug unternimmt, im Verhältnis zu der Wahrscheinlichkeit, dass er irgendetwas anderes tut? Wie oft kommt es durch Alkohol + Fahren (von welchem Fahrzeug auch immer) zu Schädigungen Dritter, wie oft durch Alkohol + irgendwas (Messer-Haben, Disco-Gehen, Fußball-Gucken)? Niemand untersucht das. Es reicht uns, wenn wir wissen: Betrunken Auto fahren ist strafbar. Niemand ruft, das Strafrecht weise „enorme Lücken“ auf, weil es noch immer straflos sei, betrunken zum Fußball zu gehen, eine Schreckschusspistole bei sich zu führen, eine Rede im Bundestag zu halten oder mit einem Kind in den Wald zu gehen.

Ist das Autofahren die gefährlichste Tätigkeit des Menschen? Oder ist es zumindest die Tätigkeit, die im Zusammenhang mit berauschenden Substanzen am gefährlichsten ist? Denken Sie einmal darüber nach! Müsste man nicht das Bedienen von Maschinen jeder Art unter dem Einfluss von solchen Substanzen für gefährlicher halten? Oder das Schreiben von Nachrichten? Das Mauern von Häusern, das Formulieren von Klageschriften, das Unterrichten von Kindern, das Bedienen von Schleusentoren, das Schießen auf Feinde?

Unser Strafrecht ist, das sollten wir gelegentlich bedenken, noch immer in hohem Maß geprägt durch Vorstellungen, Theorien und Rationalitäten der vorletzten Jahrhundertwende, angereichert durch die 1930er Jahre des 20 Jahrhunderts. Paragraf 316a Strafgesetzbuch („Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer“) ist so eine Vorschrift, die sich in ihrer Mischung aus Zivilisationsfurcht („Autofallen“ der frühen 1930er Jahre, wieder aufgelebt nach dem Kollaps der DDR) und Irrationalität bis heute durchschleppt und immer wieder in der Praxis „angepasst“ statt endlich aufgehoben wird.

Wer heute ein Strafrecht zu entwerfen hätte, als gäbe es nichts Vorausgehendes, würde vielleicht eher das „Berauschte Sich-Beteiligen an einer Onlinekommunikation“ für strafbar halten als das bekiffte Fahren auf einem Aufsitzrasenmäher. Und er würde gewiss nicht auf die absurde Idee kommen, zwischen dem besoffenen Führen von „Kraft“-Fahrzeugen und „Unkraft“-Fahrzeugen, also etwa zwischen Mofas (Gewicht 30 kg, Geschwindigkeit 25 km/h) und Kite-Surfmaschinen (Gewicht 70 kg, Geschwindigkeit 100 km/h) so zu unterscheiden, dass das betrunkene Führen des Ersteren ein kriminelles Verbrechen, das des Zweiten aber ein Samstagnachmittagsvergnügen ist.

Die Frage, die sich stellt, ist also: Ist diese ganze Konstruktion aus Schuld, Unrecht, Schnaps, Fortschritt und Strafe überhaupt noch ansatzweise eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit? Denn wenn sie das nicht ist, wenn vielmehr Straf-Usancen nur auf Gewohnheit und Fantasielosigkeit und eingefahrenen Schemata beruhten: Was dann? Bräche dann das christliche Abendland zusammen, oder müssten sich die Verteidiger der Leitkultur nur einmal wieder hinsetzen und in Ruhe überlegen, was eigentlich das Leitende sein soll?

Gefahr und Rausch

Und dann noch dieser Paragraf 323a Strafgesetzbuch: Das Begehen von Straftaten im Rausch wird bestraft, wenn die Straftat wegen des Rausches nicht bestraft werden kann. Hochseilkunst der Strafrechtsdogmatik. Niemand außerhalb des Zirkels der Eingeweihten versteht so was, und viele innerhalb des Zirkels auch nicht. Aber darauf komme ich in der nächsten Woche zurück.

2016-10-17T16:27:24+02:00Dienstag, 1. März 2016|Kategorien: Verkehrsdelikte, News zu Rechtsgebieten|

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