Beschluss vom 07. März 2011
Am 15. März 2004 ließ sich der Beschwerdeführer zusammen mit circa 40 anderen Personen aus Protest gegen die sich abzeichnende militärische Intervention der USA im Irak auf der zu dem Luftwaffenstützpunkt der US-amerikanischen Streitkräfte bei Frankfurt am Main führenden Ellis Road nieder. Daraufhin wurde er vom Amtsgericht wegen Nötigung nach § 240 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt.
Das Landgericht verwarf die hiergegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers. Die Demonstranten hätten den Tatbestand der Nötigung erfüllt, indem sie mit der Sitzblockade gegenüber denjenigen Fahrzeugführern Gewalt ausgeübt hätten, die durch vor ihnen anhaltende Fahrzeuge an der Weiterfahrt gehindert worden seien. Außerdem hätten sie rechtswidrig gehandelt. Die von ihnen ausgeübte Gewalt sei Mittel zum Zweck der Erregung von Aufmerksamkeit für bestimmte politische Zwecke gewesen. Zwangseinwirkungen, die allein darauf abzielten, durch gewaltsamen Eingriff in Rechte Dritter gesteigertes Aufsehen in der Öffentlichkeit zu erregen, seien durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht gedeckt. Zudem sei die Beeinträchtigung fremder Freiheit ein völlig ungeeignetes Mittel zur Erreichung des angestrebten Zweckes gewesen. Schließlich beseitigten gesellschaftspolitische Motive nicht die Rechtswidrigkeit des Eingriffs in Rechte Dritter, sondern seien in der Strafzumessung zu berücksichtigen.
Mit der gegen die Entscheidung des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Analogieverbots sowie der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG.
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die angegriffene Entscheidung aufgehoben, weil sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Einen Verstoß gegen das aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Analogieverbot durch die umstrittene „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs konnte die Kammer dagegen nicht erkennen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Die vom Landgericht bei der Auslegung des Gewaltbegriffs des Nötigungstatbestandes herangezogene sogenannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs begegnet keinen Bedenken in Bezug auf Art 103 Abs. 2 GG.
Nach dieser Vorschrift darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Daraus folgt für die Rechtsprechung ein Verbot, den Inhalt der Strafvorschrift zu erweitern und damit Verhaltensweisen in die Strafbarkeit einzubeziehen, die nach dem Wortsinn der Vorschrift den Straftatbestand nicht mehr erfüllen.
In der vorliegenden Situation ergibt sich die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens der Demonstranten gemäß § 240 Abs. 1 StGB nicht aus deren unmittelbarer Täterschaft durch eigenhändige Gewaltanwendung, sondern aus mittelbarer Täterschaft durch die ihnen zurechenbare Einwirkung des ersten Fahrzeugführers als Tatmittler auf die nachfolgenden Fahrzeugführer. Die vom Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen für die Annahme von Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB geforderte körperliche Zwangswirkung liegt vor. Zwar entspricht es der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass dies nicht für das Verhältnis der Demonstranten zu dem ersten Fahrzeugführer gilt, der aus Rücksicht auf die Rechtsgüter der Demonstranten und damit allein aus psychischem Zwang anhält. Eine körperliche Zwangswirkung kann jedoch im Verhältnis des ersten Fahrzeugführers zu den nachfolgenden Fahrzeugführern angenommen werden. Die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens der Demonstranten folgt daraus, dass diese den anhaltenden ersten Fahrzeugführer und sein Fahrzeug bewusst als Werkzeug zur Errichtung eines körperlichen Hindernisses für die nachfolgenden Fahrzeugführer benutzen. Dass hierbei im Verhältnis von Demonstranten zu dem ersten Fahrzeugführer keine körperliche, sondern allein eine psychische Zwangswirkung vorliegt, ist für § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB ohne Belang, da die Einflussnahme eines mittelbaren Täters auf den Tatmittler durchaus allein psychischer Natur sein darf. Auch die Annahme, dass die Demonstranten über hinreichende Tatherrschaft beziehungsweise Willen zur Tatherrschaft verfügen, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Demonstranten versetzen den ersten Fahrzeugführer durch ihre Sitzblockade gezielt in ein Dilemma, das dieser rechtlich nicht anders als durch Stehenbleiben und damit durch Behinderung der nachfolgenden Fahrzeugführer auflösen kann. Auch einem Laien ist es hinreichend nachvollziehbar, dass ein Verhalten wie das der Demonstranten durch die Blockade für die im Stau eingeschlossenen Fahrer eine körperliche Zwangswirkung herbeiführt und damit als Nötigung tatbestandsmäßig sein kann.
2. Die Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer jedoch in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Das Landgericht hat den Versammlungscharakter der Sitzblockade mit verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint. Dass die Aktion die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für bestimmte politische Belange bezweckte, lässt den Schutz der Versammlungsfreiheit nicht entfallen, sondern macht die gemeinsame Sitzblockade, die somit der öffentlichen Meinungsbildung galt, erst zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG.
Die Ausführungen des Landgerichts rechtfertigen die Verurteilung des Beschwerdeführers mit Blick auf die damit einschlägige Versammlungsfreiheit nicht.
Gemäß § 240 Abs. 2 StGB ist die Nötigungshandlung rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt im Verhältnis zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Die Entscheidung des Landgerichts wird den diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Zum einen hat es nicht sämtliche Gesichtspunkte in die gebotene Abwägung eingestellt, zum anderen die zugunsten des Beschwerdeführers streitenden Umstände fehlerhaft gewichtet. Zu Unrecht hat es insbesondere den Zweck der Sitzblockade, Aufmerksamkeit zu erregen und auf diese Weise einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, als einen für die Verwerflichkeit der Tat sprechenden Gesichtspunkt zu Lasten des Beschwerdeführers gewertet. Des Weiteren hat es verkannt, dass der Kommunikationszweck nicht erst bei der Strafzumessung, sondern im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel gemäß § 240 Abs. 2 StGB, mithin bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit, zu berücksichtigen ist. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist des Weiteren, dass das Landgericht bei der Abwägung die Dauer der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, die Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports sowie die Anzahl der von ihr betroffenen Fahrzeugführer gänzlich außer Betracht gelassen hat.
(Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung vom 30. März 2011)