Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Strafrichter finden die Wahrheit in sogenannter „freier Würdigung“. Manche Bürger argwöhnen, dies sei eine Umschreibung von Willkür. Zu Unrecht. Die Rechtskolumne

22. September 2015, 16:52 Uhr

In den vergangenen zwei Wochen habe ich einige Begriffe aus dem Beweisrecht erklärt, die zur Beschreibung des langen Wegs wichtig sind, den die (scheinbar) offenkundigen Tatsachen der Lebenswelt nehmen, wenn sie im Strafprozess als „Wahrheit“, Wirklichkeit, tatsächliches inneres und äußeres Geschehen rekonstruiert und zum Gegenstand einer richterlichen Entscheidung – Verurteilung oder Freispruch – gemacht werden sollen. Im heutigen, (vorläufig) letzten Teil spreche ich über den Wert der Beweise, und nebenbei über die innere Kraft der Justiz.

Die Beweisführung

Auf dem gefährlichen Weg vom Berg der allwissenden Götter und ihrer (meist wenig verlässlichen) Wahrheitsbotschaften herab in die Niederungen des Dschungels fiebrigen Wollens begegnet der Mensch selbstverständlich nur wieder sich selbst (schon wieder zwei Filmtipps: Tarkowski/ Soderbergh: Solaris; und selbstverständlich den Roman von Lem) und seiner „Natur“: Ein neuer Gott vor den Göttern, ein Widersacher mit unvorstellbaren Kräften, ein Ich! Dieses Monster kann man nicht überwinden, wenn es nicht von selbst in den Staub sinkt. Dies ist die Geburt der Inquisition und damit auch des Geständnisses.

Über die Inquisition, die zunächst eine rein kirchliche Einrichtung zur Verfolgung von Häresie und Magie war, gibt es viele Vorurteile und Fehlannahmen (etwa jene, die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit gingen überwiegend auf ihr Konto, was nicht zutrifft), auf die es hier aber nicht ankommt. Inquisition bedeutet Befragung, und ist auch so gemeint: An die Stelle von Gerichten, die letztlich nur Zeugen göttlich-ewiger, also einer quasi abstrahierten Wahrheits-„Erkenntnis“ waren, treten hier Richter (im kirchlichen Prozess: „Inquisitoren“), die das Verfahren beherrschen und die Wahrheit mittels „Befragung“ zu finden versuchen: Bei ihnen ist Anklage zu erheben; sie suchen und vernehmen Zeugen und befragen den Beschuldigten. Das gesamte Verfahren ist geheim: Es gibt keine Öffentlichkeit, keine „Beteiligung“ des Beschuldigten, grundsätzlich keine Verteidigung. Diese kurzen Stichworte mögen das Verfahren aus heutiger Sicht barbarisch erscheinen lassen: Tatsächlich verstand es sich als Sieg der Vernunft. Es begrenzte die Wahrheit auf ein menschliches Maß, indem es ihre Kriterien der menschlichen Erkenntnis unterwarf.

Das war nicht eine Wendung von der Dummheit zur Intelligenz, wie es die Alltagstheorie heute gern darstellt. Sondern eine solche vom Himmel zur Erde. Wenn und solang man magische Zeichen über die Geltung der Wirklichkeit entscheiden lässt, ist man ohnmächtig gegenüber der Kausalität. Sobald man aber, zunächst heimlich, beginnt, die Zeichen und die unbestreitbaren Gegebenheiten aufzuzeichnen und zu vergleichen, wird man – zumindest subjektiv – zum Herrn der Wirklichkeit.

Dass Tausende Jahre vergehen mussten, bevor die Gesellschaften diese heute recht banale Erkenntnis fanden, ist wiederum ein bemerkenswertes Indiz dafür, dass nicht die Erkenntnis das Sein bestimmt, sondern aus der Aneignung der Welt emporsteigt (siehe: Thesen zu Feuerbach, usw.). Will sagen: Nicht Kapazität und Klarheit des menschlichen Geistes nehmen zu, damit wir erkennen, wie die „Wahrheit“ über unsere Intentionen sich erschließe, sondern die Paradigmen der Erkenntnis wandeln sich. Sagen wir es so: Der Markt kann mit Gottesurteilen ganz schlecht, mit Sachverständigengutachten sehr gut leben.

Das Inquisitionsverfahren beherrschte den Strafprozess bis ins 18. Jahrhundert. Sachbeweise waren nicht zugelassen, neben Zeugen (deren Namen geheim blieben) war das Geständnis das zentrale Mittel des Beweises. Heutzutage erscheint uns die Überhöhung des „Gestehens“ als Inbegriff der Irrationalität. Denn weder die Freiwilligkeit des Geständnisses noch seine unfreiwillige Präsentation aufgrund von Folter bieten einen sinnvollen Anhaltspunkt für die Wirklichkeit seiner Wahrheit. Das weiß der Folterer bis heute; er wusste es aber auch damals. Daher wurde die Folter zur Erzwingung des entscheidenden Geständnisses nicht als willkürliche Grausamkeit, sondern als Mittel rationaler Prüfung eingesetzt und mit einer Vielzahl von Regeln eingehegt: Keine Befragung unter der Folter, keine Folter ohne Androhung, keine ungeprüfte Gültigkeit erfolterter Geständnisse.

Der Indizienbeweis wurde in Preußen erst 1848 als vollwertig anerkannt; linksrheinisch galt schon seit Beginn des Jahrhunderts der Code pénal mit öffentlichen Verfahren, Mündlichkeit und Schwurgerichten. Trotzdem gilt das Geständnis bis heute als die Königin des Beweises, und die eingangs zitierte Herabsetzung des „Indizienprozesses“ noch in der heutigen Alltagstheorie stammt aus dieser Zeit. In der Sache ist das nicht gerechtfertigt: Sachbeweise aufgrund von Indizien sind oft wesentlich gehaltvoller und objektiver als etwa Zeugenaussagen: Fingerspuren, Telefonprotokolle, Fasern, DNA-Analysen und zahllose andere Sachbeweise ergeben hochspezifische Indizien für bestimmte Geschehensabläufe.

Krisen des Geständnisses

Hinter der Überhöhung des Geständnisses verbirgt sich, auch nach dem Ende des Inquisitionsverfahrens, manches Elend des Strafprozesses. Denn erstens gilt: Gesteh‘, was nicht zu bestreiten ist, dann hast Du Ruhe, was den Rest angeht.

Zweitens: Das Geständnis ist eine Währung, auf welche die Strafjustiz sich seit Jahrzehnten auf einer abschüssigen Bahn in bedenklich korruptivem Maße so weit eingelassen hat, dass sie davon abhängig geworden ist wie ein Junkie: Wie im Zivilverfahren die „Pensen“ der Richter nur noch zu schaffen sind, wenn bestimmte Vergleichsquoten nicht unterschritten werden, so meinen seit langer Zeit die Strafrichter auf „ausgehandelte“ Geständnisse und die dadurch erreichbare Quote schneller Erledigungen angewiesen zu sein – und reagieren, weil ihnen diese Droge vom Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 19. März 2013) und vom Bundesgerichtshof (insb. dessen 2. Strafsenat) entzogen oder jedenfalls der Zugang erschwert wird, gerade ebenso wie ein Junkie auf Entzug: Mit Schwitzen, Zittern und Aggressivität. Das ist eine eigene Kolumne wert.

Und drittens: Geständnisse sind so viel wert wie das Verfahren, in dem sie abgegeben werden – nicht umgekehrt. Der „Fall Bauer Rupp“, ein sprachlos machender Fall aus der neuesten Geschichte unseres modernen Strafprozesses, hat uns vor wenigen Jahren einmal mehr einen Hinweis erteilt: Vier (wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte meinten: „absolut glaubhafte“) Geständnisse einer brutalen Tötung und einer spektakulären Beseitigung der Leiche (Familie erschlägt Vater mit Hammer und verfüttert ihn an Hunde oder Schweine) – und allesamt objektiv sicher falsch (das angebliche Opfer wird Jahre später ertrunken in der Donau gefunden)! Ein maximaler Skandal der Strafjustiz, der bis heute zur skurrilen Fußnote herunterdefiniert wird, ohne das Menetekel zu erkennen, das sich in ihm offenbarte.

Tatsächlich ist das Geständnis heute – zu Recht – theoretisch kaum etwas wert; faktisch gilt es – zu Unrecht! – weiterhin als Königsweg des Beweises. Das liegt nicht etwa an seiner durchschnittlichen Bedeutsamkeit, sondern an der damit signalisierten Unterwerfung des Beschuldigten, also seiner Bereitschaft, sich mit irgend-einer Verurteilung „auf dieser Basis“ (also des Geständnisses) abzufinden. Das bedeutet: Kein Rechtsmittel, keine Mühe bei der Urteilsabfassung, kein Risiko der Urteilsaufhebung wegen Rechtsfehlern.

Gestehe, sagt der Richter beim (illegalen) sogenannten „Deal“ hinter den Kulissen (oder lautet das „Angebot“ des Verteidigers), dass Du es warst, der die Tankstelle überfallen hast. Und wenn Du „gestehen“ solltest, dass Deine Schreckschusspistole ungeladen war, verspreche ich Dir, dass das Gericht Dir diese Lüge „glaubt“. Ergebnis: Du wirst wegen „schwerer“, aber nicht wegen „besonders schwerer“ räuberischer Erpressung verurteilt, wie es wahrscheinlich richtig wäre, und kriegst zwei Jahre weniger als verdient (ob das stimmt, weiß kein Mensch). Als Gegenleistung dafür, dass ich Dir Dein erlogenes Geständnis „glaube“, legst Du keine Revision ein.

Auf diese oder ähnliche Weise werden bis heute jährlich viele Tausend Verfahren erledigt und „Wahrheiten“ gefunden. Wie es wirklich war, sagt dem Richter zwar der „gesunde Menschenverstand“, aber den lässt er unter dem Druck der Aktenflut gelegentlich beiseite, wenn das Ergebnis „passt“. So läuft der „Deal“ im Strafprozess: „Geständnis“ und Rechtsmittelverzicht gegen „Glauben“ und milde Strafe. Das ist zwar nicht die Vorstellung des Gesetzgebers des „Verständigungsgesetzes“, aber in höchst bedenklichem Maß noch immer dessen Praxis.

Das kann man gut finden, da es doch angeblich „niemandem schadet“, oder weil es zum „Rechtsfrieden“ führe, oder weil man im Leben nun mal einen pragmatischen Weg gehen müsse. Man kann aber auch sagen: Das ist der Anfang vom Ende der Wahrheit und des Rechtsstaats. Es ist das Bekenntnis, dass unwahre Symbolik mehr zählt als wahre Vernunft, wenn nur die Positionen der Macht halbwegs gesichert bleiben und die Aushöhlung der Legitimationsgrundlage (Gleichheit, Rationalität, Öffentlichkeit, Überprüfbarkeit) kollektiv akzeptiert wird. Und für diesen Selbstmord aus Angst vor dem Sterben gibt sich eine Richterpopulation her, die sich in ihrer Selbstwahrnehmung als Bewahrerin der Gerechtigkeit imaginiert. Erstaunlich!, sagt aus der Distanz der Völkerkundler.
Exkurs: Wahrheit und Angst

Die Rechtsdogmatik meint, mit überzeugenden Gründen: Illegale, also nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Deals sind ganz hart an der Grenze der „Rechtsbeugung“, also der (bedingt) vorsätzlichen Falschentscheidung, und gelegentlich darüber hinaus. Wer so etwas sagt, raunen die anderen, ist ein Feind in den eigenen Reihen. Das täuscht.

Der Grund ist banal. Er heißt Angst. Nichts gilt unserer Justizverwaltung als schrecklicheres Desaster als eine schlechte Statistik oder gar die Entlassung eines Untersuchungsgefangenen aus der U-Haft, weil deren Dauer nicht mehr verhältnismäßig sei. Wenn das (von einem Oberlandesgericht) festgestellt wird, gelangt ein Verdächtiger (!) auf freien Fuß, der vielleicht (!) der Täter gewesen sein könnte. Dieses Ereignis führt binnen weniger Stunden die Presse zur kritischsten aller kritischen Fragen: Wer muss, soll, wird zurücktreten? Und wen wird er mit sich reißen in den Abgrund des Beförderungsstaus? Diese Frage ist von sprachlos machender Einfalt, gilt unerklärlich vielen aber als Gipfel des kritischen Justiz-Journalismus. Sie ähnelt der Konstellation bei der (überaus selten) gelungenen Flucht eines Strafgefangenen.

Die Frage erfüllt zuverlässig ihre Aufgabe: Sie erzeugt Angst. Falls Sie, liebe Rechtsunterworfene, denken, das sei ein exklusiv für Sie reserviertes Gefühl beim Vorbeifahren an Radarkontrollen, oder bei der Ankündigung Ihres Abteilungsleiters, er wer werde demnächst einmal nachschauen kommen, was sich bei Ihnen noch optimieren lässt, oder bei der Mitteilung der Anordnung einer Außenprüfung des Finanzamts: So ist es nicht. Auch die mächtige Justiz fürchtet sich oft sehr.

Minister und Ministerinnen fürchten sich schrecklich, wenn gefragt wird (oder berichtet wird, es werde gefragt) , ob sie nicht „zurücktreten“ sollten, oder ob es mit den „Skandalen“ nicht langsam reiche. Sie sind dann sehr aufgeregt, und mit ihnen – aus reiner Freundschaft – riesige Behörden, denen es eigentlich ganz egal sein könnte, die sich aber auch fürchten, weil ja die jeweils Oberen eine rätselhafte Macht über die Personalakten haben und bis zum letzten Blutstropfen verteidigen, welche in den „Gremien“ der Parteien beginnt und bei der Ernennung von Justizhauptwachtmeistern endet. Und da die Kaskade der (vermeintlichen) Macht sich den Weg stets von oben nach unten bahnt, fürchten sich zuerst der Minister und der Staatssekretär, und dann bricht ein gar erschröckliches Fürchten über die unabhängige Justiz herein, bis noch der letzte Landrichter begriffen hat, dass nichts auf der Welt so schlimm sein kann für eine Sache (und ganz nebenbei auch für die Personalakte), als dass „das OLG ihn aufgehoben hat“ und dass der Vizepräsident bei irgendeiner Besprechung angeblich gesagt haben soll (!), er (der Richter) sei „schwierig“ oder man sei „nicht glücklich“ mit ihm oder ihr. Wenn er davon hört (was dank hundert kollegialen Ohren zuverlässig garantiert ist), schläft der Strafkammervorsitzende wochenlang schlecht, neigt zu verstärktem Alkoholkonsum und fürchtet sich schrecklich davor, dass möglicherweise ein anderer Strafkammervorsitzender sagen könnte, es sei „allgemein bekannt“, dass er ein Dummkopf sei. In dieser verzweifelten Lage könnte allenfalls noch Ist das Leben nicht schön mit Jimmy Steward (Frank Capra, 1946) helfen. Oder ein bisschen von der Coolness, die Sie, liebe Kollegen, sonst immer von den Beschuldigten und Zeugen erwarten.

Die größten Hasenherzen in diesem Exkurs (und vielen anderen), liebe Leserinnen und Leser, sind, wie Sie hoffentlich bemerkt haben, keineswegs der Richter oder die Richterin, obgleich ihnen gelegentlich ein bisschen weniger Gefügigkeit gut stände. Die Oberhasenherzen sitzen vielmehr da, wo man vor Kraft kaum laufen kann. Außer wenn die Presse berichtet, dass „der Druck zunimmt“.

Der Wert des Beweises

Da mag man, in naiver Rückwärtsgewandtheit, fragen: Kann „Erledigung“ eines Strafverfahrens allen Ernstes ein „ausgedealtes“ Ergebnis auf fiktiver Tatsachengrundlage sein? Wäre dies nicht das gerade Gegenteil einer „rechtsstaatlichen Erledigung“? Muss sich nicht die Strafjustiz – und der ihr unterworfene Bürger – weigern, die Kriterien eines „Erfolgs“ zu akzeptieren, die den Strafprozess erniedrigen und auf eine Ebene des „Verschwindens von Akten“ bringen, auf dass eine „Erledigungsstatistik“ glänze, die wenig Inhalt hat?

Unser Strafprozess kennt vier Mittel des Beweises: Zeugen, Sachverständigengutachten, Urkunden, Augenschein. Das sind die Mittel des sogenannten „Strengbeweises“, im Gegensatz zum „Freibeweis“, auf den eine strafrechtliche Verurteilung nicht gestützt werden darf. Der „Strengbeweis“ heißt so, weil er nach bestimmten, gesetzlich vorgeschriebenen Regeln in die Hauptverhandlung eingeführt werden muss, deren „Inbegriff“ die (alleinige!) Grundlage des Urteils sein darf (siehe oben, die Paragrafen 261, 264 StPO). Mit anderen Worten: Ein Richter, der sich keine rechte Vorstellung von Tatort machen kann, darf diese nicht dadurch gewinnen, dass er nach Feierabend einmal dort vorbeifährt, oder seine Schwiegermutter befragt, die um die Ecke wohnt. Die Aussage des Beschuldigten (gleich, ob Geständnis oder Bestreiten) gilt nicht als Beweismittel, wird aber ähnlich behandelt und ist Teil des „Inbegriffs der Hauptverhandlung“.

„Aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung“ und „nach seiner freien Überzeugung“ stellt der Richter das Ergebnis der Hauptverhandlung und also die Grundlage des Urteils fest. Das heißt vor allem: Es gibt keine Beweisregeln. Zehn Zeugen sind nicht mehr wert als einer, drei Professoren nicht mehr als ein Obdachloser, ein Geständnis nicht mehr als eine Spur. Das Gericht ist „frei“ in seiner Beurteilung des Beweiswerts.

Darin liegt ein außerordentlich hohes Fehlerpotenzial. Aber auch ein noch höheres Rationalitätspotenzial. Denn „Freiheit“ der Beweiswürdigung bedeutet nicht Beliebigkeit. Richter sind gehalten, ihre subjektive „Überzeugung“ zu bilden auf der Grundlage möglichst breiten Wissens über die Welt (das man nicht erzwingen kann und das auch nicht Juristen-spezifisch ist) und auf der Basis von Argumenten, die sich kommunikativ vermitteln lassen: „Überzeugung“ ist gar nichts, wenn sie nichts vorzuweisen hat als sich selbst. Es geht, im Grundsatz, nicht um „Meinungen“, sondern um die Abwägung von (Hilfs-)Tatsachen nach Kriterien, die einem öffentlichen Diskurs zugänglich sind und sich vor der Öffentlichkeit (dem Volk) behaupten müssen. Ein Gericht, das sein Urteil auf irrationale Behauptungen oder unbewiesene Vermutungen stützt, macht sich lächerlich und muss sich dies auch sagen lassen. Extrem wichtig und Grundlage für alles: Es gibt keinen festen Kanon von Regeln oder Prioritäten in einem Beweisrecht der „freien Überzeugung“.

Das bedeutet aber nicht, dass es eine Herrschaft von Willkür oder Zufall geben darf. Um die Gefahr von Willkür oder Fehlern bei der Tatsachenfeststellung zu verringern, hat das Gesetz diverse Sicherungen eingebaut. Die Wichtigste ist die Subjektstellung aller Verfahrensbeteiligten und das sich hieraus ergebende Recht des Beschuldigten, in jeder Verfahrenslage verteidigt zu sein und an der Tatsachenfeststellung mitzuwirken: Zum einen, indem er Behauptungen der Staatsanwaltschaft oder Dritter entgegentritt, zum anderen, indem er eigene Tatsachenbehauptungen einbringt und „unter Beweis stellt“.

Der „Amtsermittlungsgrundsatz“ – Errungenschaft wie Überbleibsel des Inquisitionsprozesses – schreibt vor, dass das Gericht „von Amts wegen die Untersuchung auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken (hat), die für die Entscheidung von Bedeutung sind“ (Paragraf 244 Abs. 2 StPO). Hätte es damit sein Bewenden, so wären viele Prozesse allerdings überraschend schnell zu Ende. Denn was „von Bedeutung“ ist, entscheidet das Gericht, und dessen Einschätzung, was die Vollständigkeit der Beweiserhebung angeht, kann sich von derjenigen der anderen Prozessbeteiligten bekanntlich sehr unterscheiden.

Es ist daher nicht eine Durchlöcherung des Amtsermittlungsgrundsatzes, sondern seine notwendige Ergänzung, dass das Gesetz eine Vielzahl von Regeln über das „Beweisantragsrecht“ enthält: Der Angeklagte, aber auch die Staatsanwaltschaft können Anträge stellen, bestimmte Beweismittel zum Nachweis behaupteter Tatsachen herbeizuschaffen. Solche Anträge kann das Gericht nicht einfach ohne Gründe oder mit der Begründung ablehnen, die Sache sei nicht wichtig, oder man ahne schon, dass bei der Beweiserhebung nichts herauskommen werde. Die Ablehnung von Beweisanträgen darf vielmehr nur aufgrund bestimmter gesetzlicher Gründe im Einzelfall erfolgen. Hier beginnt der geheime Garten des Beweisantragrechts, den viele Profis für ziemlich schwierig halten. Er ist es aber, wenn überhaupt, nur deshalb, weil schon so lange so viele intelligente Menschen ihre ganze Kraft darauf verwenden, genau dieses Ergebnis zu erzielen. Das kann man als Verwirrung des unausgelasteten Geistes ansehen. Plausibler erscheine mir, es als Ausdruck von Interessen zu verstehen, und als Beweis dafür, dass wir uns hier nicht in den Sphären der Wissenschaft bewegen, sondern auf den Äckern der Definitionsmacht.

Die Überzeugung

Wenn aber die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, steht der „Inbegriff der Hauptverhandlung“ (Schlussvorträge und „Letztes Wort“ kommen hinzu) im Wesentlichen fest. Er wird – jedenfalls in den großen Verfahren, die beim Landgericht beginnen – weder protokolliert noch sonst wie aufgezeichnet, was ein Quell endlosen Streits und großer Verbitterung ist. Strafverteidiger fordern daher schon lange und zu Recht eine gesetzliche Regelung zur exakten Dokumentation der Beweisaufnahme.

Was das Gericht mit dem Inbegriff der Hauptverhandlung macht, unterliegt seiner „freien Beweiswürdigung“. Das heißt selbstverständlich nicht, dass ein Raten und Vermuten ins Blaue hinein anhebt. Aber es heißt ebenso selbstverständlich nicht, dass ein detailliert prognostizierbarer Prozess der „Würdigung“ einsetzt, der bei denselben Beweisergebnissen bei allen Richtern zum selben Ergebnis führen muss oder auch nur könnte. „Wahrheits“-Erkenntnis ist ein an rationale Anforderungen der Kommunikation gebundener, aber vielfach von subjektiven Wertungen gesteuerter Prozess. Die Bedeutung von Worten ist ebenso wenig mit naturwissenschaftlicher Präzision zu erfassen wie die Wertigkeit von „Eindrücken“ (was etwa die Qualität eines Zeugen angeht), die Anwendung von Erfahrungssätzen und die assoziativen Anteile der Beurteilung etwa von „Glaubwürdigkeit“. Mag auch die Aussagepsychologie eine Vielzahl von wissenschaftlichen Annahmen und methodischen Regeln hervorgebracht haben, die eine Rationalisierung der Aussage-Würdigung ermöglichen, bleibt doch stets ein Rest von subjektivem Spielraum, der mit „Willkür“ in der Regel nichts zu tun hat.

Eine weitere Sicherung ist die Anforderung an das Gericht, das Ergebnis der Würdigung zu begründen. Paragraf 267 Strafprozessordnung enthält einige Regeln über den notwenigen Inhalt schriftlicher Strafurteile. Die Rechtsprechung der Obergerichte, insbesondere des Bundesgerichtshofs, hat in Jahrzenten eine Vielzahl weiterer Regeln entwickelt, denen die Urteilsgründe ebenfalls genügen müssen. Das dient der „Überprüfung“ des Urteils durch das Rechtsmittelgericht. Der Bundesgerichtshof prüft dabei nicht die „Wahrheit“ der Aussagen und Einlassungen, sondern die Rationalität und Stimmigkeit ihrer Wiedergabe und der Begründung ihrer Bewertung. Ob ein Zeuge die Wahrheit oder Unwahrheit gesagt hat, kann der BGH gewiss nicht besser beurteilen als die Richter, der den Zeugen persönlich vernommen haben. Er kann nur – und muss aber auch! – überprüfen, ob die von diesen Richtern angegebenen Gründe (beispielsweise dem Zeugen zu glauben) den Anforderungen an eine in sich stimmige Würdigung genügen.

Eine ganz wesentliche Sicherung schließlich ist der Instanzenzug des Verfahrensrechts: Jede Entscheidung kann in dem dafür vorgesehenen Verfahren angefochten und zur Überprüfung durch ein anderes Gericht gestellt werden. Dass die Anzahl möglicher Instanzen beschränkt sein muss, leuchtet unmittelbar ein: Irgendjemand muss das letzte Wort haben, sonst wäre Rechtsfriede nicht möglich.

Diese formalen Sicherungen einer möglichst neutralen Rekonstruktion der Wirklichkeit des Tatgeschehens enthalten umgekehrt auch viele Fehlerquellen, und eine davon liegt in der Formalisierung selbst: Effekte sich verstärkender Bestätigung durch Voranschreiten formaler Akten-Erzeugnisse. Mit anderen Worten: Je mehr sich die Strafverfolgungsbehörden mit dem Fall bereits „Mühe gegeben“ haben, desto größer wird die Annahme des Gerichts, dies hätten sie doch gewiss „nicht ohne guten Grund“ getan. Und am Schluss schreiben Richter – nicht etwa vor, sondern lange nach der Urteilsverkündung – Zusammenfassungen von Zeugenaussagen in die Urteilsgründe, denen sie bei der Urteilsverkündung geglaubt oder nicht geglaubt haben. Da dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass solche Wiedergaben das Ergebnis eher stützen als infragestellen, nach allen Erkenntnissen der Psychologie recht hoch sein – selbst wenn man noch weit weg ist von „Willkür“-Vorwürfen, und sich „nur“ im Bereich des menschlich Möglichen und Erwartbaren bewegt.

Suche nach Wahrheit

Selbstverständlich kann diese Kolumne die unendliche Themenvielfalt des Beweisrechts nur andeuten und Anregungen zum Weiterdenken geben. Wichtig ist dem Kolumnisten die Vermittlung folgender Botschaft: Es gibt keine endgültige Garantie „richtiger“ Wahrheitserkenntnis, und es kann sie nicht geben. Das ist gelegentlich beruhigend, viel öfter Anlass zu Sorge und Vorsicht, auch zu Enttäuschung.

Die vielfach berechtigte, manchmal aber auch nur Unverständnis widerspiegelnde Forderung vieler Bürger – insbesondere wenn sie Betroffene sind – nach der Erkenntnis der „wahren“ (also ihrer) Wahrheit ist verständlich, kann aber unmöglich erfüllt werden. Sie verlangt eine Gewissheit, die wir schon jahrhundertelang nicht mehr haben und auch nicht mehr haben können – nicht bloß was das Recht betrifft, mag auch die Bedeutung einzelner Hilfstatsachen (Indizien) zugleich außerordentlich gestiegen sein (beispielsweise durch die DNA-Analyse). Denn an die Stelle von „ewigen“ Beweisregeln oder starren Einordnungen des „Werts“ einzelner Tatsachen ist eine Prozesskultur getreten, welche den kommunikativen, relativen Charakter des Begriffs der „Wahrheit“ anerkennt. Die Wahrheitsgarantie hat sich daher dramatisch verlagert: Von vorrationalen materiellen Gültigkeitselementen, die eine Richtigkeitsgewähr gerade aus der Unkenntnis von Zusammenhängen schufen, hin zu formellen Elementen der Verfahrensgerechtigkeit, die mit der grundsätzlich offenen Welterkenntnis umgehen. Menschenwürde und Fairness begrenzen den Wahrheitsanspruch des Prozesses: Wir dürfen Wahrheit nicht „um jeden Preis“ erforschen, den Beschuldigten oder Zeugen nicht zum bloßen Objekt machen. Einhaltung und Fortentwicklung der Regeln, die Beteiligung, Ausgleich und Diskurs sichern, sind die Garanten einer (annähernden) Wahrheit, die es uns zuletzt erlaubt, Menschen zu bestrafen.

Bei alldem geht es auch und nicht zuletzt darum, durch das Verfahren selbst die Legitimität seines Ergebnisses herzustellen. Daher gehen der heute üblich gewordene „Empörungs-Journalismus“ vielfach an der Sache vorbei. Nicht weil er die (Straf-)Justiz wegen ihrer manchmal bornierten Blindheit gegenüber Fehlerquellen kritisiert, die zweifellos vorhanden sind. Sondern weil er ebenso oft mit einer Attitüde der Besserwisserei auftritt, die durch nichts nicht gerechtfertigt ist. Vor wenigen Tagen erst traf der Kolumnist bei einer Podiumsdiskussion über Fehlurteile im Strafrecht auf einen bekannten Journalisten, der mit empörter Gewissheit von zahllosen Fehlurteilen zu berichten wusste, deren „Falschheit“ sich allein ihm enthüllt hatte: Nach geheimen Regeln und Kriterien, oder, besonders beeindruckend, nach „gesundem Menschenverstand“. Das gilt als „kritisch“, ist es aber nicht. Denn anders als der Schimpf-Mainstream meint, setzt Kritik nicht ein laienhaftes Sich-Empören, sondern vertieftes Verständnis voraus. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Journalisten wissen, was die Wahrheit und was ein „Fehlurteil“ ist, ist ähnlich groß wie die, dass ein Sozialpädagoge die im Einzelfall beste Methode der Krebstherapie kennt.

Letzten Endes geht es im Strafprozess um die Legitimation, eine Strafe verhängen und vollstrecken zu dürfen. In allen staatlich verfassten Gesellschaften sind dafür Richter zuständig. Im Rechtsstaat sind sie unabhängig von Weisungen, unabhängig von den Parteien des Streits, (halbwegs) gelehrt und geleitet durch ein hochdifferenziertes Verfahrensrecht sowie durch eine spezifische Berufsethik. Das mag dem einen oder anderen als lächerliches „Brimborium“ erscheinen. Welche hohe Bedeutung für die Legitimität des Rechts es hat, fällt erst auf, wenn es zerfressen wurde von Korruption, politischer Willkür, ideologischer Parteilichkeit. Dann aber gibt es kaum noch ein Zurück. Deshalb sollten wir unsere (Straf)Justiz weder bewundern noch verachten, weder der Kritik entheben noch mit maßlosen Verdächtigungen überziehen. Die weitaus meisten Richter tun bei der Erkenntnis und Beurteilung der „Wahrheit“ ihr Bestes, und weit und breit ist nicht zu sehen, wer es besser könnte.

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