OLG Hamm, Beschluss vom 08. Januar 1998 – 2 Ss 1526/97 –, juris

Leitsatz

Für das Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ in StPO § 127 Abs 1 reicht es aus, wenn die Zusammenschau aller erkennbaren äußeren Umstände im Tatzeitpunkt nach der Lebenserfahrung im Urteil des Festnehmenden ohne vernünftige Zweifel den Schluß auf eine rechtswidrige Tat zuläßt.

Tenor

Das Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Schwelm zurückverwiesen.

Gründe

1
Der Angeklagten war mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hagen vom 20. Juni 1997 vorgeworfen worden, einen Ladendiebstahl begangen und sich anschließend gegen eine einschreitende Verkäuferin zur Wehr gesetzt zu haben, so daß diese verletzt wurde, §§ 223, 242, 248 a, 53 StGB.

2
Das Amtsgericht Schwelm hat die Angeklagte mit Urteil vom 9. September 1997 vom Vorwurf des Diebstahls freigesprochen und sie wegen Körperverletzung gemäß § 223 StGB zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 90,– DM verurteilt.

3
Hiergegen richtet sich die (Sprung-)Revision der Angeklagten, mit der sie die Sachrüge erhebt und ihre Freisprechung vom Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung erstrebt.

4
Die Staatsanwaltschaft hat kein Rechtsmittel eingelegt.

5
Die Generalstaatsanwaltschaft hat zur Revision der Angeklagten keinen Antrag gestellt.

6
Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet.

7
Das angefochtene Urteil unterliegt bereits deswegen der Aufhebung, weil die Urteilsgründe besorgen lassen, daß das Amtsgericht die an die Annahme des bedingten Körperverletzungsvorsatzes zu stellenden Anforderungen verkannt hat. Insoweit heißt es im angefochtenen Urteil:

8
„Die Angeklagte verletzte am 18.02.1997 um 15.00 Uhr in den Ladenräumen der Firma … in der … in … die Zeugin … am Knie, indem sie, als die den Laden verlassen wollte, die Zeugin an der Eingangstür zur Seite drückte und diese deshalb mit dem Knie gegen die Fensterscheibe der Tür stieß. Dadurch erlitt die Zeugin eine Prellung am Knie, die ihr ca. 14 Tage lang Schmerzen verursachte.

9
Die Zeugin … sollte nach Aufforderung durch den Zeugen … die Tür verschließen, um die Angeklagte zwecks Taschenkontrolle daran zu hindern, den Laden zu verlassen. Da sie keinen Schlüssel hatte, stellte sie sich in den Eingang und hielt die Tür zu.

10
Die Verletzung der Zeugin … hat die Angeklagte auch ernsthaft für möglich gehalten und sich mit diesem Risiko abgefunden. Sie wollte, darüber wütend geworden, wegen der Taschenkontrolle im Laden festgehalten zu werden, unbedingt den Laden verlassen. Dabei wußte sie, daß sie die Zeugin … verletzen konnte, wenn sie sie zur Seite stieß. Dies war für sie zumindest nicht ganz fernliegend.“

11
Diese Feststellungen legen eine Verurteilung wegen bewußt fahrlässigen Handelns aber ebenso nahe wie wegen bedingt vorsätzlicher Begehungsweise. Da diese Schuldformen nahe beieinander liegen, ergeben sich für den Tatrichter besondere Anforderungen bei der Feststellung der inneren Tatseite (vgl. Tröndle, StGB, 48. Aufl., § 15 Rdnr. 9 m. w. N.).

12
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil, das aus dem nur knapp geschilderten objektiven Tatgeschehen – „indem sie … die Zeugin … zur Seite drückte“ – den nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Schluß zieht, die Angeklagte habe die Verletzung der Zeugin ernsthaft für möglich gehalten und sich damit abgefunden, nicht gerecht. Insoweit wäre eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geboten gewesen (vgl. BGHSt 36, 10). Während besonders gefährliche bzw. intensive Gewalthandlungen die billigende Inkaufnahme einer Verletzung ohne weiteres nahelegen (vgl. BGH NStZ 1981, 23), bedarf es bei einer Tathandlung wie im vorliegenden Fall, die als bloßes Beiseite drücken geschildert wird, weiterer konkreter Angaben, beispielsweise zu der von der Angeklagten entfalteten Kraft sowie zu den Gewichts- und Kräfteverhältnissen der beteiligten Personen, damit, auch für das Revisionsgericht, die Annahme eines bedingten Vorsatzes, und nicht nur bewußter Fahrlässigkeit, nachvollziehbar erscheint.

13
Bereits dieser Begründungsmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

14
Für die neue Hauptverhandlung merkt der Senat im übrigen an:

15
Das Amtsgericht hat sich bislang, worauf auch die Revision zu Recht hinweist, nicht ausdrücklich mit der Frage des Festnahmerechts gemäß § 127 StPO befaßt. Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe spricht dafür, daß das Amtsgericht mehr oder weniger stillschweigend davon ausgegangen ist, die Zeugin sei, als sie der Angeklagten den Weg versperrt habe, in Ausübung des ihr gem. § 127 Abs. 1 StPO zustehenden Festnahmerechts gerechtfertigt gewesen.

16
Diese Frage bedarf, da die Angeklagte – mit allerdings wenig überzeugender Begründung – vom Vorwurf des Ladendiebstahls freigesprochen worden ist, im Hinblick auf das in Rechtsprechung und Literatur uneinheitlich ausgelegte Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ in § 127 Abs. 1 StPO näherer Erörterung. Während zum einen die Auffassung vertreten wird, nur wenn wirklich eine Straftat begangen worden sei, sei die Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO zulässig (vgl. KG VRS 45, 35; OLG Hamm NJW 1972, 1826 und NJW 1977, 590; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 127 Rdnr. 4 m. w. N.), geht die wohl überwiegend vertretene Meinung davon aus, daß ein dringender Tatverdacht bzw. ein anderer hoher Verdachtsgrad genügen (vgl. BGH NJW 1981, 745; BayObLG MDR 1986, 956; OLG Zweibrücken NJW 1981, 2016; KK-Boujong § 127 StPO Rdnr. 9; LR-Wendisch § 127 StPO Rdnr. 10).

17
Der Senat folgt insoweit der vom BayObLG (a. a. O.) vertretenen und ausführlich begründeten Auffassung, wonach es für das Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ ausreicht, wenn die Zusammenschau aller erkennbaren äußeren Umstände im Tatzeitpunkt nach der Lebenserfahrung im Urteil des Festnehmenden ohne vernünftige Zweifel den Schluß auf eine rechtswidrige Tat zulassen. Diese Auffassung verdient gegenüber der Gegenmeinung, die nahezu einseitig die Interessen des Tatverdächtigen in den Vordergrund stellt, den Vorzug. Ansonsten würde der Zweck des § 127 Abs. 1 StPO, die Sicherung der Strafverfolgung, unvertretbar gefährdet bzw. eingeschränkt.

18
Auf der Grundlage dessen hieße dies für den vorliegenden Fall, daß die Zeugin … dann rechtmäßig bzw. gerechtfertigt gehandelt hätte, als sie der Angeklagten das Verlassen des Geschäftslokals verwehrte, wenn sie aus ihrer Sicht ohne jeden vernünftigen Zweifel davon ausgehen durfte, daß die Angeklagte zuvor einen Ladendiebstahl begangen hatte. Der Angeklagten hätte dann kein Notwehrrecht gegen die Festnahme zugestanden. Aber auch dann, wenn sich die Zeugin … schuldlos über tatsächliche Umstände, die sie zur Festnahme berechtigten, geirrt und die Angeklagte dies erkannt hätte, wäre eine aktive, die Zeugin … durch Körperverletzung schädigende Gegenwehr bei alsbald möglicher Aufklärung des Sachverhalts keine erforderliche Verteidigung gewesen. Der Angeklagten wäre es ohne Preisgabe wesentlicher berechtigter eigener Interessen möglich gewesen, den Irrtum im Wege einer nur kurzfristigen und damit wenig belastenden Taschenkontrolle aufzuklären (vgl. BayObLG a. a. O.).