Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier (teilweise auszugsweise) einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen, oftmals auch sehr bissigen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit und Jugend oder aktuellen Beispielen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


19. Juli 2016

Die Fahrerflucht nach dem Unfall gilt als moralisch verwerflich. Dabei richtet sich die Strafdrohung gegen ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Ist sie berechtigt?

Sehr geehrte Leser!

Und ganz besonders: Sehr verehrte Senioren, liebe Jugend!

Wissen Sie, was Fahrerflucht ist? Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie jetzt mit „ja“ antworten, ist extrem hoch, denn dieses Delikt kennen die allermeisten Menschen – oder glauben es jedenfalls. Dass Fahrerflucht bestraft wird und zu bestrafen sei, dürfte eine der gesichertsten „herrschenden Meinungen“ sein, die wir im Strafrecht haben: Eher noch leuchtet dem Deutschen die Flucht nach einem Mord oder Bankraub als menschlich ein als die nach einer Ordnungswidrigkeit mit Lackschaden. In Neapel ist das, wie wir von jeher wissen, selbstverständlich anders, abgesehen davon, dass der Lackschaden bei automobilen Erzeugnissen solcher Länder zur Grundausstattung gehört.

Die große Flucht ist allgegenwärtig: Als Schicksal (Bonny and Clyde), als Aufgabe (Graf von Monte Christo), als Heimkehr (Perfect World, 1993, Regie: Clint Eastwood, mit Kevin Kostner), als Spaß (O Brother, Where Art Thou?, Coen-Brüder, USA 2000, mit Holly Hunter). Die Kleinen Fluchten sollen Sie daran erinnern, dass Sie den gleichnamigen Film von Yves Yersin (Schweiz 1979, mit Michel Robin) unbedingt sehen sollten.

Fortschritt

Früher, als der noch von jugendlicher Spannkraft beseelte Kolumnist wunderbare Automobile wie einen Fiat 500 „Weinsberg“ (Heckflosse!), 18-PS-Enten oder per Handkurbel zu startende 26-PS-Renault 4 bewegte (6 Volt), von Ford Transit, Citroën DS 19 und 21 sowie DKW F93 ganz zu schweigen (was schwerfällt), war das natürlich anders. Da rumpelte man hier und dort mal dagegen, hatte einen Karosserie-Hammer, einen Topf Spachtelmasse und einen Satz Maulschlüssel unterm Sitz und war froh, wenn der runderneuerte Radialreifen 10.000 Kilometer hielt. Auch die später folgende automobile Zivilisationsform „Atomkraft Nein Danke“ stand der Fahrerflucht im Grundsatz eher gleichgültig gegenüber: Eine Tendenz zur Materialisierung vordem rein formaler Regeln brach sich Bahn, welche die Beule im Blech nicht als naturwissenschaftliches Selbst an sich begriff, sondern eine sogenannte „Gesamtabwägung“ unterlegte, die sich in der Strafrechtsprechung bis heute erhalten hat. Die – bekanntlich ausdifferenzierte – Theorie der Gesamtabwägung lautet: Es kommt immer darauf an.

Problembezogen bedeutete das: Wer ist der Schädiger? Wie wirkt er auf mich? Hat er die notwendige gesellschaftlich progressive Einstellung (erkennbar an: Automarke, Autozustand, Autosauberkeit, Aufkleberauswahl, Frisur, allgemeines Auftreten)? Und wer bin ich? Sind spontane Solidarisierungen gegen den Konsumterror des makellosen Autolacks möglich? So mancher Fuffziger wechselte nach nächtlichen, Vino-Rosso-inspirierten Parkmanövern und dem Angebot „Okay, gib mir hundert Mark und die Sache ist gegessen“ den Eigentümer. Damals existierten Anti-AKW-Aufkleber mit 30 cm Durchmesser! Abschleifen, Rostentferner drüber, entfetten, aufkleben, mit Klarlack übersprühen: Fertig war die Karosserie-Instandsetzung.

So etwas geht heute natürlich nicht mehr. Das Automobil hat einen Entwicklungszustand erreicht, der dem roher Eier in einem Kristallpalast gleicht, mit der Außenwelt verbunden durch Bitströme unendlicher Sensibilität. Das gilt namentlich für jene Geräte, die speziell für die Büffeljagd ausgerüstet sind und dank hochgelegtem Luftfilter Wattiefen von einem Meter bewältigen.

Letzteres hat sich in der Klimalage der mitteleuropäischen Starkregensommer sehr bewährt, sodass ein gewisser Matthias Wissmann dem Vernehmen nach eine europäische Initiative „Starkregen – mir doch egal!“ gegründet hat (Erstunterzeichner die Sponsoren Daimler, BMW, Audi), die sich zur Aufgabe setzt, die Bevölkerung Bangladeschs mit der notwendigen Anzahl von GL, X5 und Q7 auszurüsten. Der Brexit hat die Beteiligung von Range Rover zweifelhaft gemacht; Hummer und Toyota planen eigene Initiativen auf der Nord-Route. Volkswagen hat sich zum Projekt nicht geäußert; der Gesamtbetriebsrat soll sich derzeit in Begleitung mehrerer Herren aus Österreich zu geheimen Gesprächen in Nordkorea aufhalten.

Nach einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen würde bereits die Vertausendfachung des SUV-Einsatzes dank des hohen Fahrzeugeigengewichts zu einer deutlichen Verdichtung des oft allzu lockeren Bodens in den südlichen Deltas von Bangladesch führen, was zum rascheren Abfließen des Wassers, daher zur früheren Neubepflanzung mit resistentem Mais und im Ergebnis zum Anstieg der Tortilla-Produktion um 840 Prozent führen würde.

Hoffnung für Millionen!

Wie auch immer: Die Berührung eines Zweieinhalb-Tonnen-SUVs an einer seiner gläsernen oder kohlenstoffenen Außenseiten führt unweigerlich zum Bersten der gesamten Heck- oder Frontschürze, was wiederum mit dem finalen Zusammenbruch der dort angebrachten Multisensorik (Nachtsichtgerät, Verkehrszeichenerkennung, Einparkautomatik, Abstandsradar) sowie in der Folge leider auch der Aufhängung des Rammschutzes führen muss. Eine Achsvermessung ist unvermeidlich; wollen wir hoffen, dass wenigstens die Reifendruckkontrolle, das ABS und das DSC es überstanden haben.

Die Strafvorschrift

Zwei Fälle

Im Normalfall (Media-Markt-Kundenparkplatz, Samstagmittag) rückwärts ausparkender Golf IV mit 63-jährigem Greis rumpelt gegen frisch gewaschenen GL, letzterer geleast. Polizeieinsatz, Ingo 1 und Ingo 2 vor Ort. Anstoßspuren nach mehrheitlicher Abstimmung (Ergebnis 3:1) sichtbar. Zwei Stunden angeregtes Gespräch, Auslastung sämtlicher Handykameras mit Höchstauflösung. Zwischendurch: Kurzvideos zur Dokumentation allfälliger Ehrverletzungen, Bedrohungen, Weinkrämpfe. Erste Vernehmungen. Ingo 1 hat 15 Uhr Feierabend.

Da unter Frontschürze des GL eine Lache von 8 cm Durchmesser festgestellt wird (fraglich: Regenwasser oder Frostschutz), vorsichtshalber Abschleppen in Vertragswerkstatt Daimler (422 €). Mietfahrzeug pro Tag 266,80 €. Gutachter (Mittwoch): Leider Gesamtlackierung erforderlich, da sonst Farbabweichung unvermeidlich. Da Anstoß vorne links erfolgte, muss die Angabe des Halters, die Absplitterung der Heckschürze sei ebenfalls auf das Unfallgeschehen zurückzuführen, „mit einem Fragezeichen versehen werden“. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Dekra. Macht 1.922 € Gutachtenkosten. Reparatur: 4.250 € zzgl. 19 %. Alles egal, alles versichert, wird alles bezahlt. Das HWS-Syndrom der innen sitzenden Schwiegermutter, die den Anstoß schlafend überstand, könnte 3.000 € Schmerzensgeld bringen.

Normalfall 2 sieht anders aus: Autofahrer A, nachts, Audi A 6, 1,4 Promille, unterwegs von Dinkelsbühl nach Neuendettelsau. Radfahrer B, nüchtern, beleuchtet, am rechten Rand fahrend. Streifende Berührung von hinten links, Radfahrer stürzt mit 25 km/h (Folgen: Bruch linker Unterarm, Prellungen Schulter, Abschürfungen Hüfte, Bein, Arm, Hände. Defekt: Karbonrahmen Fahrrad, Helm, Hose, Jacke. Sachschaden 2.500 €; Heilungskosten 1.800 €). Autofahrer A bremst kurz ab, sieht im Rückspiegel, dass B wieder aufsteht, fährt weg.

Im Fall 1 werden Sie sagen: Was soll’s? Gartenzwergfetischisten unter sich. Im Fall 2 werden fast alle einig sein: Sauerei! Gehört bestraft. Dazwischen, und darüber hinaus, und in rätselhafter Ferne, steht Paragraf 142 unseres Strafgesetzbuchs. Er lautet:

Die Strafvorschrift

Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort

(1) Ein Unfallbeteiligter, der sich nach einem Unfall im Straßenverkehr vom Unfallort entfernt, bevor er

1. zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglicht hat oder

2. eine nach den Umständen angemessene Zeit gewartet hat, ohne dass jemand bereit war, die Feststellungen zu treffen,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Nach Absatz 1 wird auch ein Unfallbeteiligter bestraft, der sich

1. nach Ablauf der Wartefrist (Absatz 1 Nr. 2) oder

2. berechtigt oder entschuldigt

vom Unfallort entfernt hat und die Feststellungen nicht unverzüglich nachträglich ermöglicht.

(3) Der Verpflichtung, die Feststellungen nachträglich zu ermöglichen, genügt der Unfallbeteiligte, wenn er den Berechtigten (Absatz 1 Nr. 1) oder einer nahe gelegenen Polizeidienststelle mitteilt, das er an dem Unfall beteiligt gewesen ist, und wenn er seine Anschrift, seinen Aufenthalt sowie das Kennzeichen und den Standort seines Fahrzeugs angibt und dieses zu unverzüglichen Feststellungen für eine ihm zumutbare Zeit zur Verfügung hält. Dies gilt nicht, wenn er durch sein Verhalten die Feststellungen absichtlich vereitelt.

(4) Das Gericht mildert in den Fällen der Absätze 1 und 2 die Strafe (§ 49 Abs. 1) oder kann von Strafe nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Unfallbeteiligte innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach einem Unfall außerhalb des fließenden Verkehrs, der ausschließlich nicht bedeutenden Sachschaden zur Folge hat, freiwillig die Feststellungen nachträglich ermöglicht (Absatz 3).

(5) Unfallbeteiligter ist jeder, dessen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann.

Die Vorschrift (bitte lesen Sie heute zunächst nur die Absätze eins und zwei!) klingt im Ansatz vernünftig. Trotzdem versteht sie sich keineswegs von selbst. Sie gehört auch nicht zum Kanon an Vorschriften, von denen man annimmt, sie seien „immer schon“ da gewesen (wie die Vorschriften über Tötung, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung). Das ergibt sich schon daraus, dass Abs. 1 einen „Straßenverkehr“ voraussetzt. Selbst mit viel Fantasie wird man nicht annehmen, damit seien schon Ötzis Alpensteige oder die Ochsengespanne des 17. Jahrhunderts gemeint gewesen.

Andererseits: Gilt Paragraf 142 auch für Fußgänger auf der Königsallee, die sich gegenseitig beim Zusammenprall mit köstlichem Vanilleeis vollkleckern oder die güldenen Sonnenbrillen herunterrempeln? Dagegen spricht Abs. 1 Nr. 1: Angabe „seines Fahrzeugs“; dafür spricht die „ratio legis“ – der Sinn des Gesetzes.

Juristerei ist reine Kunst

Sinn des Gesetzes

Was ist das? Die „ratio legis“ ist eine der spannendsten Auslegungsorientierungen des (Straf-)Rechts. „Auslegung“ bedeutet hier: Textverständnis; platt gesagt: Was bedeuten die Worte, welche Sachverhalte erfassen sie, welche nicht? Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz schreibt vor, dass nur solche Verhaltensweisen strafbar sind, die durch ein förmliches Gesetz ausdrücklich verboten sind. Also muss man wissen, was die Worte des Gesetzes meinen, wenn sie Merkmale einhalten wie „Unfall“, „Straßenverkehr“ oder „Fahrzeug“.

Das ergibt sich keineswegs von allein, obwohl viele Menschen dies glauben. Sie denken, zuerst seien die Worte da gewesen, dann die Wirklichkeit. Gewisse abergläubische Missverständnisse unterstützen dies, indem sie behaupten, „am Anfang“ sei „das Wort“ gewesen. Solche Auffassungen kommen aus den rührenden Tiefen biografischer Erfahrung: Wir alle lernten die Welt kennen, indem wir die Worte aussprachen, die sie für uns und andere beschreiben. Indem wir „Baum“ zum Baum sagten, eigneten wir ihn uns an. Wenn ein Zweijähriger zu seinem Dreirad „Auto“ sagt, ist das witzig. Ein Zehnjähriger, der sein Fahrrad als „Auto“ bezeichnet, gilt als therapiebedürftig.

Juristen lesen Worte in Gesetzen nicht wie ungefähre Umschreibungen eines vorläufigen Gefühls von der Bedeutung eines autobiografisch noch nicht abschließend geklärten Ereignisses. Sie lesen sie eher wie fremdsprachige Begriffe: Was „bedeutet“ das? Stellen Sie sich, verehrte Gymnasiasten, dies vor wie eine deutsch-lateinische Übersetzung, nur mit deutlich mehr Interesse am Ergebnis: Wie viele lateinische Verben gibt es zum Beispiel, die „beachten, beobachten, betrachten, anschauen“ bedeuten können? Und wie viele Nebenbedeutungen gibt es? Ist „adspectare“ dasselbe wie „tueri“? Natürlich nicht. Kein Mensch käme im Sudan auf die Idee, das Wort „Brot“ bezeichne einen dunkelbraun gebackenen Klumpen durchgebackenes Dinkelmehl mit Natursauerteig, Sojasprossen und Sonnenblumenkernen.

So ist das mit der Auslegung: kein Spaß, keine Willkür, aber mit vielen offenen Fenstern dorthin und zu den Lebenswelten. Wer von der Methode keine Ahnung hat und trotzdem herumkräht, ist albern. Wer von der Methode weiß, aber immer nur im Kreis läuft, kommt nirgendwo an.

Neben der „grammatischen“, der „systematischen“ und der „historischen“ kennen wir die „teleologische“ Auslegung, das heißt: die aufs „Ziel“ abstellende. Sie fragt: Was will der Gesetzgeber? Mehr als die anderen Auslegungsmethoden ist diese wiederum von „Gesamtwertungen“, Vor-Einstellungen, Weltverständnissen, Persönlichkeit und Erfahrung des Auslegenden abhängig. Juristerei, liebe Leser, ist reine Kunst. Sie weiß es nur nicht.

Klar ist: Ein Skateboard ist kein „Kraftfahrzeug“. Aber ist es ein „Fahrzeug“ im Sinne von Paragraf 142? Sind „Rollschuhe“ Fahrzeuge? Bobby-Cars? Ferngesteuerte Miniatur-Autos? Was heißt überhaupt „Fahrzeug“? Man kann all diese Fragen langweilig finden, weil man nicht Rollschuh, sondern nur Mountainbike fährt. Aber man sollte nicht meinen, diejenigen, die über so etwas nachdenken, seien langweilige Idioten – jedenfalls nicht, solange man es selbst für normal hält, zwölf Stunden am Tag darüber nachzusinnen, welche Upgrade-Version welches Programms eine um wie viel Prozent höhere Performance zur Darstellung der Vertriebsergebnisse von SUVs in Myanmar liefern könnte.

Es hält sich das Gerücht, Paragraf 142 atme nationalsozialistischen Geist. Das stimmt nur in sehr beschränktem Maße. Eine Vorläufervorschrift wurde schon 1909 eingeführt (Paragraf 22 Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen), denn die Strafbarkeitslücke schien offenkundig: Mit ungeheurer Geschwindigkeit dahinrasende Automobile sorgten auf Land- und Ortsstraßen für Chaos und entschwanden im Nebel von Kennzeichenlosigkeit, Straßenstaub und Auspuffgasen. Im April 1940 wurde die Vorschrift als Paragraf 139a ins Strafgesetzbuch übernommen; schon damals hatte sie große Ähnlichkeit mit dem heutigen Absatz 1; seit 1953 hat sie die Nummer 142. Im Jahr 1998 wurde in Abs. 4 eine Regelung über „Tätige Reue“ eingeführt. Näheres dazu unten.

Manchmal überschneiden sich die Rechte und Pflichten

Rechte und Pflichten

Das Strafgesetz ist dazu da, den Bürgern vorab – und für jeden, der es will, vorhersehbar – zu sagen, was erlaubt ist und was nicht. Grund: Der Bürger ist klein, schwach und vergänglich, der Staat aber groß, mächtig und ewig. Dem Staat ist es im Grundsatz egal, ob sein Bürger Hugo oder Heino heißt, ob er sensibel oder robust, einsichtig oder widerspenstig, enttäuscht oder begeistert ist: Hauptsache, er hält sich an die Regeln; den Rest kann er abends im Bettchen besprechen, mit wem er will.

Manchmal aber überschneiden sich die Rechte und Pflichten auf merkwürdige Weise: Haben wir je gehört, ein Mensch, der eine andere Sache als das Auto beschädigt habe, sei bei Androhung von Freiheitsstrafe (!) bis zu drei Jahren (!) dazu verpflichtet, am Ort des Geschehens zu verweilen und sich damit selbst ans Messer der (Straf-)Justiz zu liefern? Muss man, wenn man einen Wackerstein aus dem Küchenfenster wirft und bald danach einen Schmerzensschrei vernimmt, alsbald bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle anrufen und sich als möglicher (!) Beteiligter an einem tragischen Wackerstein-Geschehen zu erkennen geben?

Nemo tenetur!, ruft der nachgeborene Römer der Neuzeit (während der echte über solcherlei Verweichlichung den Kopf geschüttelt hätte), und meint damit: se ipse accusare. Übersetzt: Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu beschuldigen, quasi Beweismittel gegen sich selbst zu sein, an der eigenen Überführung und Bestrafung mitzuwirken. Weder aus moralischen noch aus sonstigen Gründen.

„Nemo tenetur!“ Daher muss ein Beschuldigter keineswegs, wie es uns der Kriminalfilm notorisch suggeriert, „mit aufs Präsidium kommen“, sein „Alibi nachweisen“ und „endlich die Wahrheit sagen“. Er muss auch nicht mit dem Kommissar stundenlang Auto fahren und ihm glauben, dass er das alles total gut meint, weil kaum hat der Täter gestanden, wird es ihm viel besser gehen, weil doch dann dieser schreckliche Druck von ihm abfällt, insbesondere wenn er weiblich ist und schon wieder diesen schrecklichen Mord begangen hat, wo am Ende keiner weiß: Ja ist sie jetzt ein Biest, oder doch nur ein armes Opfer der Hähnchenmastmafia, oder was? Die Kommissarinnen und Kommissare wissen es ja und sind schon ganz zerfurcht und fragen: Also, mein Gott, was wollen Sie denn jetzt noch mit einem Verteidiger? Dann schauen sie wieder über den Bodensee oder über den Parkplatz vor dem Präsidium, während Klaus Doldingers sensibles Altsaxofon uns hinaushebt …

Im Fernsehen kommt es also auf den Nemo-Tenetur-Grundsatz, auf dem die professionellen Prozessverschlepper so gern herumhacken, in der Regel nicht an, weil sonst den Kommissaren Schenk oder Eisner, die ja auch nur Menschen sind, der Geduldsfaden reißen würde, zumal die Sache bis 21.45 Uhr ein Ende haben muss und andernfalls der Kommissar gezwungen wäre, eine wirklich schwere Straftat zu begehen – zum Beispiel Aussageerpressung oder Freiheitsberaubung oder Bedrohung oder sogar eine Nötigung.

In der Wirklichkeit unseres Staates findet das natürlich nicht statt, denn es ist verboten. Dahinter verbirgt sich übrigens ein Wunder ganz am Rande des StGB: Alle Straftatbestände stehen dort, weil sie in der Wirklichkeit häufig vorkommen und bekämpft werden müssen. Nur die Amtsdelikte, besonders die Straftatbestände gegen Rechtsbeugung, Verfolgung Unschuldiger und Freiheitsberaubung im Amt haben eine ganz andere Funktion: Sie sind dort aufgeführt, weil sie eigentlich nie vorkommen, also sozusagen aus musealen Gründen.

Insgesamt ist das also so eine Sache mit dem Nemo-Tenetur-Grundsatz: Auf sich selbst angewendet findet man ihn in der Regel ziemlich gut, beim amtsbekannten Drecksack von nebenan aber so was von ungerecht, dass man sich nur wundern kann.

Nehmen wir die kürzlich an dieser Stelle behandelte Vorbereitung eines Versicherungsbetrugs, Paragraf 266a Strafgesetzbuch: Beschwingt von den Katastrophenmeldungen des Tages, beschließen Sie, die Glasbruchversicherung habe nun einmal wieder genug „Versicherungspaläste“ errichtet und die Vertriebsabteilung auf Ihre Kosten ausreichend provisionsgestützten Urlaub gemacht bei brasilianischen Priesterinnen der Liebe. Also zerdeppern Sie die wertvolle Vase Ihrer Großtante, vergraben die Scherben im Garten und schreiben einen Brief an den sehr geehrten Herrn Kaiser von der Dingsbums-Versicherung, dass beim letzten Sommergewitter etwas Schreckliches in ihrem Wohnzimmer passiert sei …

Wie Sie hoffentlich noch wissen, haben Sie sich damit vollendet schuldig gemacht: Versicherungsmissbrauch, Paragraf 265 Strafgesetzbuch, lässt Sie dafür mit drei Jahren Freiheitsstrafe davonkommen, (selbst) wenn Sie den Brief an Herrn Kaiser nicht einmal abschicken.

Was aber hielten Sie nun von folgendem Absatz 3 des Paragraf 265:

Unterlässt es der Täter des Absatz 1, binnen 7 Tagen nach Vollendung der Tat bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle anzuzeigen, dass die versicherte Sache untergegangen, beschädigt, in ihrer Brauchbarkeit beeinträchtigt oder beiseite geschafft wurde, so wird er mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Da würden natürlich die Rechtsstaatfreunde meckern: „Nemo-Tenetur-Grundsatz verletzt!“ Ruhigere Gemüter würden sagen: Mitnichten. Die Vorschrift schreibt nicht vor, die eigene Täterschaft zu enthüllen, sondern nur, die Beschädigung der Sache anzuzeigen. Und das ist nach der überragenden Schutzrichtung des Gesetzes, die Solidargemeinschaften vor massenhafter betrügerischer Inanspruchnahme schon im Vorfeld zu schützen, verhältnismäßig und ausgewogen. Die Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte der Strafprozessordnung bleiben gänzlich unberührt!

Ziele und Lücken

Schwierig, gell? Erzählen Sie mir bloß nicht, das Ergebnis sei Ihnen a) glasklar, oder b) total egal. Vergleichen Sie die fiktive Regelung mit der tatsächlichen Regelung des Paragrafen 142 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 2, auch in Verbindung mit Abs. 3!

Seit vielen Jahren wird in der Strafrechtswissenschaft kritisiert, Paragraf 142 blase eine zivilrechtliche Pflicht eines (möglichen!) Schädigers in unverhältnismäßiger Weise zum kriminellen Delikt auf, obwohl hierfür gar keine besondere Berechtigung mehr bestehe. Dem Bürger ist diese Kritik nur schwer zu vermitteln, da für die meisten Menschen Moral und (Straf-)Recht in eins fließen und das Entfernen vom Unfallort, um sich der Verantwortung zu entziehen, auf jeden Fall als menschliche Sauerei gilt (wenn nicht Besonderheiten vorliegen).

Aber die von vornherein Überzeugten muss man fragen: Warum eigentlich nur beim „Straßenverkehr“? Ist das nicht eine rührend veraltete Vorschrift, die auf ein Oldtimerszenario des Jahres 1909 abstellt, welches heute von ganz anderen Horrorszenarien längst überholt ist? Warum kein strafbewehrtes Feststellungsgebot im Luftverkehr? Im Datenverkehr? Bei Unfällen im Zahlungsverkehr, bei Heilbehandlungen, Arzneimittelschäden, Produkthaftungsrecht?

Mit anderen Worten: Ist es gerechtfertigt, aus all den „anonymisierten“ Gefahrenlagen des Lebens, für die im Jahr 1909 der „Straßenverkehr“ als herausragendes Beispiel stand, auch 110 Jahre später noch immer einen kleinen Bereich herauszuheben und einer problematischen Selbst-Offenbarungspflicht zu unterlegen, während zahllose andere (Groß-)Gefahren davon ausgenommen bleiben?

Ziele und Lücken

Man ist sich heute einig, dass Paragraf 142 nicht „das staatliche Interesse an der Strafverfolgung“ schützt. Das wäre nämlich verfassungswidrig, weil es nicht allein „die Wahrheit“ oder die „Fehlerfreiheit des Verfahrens“ zum Gegenstand hätte, sondern tatsächlich die Bestrafung des „Täters“ – Bestrafung für mögliche Delikte, die er beim „Unfall im Straßenverkehr“ begangen hat. Das können viele sein: von der Trunkenheit im Verkehr (Paragraf 316 StGB) über die Straßenverkehrsgefährdung (Paragraf 315c), Nötigung (Paragraf 240) und Körperverletzung (Paragraf 223, 229) bis zur fahrlässigen (Paragraf 222) oder vorsätzlichen (Paragraf 212) Tötung. Niemand kann aber – bei Androhung selbständiger Strafe! – gesetzlich verpflichtet sein, sich selbst wegen einer dieser (oder einer anderen) Straftaten anzuzeigen. Allenfalls kann man ihm bei einer Selbstanzeige Vergünstigungen versprechen.

Legitimes (!) Schutzgut des Paragrafen 142 ist daher allein das Vermögensinteresse des potenziell Geschädigten, mittelbar seiner Versicherung, höchst mittelbar der Versicherungswirtschaft im Allgemeinen.

Von dieser Auslegung (siehe oben) des Gesetzeswortlauts gelangt man zu einer Aussage darüber, was überhaupt gemeint ist. Darüber und über viele interessante Verästelungen dieser scheinbar einfachen und selbstverständlichen Vorschrift berichte ich Ihnen beim nächsten Mal.

Disclaimer: Ich bin gewiss, dass diejenigen unter den Leser­_innen, die gern wieder etwas Neues über das Sexualstrafrecht gehört, gesagt, kommentiert und klargestellt hätten, allerhand Anregungen hierzu auch aus Paragraf 142 StGB schöpfen können. Für den Notfall assoziativer Leere empfehle ich: Crash (1996, Regie: David Cronenberg, mit Holly Hunter).