Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


 

Amnesty International fordert die weltweite Legalisierung der Prostitution. Die deutsche Moralgemeinde ist verwirrt – sie war gerade auf dem Weg in die Gegenrichtung.

18. August 2015, 13:21 Uhr

Lieber Leser,

heute zum Einstieg mal ein paar Fragen von Mann zu Mann. Der Grund dafür, dass ich an dieser Stelle 50,2 Prozent unserer Bevölkerung ignoriere, liegt – das versteht sich – nicht in den Tiefen meines Frauenbilds, sondern einfach an der Realität. Zur Leserin komme ich später.

Zur Sache: Was erwarten Sie von einem gelungenen Prostituierten-Besuch? Suchen Sie vor dem Akt eine gepflegte Unterhaltung – etwa über die häuslichen Lebensbedingungen, die Art der Schulbildung, den Beruf des Lebensgefährten? Achten Sie auf überschminkte blaue Flecke? Erkundigen Sie sich nach der Länge der Schicht und den Weisungen des Betreibers?

Da kommt der ZEIT-Leser nun ein bisschen ins Hüsteln, und wird „äh, nun ja“ sagen, das P-Wort sei ihm durchaus geläufig, da doch bereits im alten Rom die sogenannte öffentliche Frau eine hoch angesehene Rolle innegehabt habe … bla, bla. Dann wird er um sich blicken, ob vielleicht die Mama mithört oder – noch schlimmer – die Allerliebste, und dann wird es zu merkwürdigen Bekenntnissen und Wertungen kommen – schwer glaubhaft, kaum originell, intellektuell an der unteren Grenze. Er habe nur ein einziges Mal mit einer Prostituierten verkehrt, vor vielen Jahren (am besten: als Jugendlicher). Es sei gar nicht schön gewesen. Er fahre nur ganz zufällig ab und zu den Umweg über den Straßenstrich, weil dort in der Nähe eine günstige Tankstelle liegt. Er kenne auch eine Prostituierte, von früher, oder habe einmal eine gekannt. Es ist erstaunlich, wie viele Männer platonische Beziehungen zu Prostituierten zu unterhalten behaupten, und wie wenige es zu geschäftlichen Kontakten kommen lassen.

Wer an einem ganz normalen Freitag den Eingang eines ganz normalen Laufhauses in Frankfurt beobachtet, dem drängt sich der Eindruck auf, dass die meisten Einlassungen gelogen sein könnten.

Vergangene Woche durften wir wieder einmal gespannt der medialen Bebilderung des Themas „Prostitution“ entgegensehen, nachdem am 11. August eine internationale Konferenz von Amnesty International einen bemerkenswerten Beschluss gefasst hatte. Und wir wurden nicht enttäuscht: natürlich die rötlichen Bilder vom Straßenstrich auf allen Kanälen und Magazin-Seiten, gern auch künstlerisch durch die High Heels schräg nach oben aufgenommen; fast nackte Mädels, bereit zu allem, in Autofenster gebeugt. Auf solche Weise angeregt, vertieft sich der Leser/Zuschauer ins „Elend der Zwangsprostituierten“, einem Wesen, das er aus der Emma und dem Tatort kennt, persönlich aber noch nie gesehen hat. Zwangsprostituierte sind Personen, die mit nötigenden Mitteln oder mit List zur Prostitution gezwungen oder gegen ihren Willen dort festgehalten werden, also Opfer des sogenannten „Menschenhandels“ (Paragraf 232 Strafgesetzbuch). Der Begriff Menschenhandel ist irreführend, denn der Tatbestand stellt den eigentlichen „Handel“ mit Menschen gar nicht unter Strafe.

Für das Jahr 2014 weist die Polizeiliche Kriminalstatistik gerade einmal 500 Verdachts(!)-Fälle von Menschenhandel in Deutschland aus. Das „Dunkelfeld“ wird von sogenannten Fachleuten oft als gigantisch bezeichnet. Wenn das stimmte, wäre es freilich ein echtes Wunder, dass die Population der Zwangsprostituierten den unermüdlichen Befreiungsangeboten von Polizei und Beratungsstellen beinahe unerkannt zu entkommen scheint. Das könnte allerlei Gründe haben, dass auch hier ein Zwang wirkt, ist nicht ganz unplausibel, aber zirkelschlüssig (je weniger man sieht, desto mehr ist da). Tatsächlich wird die Dramatik aufgebauscht.

Das gilt auch für Behauptungen wie die, in Deutschland arbeiteten 400.000 Prostituierte, oder 1,2 Millionen Männer täglich (!) suchten Prostituierte auf. Diese Zahlen werden von Medium zu Medium weitergereicht und dabei jedes Mal ein bisschen nach oben abgerundet. Wer sie ermittelt hat, ist kaum festzustellen – geprüft sind sie nicht. Das gilt übrigens auch für die Zahl der männlichen Prostituierten. Die Bundesregierung erklärte im Jahr 2014 zu alldem zutreffend, verlässliche Zahlen lägen nicht vor.

Legendär ist die Prophezeiung der versammelten deutschen Medienlandschaft im Jahr 2006, an den Grenzen Deutschlands stünden 40.000 Zwangsprostituierte (!) bereit, um illegal nach Deutschland gebracht und hier von ausländischen (was sonst?) Zuhälterbanden in zwangskasernierter Form den Besuchern der Fußballweltmeisterschaft zugeführt zu werden. Tatsächlich registrierte die Polizei dann einen leichten Anstieg von Prostituierten – wie auch zu Messezeiten üblich. Von Zwangsprostituierten auch diesmal keine Spur. Im Jahr 2014 wurden in denselben Medien dann wochenlang die Qualitäten und Vorbereitungen der besonders empfehlenswerten brasilianischen Prostituierten auf das große Ereignis diskutiert.

Ist freiwillige Prostitution unmoralisch?
Rechtslage I

Seit 2002 gilt in Deutschland das Prostitutionsgesetz (ProstG). Es war ein besonders wichtiges Anliegen der rot-grünen Koalition von 1998 und sollte aus Sicht des grünen Koalitionspartners ein Zeichen setzen für die Öffnung der Politik gegenüber sogenannten Minderheiten oder Randgruppen und für eine tabufreie(re) Liberalisierung der Gesellschaft im Aufbruch nach 16 Jahren kohlscher Breitgesäßigkeit. Das Gesetz regelte nicht, wie viele meinen, die grundsätzliche Erlaubtheit von Prostitution; die war auch zuvor schon gegeben. Es regelt vielmehr zunächst eine „Normalität“ von Prostitution in dem Sinn, dass sie anderen höchstpersönlichen Dienstleistungen rechtlich gleichgestellt oder angenähert wird: Der Vertrag, den eine Prostituierte mit einem Freier schließt, ist rechtlich wirksam, wenn die Dienstleistung tatsächlich erbracht wird. Das heißt: Der Freier kann die Erfüllung der Dienstleistung nicht einklagen. Die Prostituierte aber kann das Entgelt einklagen, wenn sie die Leistung erbracht hat.

Da schmunzelt der geübte Freier, und die 22-jährige Ukrainerin auf dem Straßenstrich wundert sich. Beide haben von derlei neumodischen Techniken noch nichts gehört, und auch das Amtsgericht kann sich nicht erinnern an eine Klageflut der örtlichen „Lady Tamara“. Hier wie dort wird im Voraus bezahlt wie immer, der Rest verläuft nach den Regeln der aktuell geltenden Machtverhältnisse. Es ist also gekommen, wie viele Kritiker des Gesetzes – freilich mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen – prophezeiten: Die Wirklichkeit der Prostitution, auch in Deutschland, wurde von den romantischen Vorstellungen einiger Hundert Sozialpädagoginnen und Vorzeige-„Sexarbeiterinnen“ mit Ambition zu Höherem insoweit nicht spürbar beeinflusst.

Ähnlich war es mit einem weiteren Anliegen des ProstG, nämlich der Öffnung der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme für Prostituierte. Nur eine verschwindende Minderheit von ihnen nutzt diese Möglichkeit – sei es aus Scham oder, um ihre Tätigkeit nicht „aktenkundig“ zu machen; sei es, weil das Prinzip „brutto für netto“ obsiegt, also die Zahlung von Steuern und Sozialabgaben verhindert werden soll; sei es, weil die Tätigkeit nur zeitweise oder vorübergehend oder bei Gelegenheit ausgeübt wird.

Das dritte Anliegen des Gesetzes, die Legalisierung der „Förderung der Prostitution“ durch das Betreiben von Bordellen oder Lokalitäten zur Anbahnung, hatte dagegen durchaus erhebliche Auswirkungen auf die Praxis. Die Beurteilung dieser Wirkungen geht bekanntlich weit auseinander: Manche meinen, die Macht der Bordellbetreiber und mittelbar auch der „Zuhälter“ sei gestärkt worden; andere behaupten das gerade Gegenteil. Die Polizei beklagt eine Beschränkung ihrer Kontrollmöglichkeiten. Denn Prostitutionsbetriebe sind nach der Konzeption des Gesetzes nicht mehr ohne Weiteres Orte permanenter „Gefahr im Verzug“; und das bloße Betreiben eines entsprechenden Betriebs ist auch dann nicht strafbar, wenn es die Prostitution „fördert“. Vielmehr können Betreiber und Prostituierte ganz normale (sozialversicherungspflichtige) Arbeitsverträge abschließen, einschließlich eines gewissen (!) Weisungsrechts des Arbeitgebers (Arbeitszeiten, Arbeitskleidung, bestimmte Grundregeln des Geschäfts, keine Drogen oder Alkohol, nicht aber Pflicht zur konkreten Dienstleistung).

Die Polizei hat schon immer ein hohes Interesse an allem, was mit dem sogenannten „Rotlicht“ zusammenhängt. Das hat viele Gründe, unter denen historisch auch solche der sozialen Nähe waren, wie zwischen den „Schließern“ alter Art und den Gefangenen. In der Prostitutionsszene laufen viele Ströme der klassischen „Unterschichtskriminalität“ zusammen und produzieren Informationen, Zugriffsmöglichkeiten und Abhängigkeiten. „Sitten“-Dezernate der Polizei funktionieren daher oft ähnlich wie Rauschgift-Dezernate; und gelegentlich verschwimmen die Grenzen.

Die Verbitterung der Polizei wird unterstützt von einer breiten konservativen Stimmung, der „die ganze Richtung“ seit jeher nicht passt und die seit Langem die Regelungen des ProstG möglichst weit zurücknehmen will. Hier begegnen uns merkwürdige Koalitionen: Aus mancher Zeitung, die wir seit Jahrzehnten als bewährte Freundin der gemeinen Geilheit und noch schnelleren Nummer kennen, blickt uns, direkt neben dem Foto eines mehr oder minder heißen Gesäßes auf 16-Zentimeter-High Heels, drohend Frau Alice Schwarzer an, Oberpriesterin für Moral. Das Aussprechen des Begriffs „Flatrate-Bordell“ bringt bekannte deutsche Innenpolitiker beim morgendlichen Acht-Uhr-Interview zum Würgen. Ob sie immer wissen, was gemeint ist, bleibt auch nach dem Interview fraglich. Die Bundeskanzlerin hat sich zur Strafbarkeit des Freiers noch nicht geäußert. Vermutlich kennt sie in ihrem beruflichen Umfeld – neben Silvio, einem Giganten der freien italienischen Presse, und Dominique, dem unermüdlichen Freund viriler Währungen – noch den einen oder anderen Kandidaten und hält sich vorerst zurück.

Seit Jahren wird in der Regierungskoalition um „Verschärfungsgesetze“ gefeilscht. Derzeitiger Stand: Planung eines „Prostituiertenschutzgesetzes“, das eine Anmeldepflicht und ärztliche Beratungspflicht für Prostituierte vorsieht; für Betreiber von Prostitutionsbetrieben eine (erweiterte) Zuverlässigkeitsprüfung und eine Erlaubnispflicht, die eine umfassende Steuerung durch die Polizeibehörden ermöglicht. Außerdem soll es eine bußgeldbewehrte Kondompflicht „für Freier“ geben (ob dem Gesetzgeber noch rechtzeitig die Kondompflicht für männliche Prostituierte einfallen wird, bleibt abzuwarten). Die Begründung für Letztere ist rührend: Der Hinweis auf die Geldbuße erleichtere Prostituierten die Ablehnung des Wunsches nach kondomfreiem Geschlechtsverkehr. Da wächst in der unermesslichen Fantasie des Ministerialbeamten zwischen osteuropäischer Elendsprostitution und deutscher Gesetzestreue zusammen, was zusammen gehört. Planungen für das Strafgesetzbuch: Strafbarkeit der Freier von Menschenhandelsopfern.

Moral

Ist freiwillige Prostitution unmoralisch? Die Schnulze sagt: Nein (siehe Irma la Douce mit Shirley McLaine; Pretty Woman mit Julia Roberts; Asphalt-Cowboy mit Jon Voight). Unsere Rechtsprechung weiß es noch immer nicht ganz genau; solche Sachen brauchen halt. Die „herrschende Meinung“ kämpft ein Rückzugsgefecht um die Position der sogenannten „Sittenwidrigkeit“. Dies ist ein Begriff aus Paragraf 138 Bürgerliches Gesetzbuch: Sittenwidrige Geschäfte sind nichtig. Auf dieser Grundlage hat man jahrzehntelang den Anspruch von Prostituierten auf Entgelt für „nichtig“ gehalten – was zwingend dazu führte, dass diese auf Vorkasse bestanden. Seit Inkrafttreten des ProstG funktioniert diese Konstruktion nicht mehr. Trotzdem halten die Gerichte teilweise an der „Sittenwidrigkeit“ des Geschäfts fest (mit der erstaunlichen Konstruktion: „rechtswirksam, aber sittenwidrig“).

Für das Strafrecht interessant ist die Frage, was passiert, wenn Prostituierte und Freier einander betrügen (oder nötigen): Nach herrschender Meinung ist der Freier betrogen (im Sinn von Paragraf 263 Strafgesetzbuch), wenn die Prostituierte nach Zahlung des „guten Gelds“ nichts leistet. Umgekehrt soll die Prostituierte aber nicht betrogen sein, wenn der Freier mit Falschgeld zahlt: Denn ihre Leistung ist ja „sittenwidrig“ und daher nichts wert. Das ist eine grob unbillige Konstruktion, die auch die gesetzlichen Wertungen des ProstG auf den Kopf stellt. Richtig wäre: Der mit Falschgeld bezahlende Freier ist wegen Betrugs zu bestrafen. Entsprechendes gilt auch für alle Fälle des Zwangs: Wer als Freier eine Prostituierte zur (kostenlosen) Leistung nötigt, begeht nicht nur eine sexuelle Nötigung (oder Vergewaltigung), sondern obendrein eine (räuberische) Erpressung.

Bei dieser Gelegenheit gleich noch ein Fettnäpfchen: Nach Ansicht des Kolumnisten – anders ein oder zwei Strafsenate des Bundesgerichtshofs – ändert die Tätigkeit einer Person als Prostituierte nicht das Geringste an ihrer sexuellen Selbstbestimmung. Dass jemand gegen Entgelt bereit ist, sexuelle Handlungen zu vollziehen, ändert nichts daran, dass sie/er genötigt (vergewaltigt) wird, wenn sie/er dazu gezwungen wird, dieselben Handlungen ohne Entgelt auszuführen. Merke: Dass die Dame höheren Standes geneigt sein könnte, nach Überreichung eines güldenen Ringleins oder nach einem Shopping-Besuch bei Prada ihre Jungfräulichkeit für heute zu überdenken, hat noch nie etwas daran geändert, dass sie „vergewaltigt“ ist, wenn der Galan das Ringlein auf morgen verschiebt und die Gegenleistung heute schon mit Gewalt durchsetzt.

Wie sieht es eigentlich mit der Reichtumsprostitution aus?
Entrüstungen

„Deutschland ist das Bordell Europas geworden“, tönen Bild und Panorama, Süddeutsche und Welt unisono. Hinten, unter „Personalien“, lesen wir gern das Neueste von Ruby, der nordafrikanischen armutsflüchtenden Prinzessin mit den schönen Augen: dass sie eine eigene Wäschemarke designt oder beim Opernball war oder Yorkshire Terrier liebt. Wie das Leben halt so ist! Wie viele Kosmetikverkäuferinnen oder Friseurinnen oder Rezeptionistinnen in Deutschland würden wohl gerne mit Ruby tauschen, Bunga Bunga inklusive?

Das Bordell „Europas“! Was sagen uns diese Worte? Margot Käßmann, einer Spezialistin für wirklich Abgründiges, fiel dazu in Bild am Sonntag immerhin das Wort „Blowjob“ ein; sodann allerdings nur noch Epheser 5,28. Beides führte die Diskussion nicht wirklich weiter.

Panorama ließ einen leitenden Kriminaldirektor B aus Augsburg schon 2011 ausrufen: „Deutschland ist zum Eldorado für Zuhälter und Bordellbetreiber geworden. Laut Gesetz dürfen sie den Prostituierten sogar Anweisungen erteilen. Und wir als Polizei können nur zuschauen.“ Der letzte Satz ist dem Kriminaldirektor bestimmt nur so rausgerutscht.

Ansonsten erfährt man, wenn man dem Begriffspfad „Bordell Europas“ folgt, nicht sehr viel Erhellendes: dass die Mehrzahl der in Deutschland arbeitenden Prostituierten aus dem Ausland kommen – aber das ist schon seit Jahrzehnten so. Dass der kriminalisierte Freier aus Stockholm hunderttausendfach auf der Reeperbahn oder in den Dominastudios von Flensburg einfällt, wurde nicht beobachtet. Es bleibt ein ungutes Gefühl. Ist „Bordell Europas“ etwas Schlimmes? Ist es schlimmer als, „die Rasernation Europas“ oder „der Moralapostel Europas“ oder „der Zuchtmeister Europas“ oder „die Waffenschmiede Europas“ zu sein?

Tatsache ist: Es gibt in Deutschland Menschenhandel, ausbeuterische und dirigistische Zuhälterei in nicht geringem, aber im Einzelnen unbekannten Ausmaß. Es gibt immer wieder Entführungen oder durch Täuschung (Stichwort Arbeitsplatzversprechen) herbeigeführte Einreisen von Ausländerinnen, die in Deutschland zur Prostitution gezwungen und unter brutalen, menschenunwürdigen Bedingungen gefangen gehalten werden. Es gibt – bedauerlicherweise – jede Menge naiver junger Frauen, die sich von Zuhältern in scheinbare Liebesbeziehungen verstricken lassen und dann – angeblich zwecks Aufbaus einer „gemeinsamen Zukunft“ – dazu bewegt werden können, anzuschaffen. Es gibt auch Gewalt und nötigenden Zwang.

Es gibt aber selbstverständlich auch jede andere Art von Prostitution und zahllose Übergangsformen. Die weitaus meisten osteuropäischen, afrikanischen und asiatischen Prostituierten, die in Deutschland arbeiten, tun dies nicht aufgrund eines strafrechtlich erfassbaren Zwangs, sondern in der Absicht, durch vorübergehende (Saison-)Arbeit relativ viel Geld zu verdienen. Das kann man verwerflich finden oder auch nicht. Wären sie reich wie wir, würden sie es nicht tun. Wir sagen ihnen, dass sie ihre Würde nicht verkaufen, sondern lieber arm bleiben sollen. Denn wir sind gute Menschen, die sich um das Wohlergehen der Armen sorgen.

Eine Frage, bei dieser Gelegenheit, an die Bekämpfer/innen der Armutsprostitution: Wie sieht es eigentlich mit der Reichtumsprostitution aus? Muss die auch verboten werden? Angeblich gibt es ja ein paar Tausend deutsche (was sonst!) Prostituierte (beiderlei Geschlechts, was sonst!), die sich in luxuriösen Appartements und selbstbestimmter Gemütslage für das Löffeln von Beluga-Kaviar aus dem Bauchnabel bereithalten (für die Filmfreundin: Gudrun Landgrebe in dem rätselhaft erfolgreichen Machwerk Die flambierte Frau, 1983). Wen möchten Sie hier bestrafen? Welche Straf- und Kontrollfantasie haben Sie bei Candela Peña in Princesas (2005)? Wie sollten die Betreiber und Nutzer und Anbieterinnen von „Escort“-Services sanktioniert werden? Oder bleibt hier am Ende eine – wenngleich schmale –

Lücke der Freiheit von Moral?
Rechtslage II

Strafbar ist in Deutschland die Ausbeutung von Prostituierten durch Betreiber eines Betriebs, in dem Prostituierte ausgebeutet werden (Paragraf 180a Strafgesetzbuch). Strafbar ist die sogenannte Zuhälterei in den Formen der ausbeuterischen und der dirigierenden Zuhälterei (Paragraf 181a). Strafbar ist der Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (Paragraf 232) und auch die bloße Förderung einer solchen Tat (Paragraf 233a). Mit diesen Vorschriften ist eine große Vielzahl von Verhaltensweisen erfasst, die andere Menschen durch Gewalt, Drohung oder das Ausnutzen besonderer Hilfsbedürftigkeit und auslandsspezifischer Notlagen dazu bringen, prostitutive Tätigkeiten auszuüben. Schon das „Beeinträchtigen der wirtschaftlichen Unabhängigkeit“ einer Person, die der Prostitution nachgeht, ist strafbar. Auch das Fordern wucherischer Mieten für Prostitutionswohnungen.

Wenn alle diese Strafdrohungen in vollem Umfang durchgesetzt würden, bliebe noch eine weite Landschaft der Prostitution – ohne Zwang und Ausbeutung. Eine der zahlreichen offenen Fragen ist: Wollen wir das? Da scheiden sich die Geister, und die Argumente purzeln durcheinander wie Bauklötzchen.

Der Bundesjustizminister hat die explizite Regelung einer Freier-Strafbarkeit im Strafgesetzbuch angekündigt. Ähnlich wie in Schweden sollen solche Freier bestraft werden, die mit Prostituierten verkehren, die sie als Opfer von Menschenhandel erkennen. Die zahlreichen Einwände, die gerade auch aufgrund der schwedischen Erfahrungen mit der um sich greifenden Kriminalisierung des Prostitutionsgewerbes erhoben werden, werden durch die Entschlossenheit zu strafrechtlicher Sozialhygiene zum Schweigen gebracht.

Emma hat mit Feldgeschrei eine Kampagne zur Abschaffung der Prostitution in Europa (vor allem in Deutschland) gestartet und 10.000 Unterschriften gesammelt. In einem Eckpunktepapier skizziert das Blatt die gesetzlichen Regelungen, mit denen sie das Wunder vollbringen will: komplette Kontrolle der Prostitution durch die Polizei, Anmeldepflicht und Zwangsuntersuchungen für Prostituierte, Verschärfung der Strafrahmen für Zuhälterei (heute: bis fünf Jahre) und Menschenhandel (heute: bis 10 Jahre), Änderung des Strafprozessrechts (Verurteilung auch ohne Zeugen), Schluss mit der öffentlichen Förderung von „verharmlosenden“ Beratungen, strafbewehrte Kondompflicht. Rechtspolitisches Ziel: Strafbarkeit von Freiern (Modell Schweden), und zwar nicht nur der Freier von „Zwangsprostituierten“, sondern auch der von „Armutsprostituierten“ (mit der treffenden Begründung, Armut sei ja „auch eine Art von Zwang“) – also letzten Endes für alle. Insgesamt ist das ein durch und durch polizeistaatliches Modell mit all jenen Elementen, die in vielen Ländern der Welt seit jeher zu einem willkürlichen Regime durch eine (mehr oder minder korrupte) „Prostitutionspolizei“ führen, und zur Entrechtung von Prostituierten.

Maßnahmen wie Strafbarkeit von Freiern sind unmittelbar kontraproduktiv
Sachlage

In diese Diskussion schlägt die Resolution der internationalen Konferenz von Amnesty International vom 11. August 2015 ein wie eine Bombe: Legalisierung von Prostitution weltweit! Frau Schwarzer ist schon wieder außer sich. Hunderttausende Elendsprostituierte, schreibt sie, würden von linken Traumtänzerinnen der Tendenzpresse von „Brigitte, Zeit und taz“ übersehen, „ein paar tausend“ deutsche Studio-Inhaberinnen (!) und Gelegenheitsprostituierte dagegen idealisiert. Kann das sein: Amnesty International entlarvt als Helfershelfer der Menschenhändlerbanden und Großverbrecher?

Die eifernden Tiraden sind moralisierender Unsinn. Sie gehen von einem Leitgedanken aus, der in Stein gemeißelt über allem schwebt und lautet: Prostitution ist schlecht, denn sie ist der Ausdruck gewaltdefinierter Ungleichheit und fremdbestimmter Entmenschlichung. Dieselben gutmeinenden Menschen, die dieses Bild in Sauberkeitskampagnen verkünden und sich angeekelt abwenden von der Vermarktung höchstpersönlicher Intimität, verkaufen freilich nicht selten auf den Werbeseiten der Zeitungen ihr Lächeln an einen Zahnpasta-Produzenten, ihre Menstruation an einen Tampon-Hersteller, ihre innersten Gefühle an jede dahergelaufene Illustrierte und die Angst ihrer Mutter vor Demenz an die Pharmaindustrie. Wir müssen also fragen:

Was meinen die Bekämpfer der „Elendsprostitution“ eigentlich? Was ist das Substanzielle, Bedeutende am „Elend“, über das wir sprechen? Ich kenne Menschen, die sind „Elendszeitungsausträger“ oder „Elendstiefbauarbeiter“. Es soll schon „Elendsbergleute“ und „Elendsautomobilarbeiter“ gegeben haben – falls man damit meint, dass jemand durch Armut dazu gezwungen wird, fremdbestimmte, unangenehme Arbeit zu verrichten. An den Kassen von 10.000 Supermärkten sitzen „Elendskassiererinnen“, und gefühlte zweihunderttausend „Elendsfriseurinnen“ föhnen und färben täglich die erschreckenden Outfits von Menschen zusammen, die sich von einer minderbegabten Mändi für fünf Euro die Stunde ihre Schuppen auswaschen lassen und das gut finden. Das knappe Trinkgeld teilen sich Mändi und Sven, der Betreiber des Salons „Haar-Nadelkurve“, gewiss geschwisterlich. Wenn Mändi die Chance kriegt, in der Stunde 200 zu verdienen mit zwei Blowjobs, und zusätzlich noch die wahre Liebe ihres Beschützers, wird sie sich das wahrscheinlich überlegen. Und mag sie auch das eine oder andere übersehen, kann man doch wirklich nicht sagen, ihre Überlegung könne vor der Kalkulation einer durchschnittlichen Emma-Redakteurin nicht bestehen.

Ich habe übrigens nichts dagegen, gegen Elends- oder Armutsprostitution zu sein. Im Gegenteil! Aber warum soll der „Kampf“ nicht der Armut und dem Elend gelten, sondern der Prostitution, die für viele randständige Gruppen immerhin doch noch ein Ausweg ist? Man sollte dem Emma-Aufruf der 10.000 nach Strafverschärfung und Polizeikontrolle eine kleine Spendenkampagne nachschieben: Wenn 10.000 Brüder und Schwestern der Armutsprostituierten jeweils 1.000 Euro zahlen, könnte man 10.000 Armutsprostituierten jeweils 1.000 Euro schenken und sie für ein halbes Jahr in die schwarze Heimat zurückschicken, wo sie für das Geld Reis und Maniok kaufen oder ihre arbeitslosen Männer versorgen könnten. Das wäre deutlich preisgünstiger und humaner, als sie hierzubehalten und einem Schwarzer’schen Zwangsregime zu unterwerfen.

Bei dieser Gelegenheit: Ich habe noch nichts gehört über die angemessenen Strafen für die 50.000 geschiedenen Lehrerinnen und Journalistinnen, Bibliothekarinnen und Hautärztinnen jenseits der 49, die auch in diesem Sommer wieder an den Stränden und in den Lounges der Dritten Welt schöne junge Männer mit muskulösen Körpern und süß duftender Haut kaufen (Filmtipp: In den Süden von Laurent Cantet, mit Charlotte Rampling, 2005). Es sind nicht wenige, wenn wir den Magazinen und der Lebenserfahrung glauben dürfen, und sie handeln aus genau denselben Motiven wie die Tiere in den Bumsbombern nach Bangkok und Phuket. Darf man es Skandal nennen, dass Emma diese Strafbarkeitslücke noch nicht entdeckt hat?

Prostitution – international

Die Resolution von Amnesty International ist deshalb so überraschend, weil sie den Blick über den üblichen deutschen oder mitteleuropäischen Tellerrand erhoben und auf die ganze Welt geschaut hat. Dort, in der Wirklichkeit, aus der die Elendsprostitution zu uns zieht, zeigt sich das wahre Gesicht der „Moral“, ohne an den Voraussetzungen und Bedingungen der Prostitution selbst etwas zu ändern. Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis, die uns Besserwisser zum Nachdenken bringen sollte, ganz gleich wo wir in der Prostitutionsdebatte stehen. Die Denunzierung der Amnesty-Resolution ist jedenfalls schon im Ansatz falsch und verdreht das Anliegen. Die Illegalität eines bestimmten Sozialverhaltens ist für sich allein kein Schutz und ist es noch nie gewesen. Strafrecht ist kein Mittel der Sozialhygiene. Das gilt für die Prostitution nicht anders als für die Drogensucht. Hinter all den Empörungen steckt dieselbe alte Doppelmoral.

Wo auf der Welt Prostitution illegal oder gar strafbar ist, führt dies zur beinahe völligen Auslieferung der Prostituierten an Polizei- und Justizgewalt, an kriminelle Gewaltstrukturen und zu ihrer sozialen Randständigkeit mit gravierenden Folgen für Gesundheit und Lebenschancen. Wo eine (technische) Förderung der Prostitution auch dann strafbar ist, wenn sie weder ausbeuterisch noch nötigend auftritt, führt dies zur Stärkung gewalttätiger Ausbeutungssysteme.

In vielen Ländern der Welt führt eine „moralisch“ legitimierte Verfolgung der Prostitution zur Rechtlosigkeit der Betroffenen und zur Zerstörung jener Strukturen, die ihnen ein halbwegs sicheres Leben ermöglichen könnten. Legalisierung bedeutet hier: Zurückdrängung von Polizeigewalt, von Korruption und von Auslieferung an die Gewaltstrukturen rechtsfreier Räume. In vielen, gerade auch islamisch geprägten Ländern, bedeutet Legalisierung (erstmalige) Anerkennung und minimale Sicherung der Existenzvon sexuellen Minderheiten, also vor allem von Homosexuellen und Transsexuellen.

Erforderlich wäre also zunächst eine Diskussion der Ehrlichkeit und eine Besinnung auf Grundsätzliches. Wir vermarkten Sexualität heute in einem Maße, das historisch einmalig ist. Gleichzeitig übernehmen wir – auch hier wieder auf den Schweißspuren unseres großen Bruders jenseits des Atlantiks – ein Regiment des moralischen Rigorismus und der Frömmelei, das sich skurril ausnimmt vor der Kulisse des Silikon-Fetischismus und des allgegenwärtigen Wettlaufs um Virilität und Sex-Appeal bis ins Greisenalter. Der Fetischismus um sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale treibt Millionen von Menschen in wahnhafte „Therapien“ jeder Art. Von Plakatwänden und aus Videoclips springen uns 24 Stunden am Tag die Bilder junger oder sehr junger Menschen an, die uns mit nichts anderem als dem Versprechen von Geilheit auffordern, in unserem Leben einen Sinn zu sehen. Darf man Sie, verehrte Model-Contest-Veranstalter, liebe Misswahl-Organisatoren, fragen, warum ausgerechnet freiwillige Prostitution das untere Ende dieser Zivilisation darstellen soll?

Fazit

Die geplanten Gesetzesverschärfungen sind vor allem eines: Placebos in einer unausgereiften politischen Diskussion, die sich nicht entscheiden kann zwischen moralischer Entrüstung und vernünftigem Rechtsgüterschutz. Maßnahmen wie eine Strafbarkeit von Freiern sind unmittelbar kontraproduktiv. Die Kampagne zur umfassenden Kriminalisierung und Ausgrenzung von (freiwilliger) Prostitution ist ein polizeistaatliches Konzept, das nicht die Prostitution abschafft, sondern Prostituierte unsichtbar und rechtlos macht. Der Ansatz von Amnesty International ist rational und an den Menschenrechten der Betroffenen orientiert. Er sollte umgesetzt werden.