Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Der Mord-Paragraf ist eine Erfindung der Nazis. Wie konnte er sich so lange halten? Plädoyer für eine überfällige Rechtsreform

Von Thomas Fischer
12. Dezember 2013, 7:00 Uhr / Editiert am 19. Dezember 2013, 2:47 Uhr DIE ZEIT Nr. 51/2013

Im Zentrum unseres Strafgesetzes findet sich noch immer, was der Staatssekretär und spätere NS-Richter Roland Freisler im Jahr 1941 so formulierte: „Der Mörder wird … bestraft“ (Paragraf 211 Absatz 1 Strafgesetzbuch). Was ein „Mörder“ ist, sagt uns Absatz 2: „Mörder ist, wer …“ – und dann folgen zehn Definitionen dessen, was angeblich einen Mörder ausmacht. Sie beschreiben die Form der Tat („gemeingefährliche Mittel“) oder die Motive des Täters („aus niedrigen Beweggründen“ oder „zur Verdeckung einer Straftat“). Nicht zu vergessen das Motiv der „Heimtücke“! Auf diese und die „niedrigen Beweggründe“ – von den NS-Juristen neu erfunden – stützt sich der größte Teil aller Taten, die „Mord“ heißen.

Wer nicht „Mörder“ ist, aber vorsätzlich einen Menschen getötet hat, heißt laut Gesetz „Totschläger“. Er wird nicht mit der Höchststrafe bestraft (seit 1953: lebenslange Freiheitsstrafe, vorher: Todesstrafe), sondern mit auf 15 Jahre begrenzter Freiheitsstrafe; wenn der sogenannte Totschlag „besonders schwer“ ist, kann ausnahmsweise eine lebenslange Strafe verhängt werden. Was mag der Unterschied sein zwischen einem (vorsätzlichen) Totschlag im besonders schweren Fall und einem (vorsätzlichen) Mord? Die Justiz weiß es nicht: Der „Totschlag im besonders schweren Fall“ kommt in der Praxis so häufig vor wie eine vollständige Sonnenfinsternis. Wer an einer Tötung etwas „besonders Schweres“ finden möchte, wendet und prüft die Mordmerkmale, bis ihm eines passend erscheint.

Freisler kam es auf solche Feinheiten nicht an. Man wollte nicht „Tatbestände“ schaffen, sondern ein genuin nationalsozialistisches Strafrecht, einen Ort voller Symbolik und Kraft: „völkisches“ Recht, vorgeblich aus der Tiefe einer germanischen Identität, aus dem Blut einer zusammenfantasierten Rasse, aus Volksrechten des Mittelalters, aus einem Brei von Ressentiment, Gewalt und Schmierentheater, unbefleckt von der Seuche der Aufklärung. Je mehr man aus den Schimären des ewigen Verlierers das alberne Bild des nationalsozialistischen Menschen zusammenschwadronierte, desto mehr schwand in den Denklaboren jener Zeit – und der unterwürfig folgenden Strafrechtswissenschaft – das aufgeklärte Licht. Der gesetzliche Tatbestand wurde ersetzt durch das Zerrbild eines biologistischen „Tätertyps“: „Der Mörder“, „der Totschläger“, „der Plünderer“. Freisler schrieb: „Der Gesetzgeber hat ihn nicht durch Zusammensetzung von Tatbestandsmerkmalen konstruiert. Er hat ihn ganz einfach hingestellt. Damit der Richter ihn ansehen und sagen kann: Das Subjekt verdient den Strang.“

Das konnte nicht missverstanden werden. Wer später behauptete, er habe es nicht verstanden, war ein Lügner. Das vorgeblich „völkische“ Recht brauchte keine Tatbestände; schon 1933 erklärte es in einem neuen Paragrafen 2a des Strafgesetzbuchs eine unbegrenzte „Analogie“ für zulässig: Fand sich kein gesetzlicher Tatbestand, so sollte der Richter einen anderen „entsprechend“ anwenden: „Nullum crimen sine poena“ war das Motto – kein Verbrechen darf ohne Strafe bleiben –, und was ein Verbrechen sei, definierte nicht das Gesetz, sondern das „Volksempfinden“. Gesetzesbindung und Rückwirkungsverbot waren abgeschafft.

Als 1949 der neue deutsche Rechtsstaat begann, waren Roland Freisler und die Justizminister Franz Gürtner und Otto Georg Thierack verschwunden – und niemand wollte sie je gekannt haben. Ihre Fachleute aus den Bürokratien aber waren noch da: Gesetzesformulierer, Oberstaatsanwälte und Richter, Psychiater. Sie wurden Ministerialdirigenten oder Bundesrichter oder Kommentatoren. Professoren, die eben noch die „Tätertypenlehre“ gepriesen hatten, lehrten die von der Welteroberung heimgekehrten Hitlerjungen nun das Strafrecht des neuen Staats, das gern auch einmal das des alten war. So sind der Mörder und der Totschläger auf uns gekommen, mitsamt dem Plünderer, dem Vergewaltiger und dem Kinderschänder: auf einer braunen Schleimspur.

Obacht! Kennen wir „das Subjekt“ nicht noch immer? Den „typischen Betrüger“, den „Vergewaltiger“, den „Raser“, den „Sozialschmarotzer“? Hören oder lesen wir nicht allenthalben, dass „der Kinderschänder“ einer sei, der „mindestens lebenslang“ verdient? Im Jahr 2013 mag eine Mehrheit für diese Weltsicht nicht mehr so sicher sein wie 1953 oder 1978 – aber die Zahl ihrer Anhänger ist immer noch bedrückend hoch. Sie übersehen, dass die „Subjekte“ Freislers in Wahrheit nur Insekten sind unter der selektierenden Lupe seiner Käfersammlung.

Der Tätertyp sitzt wie ein schwarzer Knoten in unseren Herzen. Er ist uns vertraut wie ein Bruder. Wir leben mit ihm seit 70 Jahren, wir fürchten uns vor ihm. Wir möchten aufgeklärt sein, frei, mutig mit uns selbst und anderen. Wir schämen uns dafür, wenn wir denken, Rumänen seien Räuber, Polen Diebe und Mexikaner Mörder. Die Comedy, die uns das vorführt, wird beklatscht.

Im Justizalltag weiß heute kaum jemand ganz genau, was er mit den sogenannten Mordmerkmalen anfangen soll. Die Bevölkerung, aus deren Überzeugungen sie angeblich entspringen, hält für Mord, was im Fernsehen so heißt, für Totschlag irgendetwas zwischen Affekt und Fahrlässigkeit. Sie weiß nicht, dass in den Ländern, aus denen diese Filme zu uns kommen, solche Begriffe etwas anderes bedeuten als bei uns.

„Heimtücke“ ist ein Mordmerkmal. Warum aber soll die Tötung mit Gift oder im Schlaf unbedingt die Höchststrafe verlangen, ohne jede Milderungsmöglichkeit? Jeder weiß doch, wie oft die „heimtückische“ Tötung eine Tat der Schwachen, der Unterlegenen, der Gequälten ist. Wie anders als von hinten oder im Schlaf soll eine jahrzehntelang misshandelte und drangsalierte Frau den Familientyrannen erschlagen? Warum soll heute noch das überkommene Zerrbild eines „mannhaften“ Kampfs privilegiert werden?

Auch „Habgier“ ist ein Mordmerkmal. Sie ist, so die Rechtsprechung, „ein übersteigertes Gewinnstreben“. Danach ist zwingend Habgier gegeben, wenn A den B erschießt, um ihm die Geldbörse abzunehmen. Tötung aus „normalem“ Gewinnstreben kommt im gerichtlichen Alltag nicht vor: Streben nach materiellem Gewinn gilt dort als so verachtenswert, dass es jede Tötung automatisch zum „Mord“ macht. Aber ist nicht das Gewinnstreben der Motor unserer Zivilisation, Kennzeichen ihres Siegs über alle anderen Gesellschaftsformen? Wie kann, was so Wunderbares hervorgebracht hat wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung, zugleich das verachtungswürdigste aller Motive sein?

Schließlich die „niedrigen Beweggründe“: das erbärmlichste, unglaubwürdigste, dehnbarste aller Mordmerkmale, frisch geblieben über 70 Jahre. Sie sind, so heißt es, Motive, die „auf sittlich niedrigster, verachtungswürdiger Stufe stehen“. Nehmen wir an, ein Mann will nicht akzeptieren, dass seine Frau sich von ihm trennt und die gemeinsamen Kinder mitnimmt. Er säuft zu viel, ist selbstmitleidig und persönlichkeitsgestört wie so viele. Bei der notorischen „letzten Aussprache“ erwürgt er seine Frau. Ist das eine Tötung auf sittlich niedrigster Stufe? Was ist, wenn umgekehrt die Frau den Mann ersticht: weil er sie nicht gehen lassen will, obwohl sie eine neue Liebe gefunden hat? Sind dies die Subjekte, die den Strang verdienen? Für vorsätzliche Tötungen gibt es selten gute Gründe.

Die Selbstgewissheit, mit der wir dabei über selbst definierte „Niedrigkeit“ menschlicher Motive urteilen, erscheint mir seit Langem unheimlich. Zu offensichtlich ist, dass sie nur eine Folge von Definitionsgewalt ist. Jeder Wind weht sie weg, dreht sie um, setzt sie neu zusammen. Juristen können nicht glauben, dass, was heute gilt, morgen wertlos sein könnte. Sie wollen ewige Regeln finden. Aber selbst bei der Tötung ist das nicht gelungen.

Es gibt kein kulturübergreifendes Tötungsverbot. Tötung anderer Menschen kann erlaubt sein (Notwehr), sie kann erwünscht sein (Todesstrafe), sie galt – und gilt – in manchen Kulturen als sozialadäquat (Tötung von Kranken und Alten); sie wird mit höchsten Ehren bedacht: Der Krieg – der uns so unerklärlich und allgegenwärtig geworden ist wie Winston Smith, dem „Subjekt“ in Orwells Roman 1984 – ist die Widerlegung aller Reden vom Triumph des Rechts über die Gewalt.

Man kann über Unklarheiten des geltenden Strafgesetzes nicht räsonieren, ohne über die Funktion der Höchststrafe zu sprechen. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist der bürgerliche Tod. Alle Aussetzungskünste und Vollstreckungswohltaten ändern daran nichts. Der Lebenslange ist von der Gesellschaft seiner Zeit angeschaut und begutachtet und dann ausgespien und zum Restmüll geworfen worden. Lebenslang ist die letzte Stufe vor der physischen Vernichtung.

Früher ging man, buchstäblich, „ins Loch“: in ein Verlies ohne Wiederkehr. Lebenslang dauerte nicht sehr lange: Man verfaulte in zwei Jahren zwischen den Kadavern der Vorgänger. Im 21. Jahrhundert geht man in Deutschland in die Abteilung für Lebenslange: Dort gibt es karierte Tischdecken, Pamela an den Wänden, Sport und RTL. Keine Außenkontakte, keine Familie, keine Freunde. Kein Schuldgefühl mehr nach 12 oder 18 Jahren. Man hat einen Menschen getötet: Das Warum ist aber nicht mehr wichtig, und nach 15 Jahren weiß man es auch gar nicht mehr genau. So viele Geschichten, so viel Schweigen! Was draußen besser sein soll? Manche weigern sich, nach 20 Jahren einen Antrag auf Strafrestaussetzung zu stellen.

Man muss mehrere Fragen gleichzeitig stellen, widersprüchliche Antworten abwägen: Was macht das geltende „Mörder“-Strafrecht mit uns? Was macht es mit Richtern? Was macht es mit denen, auf die es angewendet wird? Unser Recht kennt Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründe: Gesichtspunkte einer abwägenden Strafzumessung. Denn es gibt minder schwere und besonders schwere Fälle; jeder Mensch, jeder Fall ist anders. Wer vor Gericht steht, will nach dem Maß seiner eigenen Person, seiner Geschichte, seiner Individualität beurteilt werden. Das ist das Mindeste, was eine der Menschenwürde verpflichtete Rechtsordnung ihren Bürgern gewähren muss, dass der Mensch, auch wenn er ein Verbrechen begangen hat, nicht bloßes Mittel zum Zweck wird: zur Abschreckung, zur Staatsräson, zum Wahlsieg.

All das gilt aber nicht, wenn das Gericht ein „Mordmerkmal“ entdeckt: Sobald der Beweggrund nur ein wenig „niedrig“ ist oder die Tat ein bisschen „heimtückisch“, entfallen alle Möglichkeiten individueller Strafzumessung. Auf Mord steht lebenslang – ohne Wenn und Aber. Da mag der Richter vor dem Elend die Hände ringen, wie er will: Roland Freisler steht hinter ihm und schaut es an, das Subjekt. Ein Witz der Geschichte: Selbst die Nazis hielten den minder schweren Fall des Mordes für möglich. Die Bundesrepublik hat das 1953 gestrichen.

Jede vorsätzliche Tötung eines Menschen ist ein empörendes Geschehen. Jeder Verbrecher ist, die meiste Zeit seines Lebens, nicht Räuber, sondern Sohn, nicht Plünderer, sondern Kollege, nicht Mörder, sondern Nachbar. Dies und vieles andere ist bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Wenn aber die schwankende Grenze zum Begriff des „Mörders“ überschritten wird, ziehen sich die Lebensgeschichte und die Persönlichkeit des Beschuldigten an den Fäden des Freislerschen Tätertyps zusammen auf einen Punkt. Dann entscheidet die Bewertung eines einzigen Augenblicks über alles: heimtückisch oder habgierig oder niedrig? Nichts anderes zählt mehr. Obgleich doch alle wissen, wie leicht es ist, heimtückisch zu sein oder rachsüchtig oder habgierig.

„Mörder ist, wer …“ ist eine menschenunwürdige Formel. Sie reduziert den Richter auf die Funktion eines Automaten, der eine starre Rechtsfolge auszuwerfen hat nach Eingabe von Merkmalsdaten, an deren Kraft er selbst kaum glaubt. Sie reduziert den Beschuldigten auf einen einzigen Punkt. Sie reduziert die Errungenschaften der Moderne – Diskursivität, Rationalität, Verantwortung – auf ein paar formale Erkenntnisse. Dies tut sie nicht, wie der Unkundige annimmt, auf gesichertem Grund, sondern auf der Basis moralisierender Bewertungen, unklarer Abgrenzungen und ungerechter Schematisierungen.

Es wäre besser, wir würden uns dem „Mörder“ und dem „Totschläger“ stellen. Nicht als Charaktermasken aus dem Freislerschen Kabinett, sondern als Bürger wie wir: schuldige, verstrickte, verantwortungslose, in jedem Fall aber nach dem Maß ihrer persönlichen Schuld zu behandelnde Menschen.

Hieraus ergeben sich Forderungen: Abschaffung der typenorientierten Mordmerkmale. Abschaffung zumindest der zwingend lebenslangen Freiheitsstrafe, also einer absoluten, außerhalb aller rechtsstaatlichen Strafzumessungskriterien stehenden Strafe. Vertrauen in die Kraft der Rationalität und die Legitimation des Rechtsstaats. Sagen wir es höflich: Wir brauchen Herrn Freisler nicht mehr, um uns darüber zu verständigen, was der verdient, der das Schlimmste getan hat.