Nachfolgend ein Beitrag vom 15.6.2016 von Fischer, jurisPR-ArbR 24/2016 Anm. 5
Orientierungssatz zur Anmerkung
Grundlage für die Beurteilung der Zuverlässigkeit („Glaubhaftigkeit“) von Zeugen und anderen Auskunftspersonen vor Gericht ist – nicht nur im Strafverfahren – in erster Linie die Aussagepsychologie (BGH, Urt. v. 22.01.1998 – 4 StR 100/97 – NStZ 1998, 336, unter I.2.b.; BGH, Urt. v. 03.11.1987 – VI ZR 95/87 – MDR 1988, 307 = NJW-RR 1988, 281, unter II; Rüßmann in: AK-ZPO, Vorb. § 373 Rn. 43). Dabei müssen Zuverlässigkeit wie Unzuverlässigkeit gleichermaßen anhand der aussagepsychologisch gesicherten Kriterien geprüft und begründet werden (OLG Karlsruhe, Urt. v. 14.11.1997 – 10 U 169/97 – NJW-RR 1998, 789, 790 = MDR 1998, 493, 494, unter II.1 a.; tendenziell auch LArbG Stuttgart, Urt. v. 28.03.2001 – 20 Sa 15/01, unter I.2.).
A. Problemstellung
Des Menschen Gedächtnis ist ein Sieb, in das alles Mögliche hinein und auch wieder hinaus läuft. Man kann es auch vornehmer sagen: Ein viel schlechteres Beweismittel als den Zeugenbeweis dürfte es nicht geben. Die 28. Kammer des Arbeitsgerichts Berlin widmet sich der dadurch entstehenden prozessualen Problematik mit Hingabe und Inbrunst, was sie bereits mit ihrem Urteil vom 09.01.2015 (28 Ca 4629/14) zu Protokoll gab. Sie legt nun nach. Und da wir in Berlin sind, könnte man sagen: „Das ist auch gut so.“ Jedenfalls sieht es der Verfasser dieser Anmerkung so. Denn er hatte in jurisPR-ArbR 30/2015 Anm. 2 die genannte Entscheidung der Kammer nicht gerade übermäßig freundlich besprochen, was ihre Lesbarkeit und Übersichtlichkeit angeht. Allerdings hatte er dabei auch zum Ausdruck gebracht, dass die von den Berliner Richtern bei ihrem damaligen Urteil zugrunde gelegten Überlegungen von großer Bedeutung für die gerichtliche Praxis sind. Denn es geht hier nicht um die juristisch-dogmatischen Spezialfähigkeiten, die Voraussetzung für den Richterberuf sind, sondern um Eigenschaften und Kenntnisse, die im rechtswissenschaftlichen Studium so gut wie nicht vermittelt werden: Menschenkenntnis und Psychologie im Gerichtssaal. Es lässt deshalb aufhorchen, wenn ein Instanzgericht sich nicht der Versuchung hingibt, Beweisaufnahmen und die nachfolgende Beweiswürdigung nur schematisch, mit Allgemeinplätzen und vermeintlichen Alltags- bzw. Binsenweisheiten abzuhandeln, um dann auf § 286 Abs. 1 ZPO zu verweisen. Wie bildet sich die „freie Überzeugung“ i.S.v. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO, und welche Gründe sind für die so gewonnene Überzeugung „leitend“ im Sinne des Satzes 2 der genannten Vorschrift. Das ist die Problemstellung, der sich das hier besprochene Urteil wiederum in einer Ausführlichkeit und Nachdenklichkeit widmet, die einerseits Bewunderung abverlangt, andererseits aber auch zu der Bewertung verleitet: Würden alle arbeitsgerichtlichen Instanzurteile so intensiv und umfänglich begründet, müsste das Budget für Urteilspapier deutlich angehoben werden: Die juris-Druckausgabe des Urteils umfasst immerhin 45 Seiten.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Natürlich sind es insbesondere verhaltensbedingte Kündigungen, die die Arbeitsgerichte oftmals zu einer Beweiswürdigung zwingen. Hier ging es um eine außerordentliche, bzw. hilfsweise ordentliche Kündigung im Sinne einer Tat- und Verdachtskündigung, in einem Bereich, der besonders hoch sozial und emotional aufgeladen ist: Einer weiblichen Pflegekraft in einer, wie es so schön heißt, „Seniorenresidenz“ wurde vorgeworfen, eine hochbetagte Bewohnerin in unangemessener, ja menschenverachtender Weise be- bzw. besser gesagt: misshandelt zu haben. Jedoch: Wie oft im Leben, der kündigungsrelevante Vorwurf war nicht unstreitig. Es wurde vom Arbeitgeber dadurch unter Beweis gestellt, dass die hochbetagte Seniorin als Zeugin benannt wurde. Sie wurde vom Gericht auch, nicht an Gerichtsstelle, sondern – einfühlend – in der „Residenz“ vernommen. Obwohl die Zeugin, man ist versucht zu sagen: wie nicht anders zu erwarten, im Kern die Kündigungsvorwürfe bestätigte, kam das Gericht i.S.d. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht zu der Überzeugung, dass ausreichende Kündigungsgründe i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB bzw. § 1 Abs. 2 KSchG vorlagen.
C. Kontext der Entscheidung
Die entscheidende Kammer lässt keinen Zweifel daran, dass die vom Arbeitgeber vorgetragenen Gründe „an sich“ in hohem Maße kündigungsrelevant waren. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bewohner von Senioren- bzw. Pflegeheimen einen unabdingbaren Anspruch darauf haben, menschlich, fachlich und sozial so gut wie irgend möglich betreut und versorgt zu werden. Dass die genannten Institutionen selten bzw. nicht immer dem entsprechen, was frühere Generationen unter „Residenzen“ verstanden haben, ist mittlerweile tief in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Kürzlich hatte sich sogar das BVerfG mit der Problematik des so genannten „Pflegenotstandes“ zu befassen (BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Nichtannahmebeschl. v. 11.01.2016 – 1 BvR 2980/14). Es ist die Aufgabe aller Beteiligten, der Gesetzgeber, der Betreiber, des Personals, der Kranken- und Pflegekassen bzw. Versicherungen, die Besonderheiten der Dienstleistungsindustrie im Kontext betagter Menschen – von einem „besonderen Gewaltverhältnis“ ist glücklicherweise keine Rede mehr – hinreichend zu berücksichtigen. Allerdings ist die Aufgabenstellung aus einer Vielzahl von Gründen mehr als komplex. Dies unter anderem auch deshalb, weil auf der Ebene der unmittelbar miteinander kommunizierenden und interagierenden Personen in erheblichem Maße subjektive Befindlichkeiten eine Rolle spielen. Diese sind nicht nur deshalb von teilweise prekärer Natur, weil es sich um relative Dauerbeziehungen bis in den Intimbereich hinein handelt. Sondern auch deshalb, weil nicht selten die Pflegekräfte einer völlig anderen Generation angehören als die zu betreuenden Menschen. In diesem hier nur kurz angerissenen Szenario, das die finanzielle Ausstattung der Institutionen, die Gewinnerwartungen und die Ausbildung und die Vergütung des Personals nur als Hintergrundrauschen wahrnimmt, tun die Gerichte gut daran, sich mit einem hohen Maß an Sensibilität für diese Besonderheiten den divergierenden Sachdarstellungen durch die jeweiligen Parteien zu widmen.
Im hier besprochenen Urteil geschieht das auf der Sachebene meines Erachtens vorbildlich. Eine Vielzahl rechtlicher, psychologischer, neurowissenschaftlicher Überlegungen fließt in die umfassende „freie Beweiswürdigung“ des Gerichts ein. Dieses beschränkt sich gerade nicht nur darauf, sich auf den Wortlaut der Beweisaufnahme zu stützen. Vielmehr ist hier § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO beim Wort zu nehmen. Denn maßgeblich für die Überzeugungsfindung des Gerichtes ist nach der gesetzlichen Vorstellung zunächst „der gesamte Inhalt der Verhandlungen“ und dann erst „das Ergebnis einer etwaigen Beweisaufnahme“. Daraus leitet sich zwingend die hier vom ArbG Berlin erfüllte Forderung ab, dass die Beweisaufnahme im Lichte des gesamten Verfahrens, des schriftsätzlich Vorgetragenen und des in den gerichtlichen Verhandlungen ans Licht tretende verbale und nonverbale Verhalten der Prozessbeteiligten zu würdigen ist. Auch wenn das Urteil nicht so abgefasst ist, dass es als „leichte Sprache“, wie sie das BVerfG auf seiner Homepage definiert, durchgehen könnte: Es lohnt sich, die Mühe auf sich zu nehmen. Es ist hier nicht der Raum, um einzelne Elemente besonders herauszuheben. Denn die gerichtliche Überzeugungsfindung kann nicht abstrakt, abgelöst vom Einzelfall, nachvollzogen werden. Der Rezensent ist im Übrigen auch nicht in der Lage, die nonverbalen Aspekte einer Beweisaufnahme und einer Verhandlung nachzuvollziehen und kritisch zu würdigen. Hier handelt es sich um einen originären und authentischen inneren Gedankenprozess. Dem erstinstanzlichen Gericht kommt dabei eine deshalb besonders verantwortliche Stellung zu, weil die Überprüfungsmöglichkeit durch das Rechtsmittel der Berufung gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO im Hinblick auf die Beweiswürdigung nur dann besteht, wenn „konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellung begründen.“ Im Regelfall wird deshalb eine erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme maßgeblich für den weiteren Instanzenzug sein. Deshalb kommt den Parteien und ihren erstinstanzlichen Vertretern die Verpflichtung zu, darauf zu achten, dass nach § 286 ZPO auch tatsächlich der „gesamte Inhalt der Verhandlungen“ und nicht nur der Wortlaut der Beweisaufnahme berücksichtigt wird.
D. Auswirkungen für die Praxis
Wie schon bei meiner Besprechung des ähnlich gelagerten Urteils der 28. Kammer des ArbG Berlin bleibe ich dabei, dass die im Urteil aufgeworfenen Fragen so wichtig sind, dass sich jedes erstinstanzliche Gericht mit großer Akribie, kritischem Blick und unter Vermeidung von Stereotypen den verbalen Äußerungen von Zeugen widmen sollte. Das menschliche Gedächtnis ist und bleibt ein zu fragiles Ensemble von Zellen, um es unkritisch beim Wort zu nehmen.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Nachdem das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage der Arbeitnehmerin zum Erfolg verholfen hatte, musste es über deren Auflösungsantrag entscheiden. Die hier gemachten Ausführungen im Urteil sind zwar äußerst sparsam, wenn man diejenigen zum sonstigen abzuarbeitenden Programm als Maßstab nimmt. Ich stimme dem Ergebnis des Urteiles hier jedoch in vollem Umfange zu, auch im Lichte der ansonsten gebetsmühlenartig stets wiederholten These vom KSchG als Bestandsschutzgesetz. Gerade in den oben beschriebenen spezifischen Konstellationen der Arbeitsverhältnisse in Pflegeinstitutionen ist es gerechtfertigt, dem arbeitnehmerseitigen Wunsch bzw. Antrag auf Auflösung dann nachzukommen, wenn nicht nur das Verhältnis zum Arbeitgeber, sondern auch das Verhältnis zu dem im Prozess aussagenden „Kunden des Arbeitgebers“, hier also den pflegebedürftigen Personen betroffen ist. In einer solchen Konstellation ist niemandem damit gedient, den Arbeitnehmer oder den Arbeitgeber darauf zu verweisen, er könne ja versuchen, auf anderen Stationen als der des Ausgangskonflikts beschäftigt zu werden.