Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Der Fall Gustl Mollath: Jetzt hat der Anwalt Gerhard Strate ihn aus seiner Sicht geschildert. Es ist ein aufschlussreicher Blick auf Schuld und Versäumnisse.

Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer
8. Januar 2015, 1:09 Uhr DIE ZEIT Nr. 53/2014, 23. Dezember 2014 4 Kommentare

Der Fall Mollath – Vom Versagen der Justiz und der Psychiatrie hat der Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate sein kürzlich erschienenes Buch betitelt. Der Fall seines Mandanten Gustl Mollath hat die deutsche Gesellschaft nachhaltig erschüttert. Strates Buch gibt Anlass, sich die Gründe dafür noch einmal zu vergegenwärtigen.

Die Tatsachen

Der Fahrzeugrestaurator Mollath aus Nürnberg verstrickte sich im Jahr 2002 in einen Ehescheidungskrieg. Zunächst, um seine Ehefrau zur Fortsetzung der Ehe zu nötigen, später, um ihr zu schaden, beschuldigte er sie, als Privatkundenbetreuerin einer Bank an Steuerhinterziehungen durch Bankkunden beteiligt gewesen zu sein. Im Gegenzug kam es zu Strafanzeigen gegen ihn wegen Körperverletzung, Bedrohung und Diebstahls, schließlich auch wegen Sachbeschädigung.

Mollath wurde vom Amtsgericht Nürnberg auf der Grundlage eines Hinweises der Hausärztin seiner Ehefrau zur Untersuchung seines Geisteszustands in das psychiatrische Bezirkskrankenhaus (BKH) Bayreuth verbracht. Gutachter diagnostizierten eine „schizophrene Wahnstörung“; Grund dafür lieferte ihnen das Festhalten Mollaths an seinen Beschuldigungen und sein störrisch-bizarres Verhalten.

Dann wurde es ernst: Die Große Strafkammer am Landgericht Nürnberg-Fürth nahm sich Mollaths an, seine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus wurde vorbereitet. Rechtsmittel, die er gegen seine vorläufige Unterbringung sowie gegen gesetzwidrige Untersuchungs- und Vollzugsbedingungen einlegte, wurden nicht bearbeitet. Da er keine „Krankheitseinsicht“ zeigte, wurde eine Betreuung angeordnet, um eine Zwangsbehandlung zu ermöglichen. Wiederum blieben Rechtsmittel monatelang unbeachtet. Das Landgericht sprach Mollath im August 2006 zwar wegen Schuldunfähigkeit frei, ordnete aber wegen hoher Gefährlichkeit seine unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Seit den Taten waren inzwischen vier Jahre vergangen. Mollaths Revision wurde vom 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs als „offensichtlich unbegründet“ verworfen.

Erst 2011 wurden die Umstände des Verfahrens öffentlich diskutiert. Die bayerische Staatsregierung gab Erklärungen ab, die sich von aggressivem Bestreiten jeglichen Fehlers bis zur Anweisung an die Staatsanwaltschaft entwickelten, die Wiederaufnahme zu betreiben. Im August 2013 wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet. Mollath war da – mehr als zehn Jahre nach den Anlasstaten – immer noch im Maßregelvollzug. Im August 2014 wurde er endgültig freigesprochen. Seine Anschuldigungen gegen Bankmitarbeiter erwiesen sich – jedenfalls in Teilen – als richtig.

Der Skandal

Der Fall Mollath sei ein „Skandal“, heißt es. Dieser Titel ist mehrfach berechtigt: weil der Fall ein Medienspektakel ersten Ranges war; weil er nicht einen zufälligen Fehler offenbart, sondern das systematische Versagen einer Landesjustiz, die mit dem albernen Anspruch der Unfehlbarkeit umherstolzierte und die Korrektur offenkundiger Fehler jahrelang mit all der Macht verweigerte, die einer großen Bürokratie zu Gebote steht; weil er einen erschreckenden Blick in ein mögliches Zusammenspiel von Strafjustiz und Psychiatrie ermöglicht, das Kontrolle ausschaltet, statt sie zu gewährleisten.

Gerhard Strate, der Verteidiger von Gustl Mollath, versucht in einer Mischung aus Dokumentation und Bewertung, die Sache auf den Punkt zu bringen. Das gelingt ihm im Ergebnis, obgleich sein Buch zweifach zu kritisieren ist: Den Justizskandal definiert es herunter auf das Versagen von Einzelnen, obgleich er mehr ist als das. Den Psychiatrieskandal hingegen bläst es zu überdimensionaler Größe auf.

Der Kern der Sache

Der Strafverteidiger Strate und sein Mandant Mollath haben sich am Ende überworfen. Das liegt vermutlich daran, dass Mollath an dem Skandal stets nur der inhaltliche Kern der Sache interessierte (die Vorwürfe und sein Geisteszustand) und Strate zu Recht stets nur der formelle (die juristische Sachlage). Einfach gesagt: Weder kam es darauf an, ob Mollath getan hat, was man ihm vorwarf, noch ob er verrückt war, wie man meinte. Zehn Millionen Hobby-Ermittler können abtreten.

Das Erhellende am Mollath-Skandal ist, trotz aller nervtötenden Erbsenzählerei, seine Übersichtlichkeit: Besser kann man kaum serviert bekommen, was an den Systemen der formellen Sozialkontrolle falsch läuft und warum dies so ist. Dass Vertreter dieser Systeme das Ganze unter einem Berg von vorgeblich unverständlichen Einzelheiten zu verschütten versuchen, ist Teil des Spiels.

Das wichtige Ergebnis des Verfahrens ist: Egal, ob Mollath getan hat, was ihm vorgeworfen wurde, gleichgültig, ob er eine seelische Störung hat, und einerlei, ob seine Theorien stimmten – in keinem Fall hätte man ihm antun dürfen, was man ihm angetan hat. Die Missachtung elementarer Rechte einer beschuldigten oder als „gefährlich“ verdächtigten Person, ihre jahrelange Auslieferung an ein System, das ihm anvertraute Menschen zu Objekten der Kleinlichkeit und Machtdemonstration degradiert, die Erkenntnis, dass Kontrollmechanismen oft gerade dann nicht funktionieren, wenn es darauf ankommt, haben ein Bild der „Verfassungswirklichkeit“ jenseits von Sonntagsreden entstehen lassen, das zum Nachdenken jeden Anlass gibt.

Die Justiz

Der bedrückendste Teil von Strates Darstellung verbirgt sich zwischen den Zeilen und müsste die am meisten berühren, die diese Räume bewohnen. Er betrifft die Routinen der Justiz. Ihre Bedeutung liegt in der furchterregenden Alltäglichkeit ihrer Verrichtungen und spiegelt sich in der schulterzuckend-schadenfrohen Gleichgültigkeit, mit welcher der Mollath-Skandal in den Gerichtskantinen der Republik aufgenommen wurde: Als sei er nichts als ein zweifelhafter Punktsieg für irgendwelche „Justizgegner“ und habe mit dem eigenen Berufsleben nicht das Geringste zu tun. Strates Buch weckt berechtigte Empörung über so viel Hartbeschichtung der Seele, auch wenn er sein Interpretations-Coaching gelegentlich übertreibt.

Wie kann es sein, dass eine Richterin am Amtsgericht Hinweise auf ihre Unzuständigkeit und auf die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens einfach ignoriert, Beschwerden nicht bescheidet, Rechtsmittel nicht weitergibt, Hinweise auf Fehler notorisch übersieht? Wie ist es möglich, dass ein Strafkammer-Vorsitzender die Beschwerden eines im Maßregelvollzug untergebrachten Beschuldigten monatelang nicht beachtet? Wie geht es an, dass Sachverständige sich auf kurzem Weg verständigen über die Akten irgendeines verlorenen Querulanten? Warum ist eine Vielzahl von Richtern, überall in Deutschland, an den umfangreich dokumentierten Einzelheiten dieses Verfahrens beflissen desinteressiert und behauptet mit penetranter Borniertheit, sie seien „streitig“?

Es mag sein, dass der Gestank nach Menschenverachtung und Kumpanei, die großkotzige Attitüde des Wegwischens, das gemeinsam ins Werk gesetzte Zuziehen der Schlinge um den Hals eines Lästigen, angefangen mit dem ersten Fehler und eisern durchgehalten bis zu peinlich dahingestotterten Regierungserklärungen, überall vorkommen könnte. Zu vermuten ist freilich, dass dieser Gestank dort leichter entsteht, wo die Justiz als Weltanschauungsvereinigung gilt.

In der bayerischen Justiz, der auch der Verfasser dieser Rezension entstammt, kennt man den Sog des Wir und die Furcht vor der Abweichung. Dort stehen zwei Welten gegeneinander: die eine heißt „Wir“, die andere „die Opposition“. Wenn beim Oberlandesgericht der Herr Personalreferent hüstelt, klappen dem Kleinen Strafkämmerer die Hacken ganz von selbst zusammen. Wer Karriere gemacht hat im Beziehungsgeflecht zwischen weisungsgebundener Staatsanwaltschaft und richterlicher Beisitzerschaft, weiß, was eine Linie ist.

Der für die Kontrolle der bayerisch-landgerichtlichen Entscheidungen zuständige 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs erhielt den Ehrentitel „Olli-Kahn-Senat“ und fand das gut: „Wir halten alles!“ (Gemeint waren die mit der Revision angegriffenen Urteile.) Wer vor möglichen Folgen einer solchen vorauseilenden Aufhebung von Kontrolle warnte, stand mit einem Bein im Feindesland. Auch das gehört zur Nährlösung des Falles Mollath.

Die Forensische Psychiatrie

Die Forensische Psychiatrie hat zum Skandal manches beigetragen: eklatante Verstöße gegen eigene „Qualitäts“-Standards. Routiniert haben sich Gutachter und Justiz die Bälle zugespielt. Von „Heilung“ ist die Rede, doch allzu oft geht es bloß darum, den Widerstand eines Beschuldigten zu brechen, seine Einwände in rückstandslos verdampfendes Geschreibe verwandelnd. Das ist ein Desaster für eine Wissenschaft, die einst angetreten ist, die Person des Beschuldigten aus den Fängen einer gnadenlosen Vergeltungsjustiz zu befreien.

Strate beschreibt die Psychiatrie nur noch als eine Art von rationalisierendem Irrsinn: ein System, eine Institution, eine Methode, um abweichende Menschen zu entrechten und ihrer Würde zu berauben. Da macht er es sich zu leicht.

In merkwürdig überzogener Form stürzt sich Strate auf den Berliner Psychiater Hans-Ludwig Kröber, dem er gewissenlose Gefälligkeitsbegutachtung unterstellt. Aus den siebziger Jahren weiß Strate – der damals Mitglied einer maoistischen Sekte namens Kommunistischer Studentenverband war – zu berichten, Kröber sei Mitglied einer anderen maoistischen Sekte gewesen. Daher komme „unweigerlich“ der Gedanke auf, die „Grenze zum gemeingefährlichen Wahn“ sei im Leben des Sachverständigen schon immer unklar gewesen. Diese doppelte Denunziation ist nicht witzig und schadet dem Buch.

Strates Vorbild eilten im Spiegel schon die Kommentare der – psychiatrischer Sachkunde unverdächtigen – Journalistin Gisela Friedrichsen voraus; sie wusste über angebliche Charaktermängel des Psychiaters sowie davon zu berichten, Kröber sei mit einem behinderten Bruder „in den Bethelschen Heilanstalten aufgewachsen“; daher komme ihm vielleicht manches durcheinander. Vor wenigen Jahren noch schrieb dieselbe Autorin vibrierende Elogen über die alles überragende Qualität der Kröberschen Gutachten.

Anders als Strate meint, sind Forensische Psychiatrie und Psychologie keineswegs „mittelalterliche“ Systeme mit dem „einzigen Ziel der Stigmatisierung von Menschen“. Seine Behauptungen, der Hexenwahn des 16. Jahrhunderts sei ersetzt durch die Diagnose der Schizophrenie, die Ausrottung des Andersartigen durch die Therapie vermeintlich Kranker, mögen plakativ an Ängste appellieren; zutreffend sind sie nicht.

Die Unterscheidung zwischen Verantwortung und Schicksal, Schuld und Wahn, Lästigkeit und Gefährlichkeit hat alle Gesellschaften beschäftigt und zu einer unendlichen Vielzahl von Abgrenzungen geführt; sie korrespondieren mit dem Stand der sozialen Entwicklung. Das dem magischen Denken nachhängende Entlarven des Bösen hat mit der „Wissenschaft vom Menschen“ wenig gemein, dem die Psychiatrie entstammt.

Richtig ist: „Wissenschaft“ hat einen Hang zum Totalitären. Sie will alles wissen; sie kennt keine Grenzen des Zugriffs auf Seele und Persönlichkeit. Das gilt aber nicht nur für die Psycho-Wissenschaften, sondern für viele wissenschaftliche Anwendungen, die heute selbstverständlich erscheinen: DNA-Analyse, Datenabgleich, Glaubwürdigkeits-Psychologie. Warum sollen wir potenziell gefährliche Menschen nicht mit allen Möglichkeiten der Wissenschaft untersuchen? Warum sollen Motive und Gedanken ein Geheimnis bleiben, wenn es Möglichkeiten zu ihrer Vorhersage gibt? Die radikale Ablehnung Strates bleibt unerklärt.

Die Antwort ergibt sich aus Wortlaut und Geist unserer Verfassung, die eine kulturgeschichtliche Erfahrung reflektiert: weil wir alle – dann und wann, mehr oder weniger, aus diesem oder einem anderen Grund – „gefährlich“ sind. Weil wir – trotzdem – eine Gesellschaft gleichwertiger Menschen sein wollen.

Machen wir uns nichts vor: Vom deutschen Maßregelvollzug nach Guantánamo ist es nur ein kleiner Schritt. Unsere Gewissheit, ihn nicht zu gehen, beruht auf dem Vertrauen, dass von denen, die einen Eid geschworen haben, die Grenze verstanden und mindestens so aufmerksam kontrolliert wird wie jede Sicherheitsschleuse.

Daher ist Gerhard Strates Buch zur Lektüre sehr zu empfehlen, obgleich es Schwächen, Übertreibungen und Redundanzen hat. Seine Stärken liegen da, wo es eng am Fall bleibt. Nicht alle Behauptungen, die der Autor aufstellt, sind richtig. Aber alle seine Fragen sind berechtigt.