Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Ein bemerkenswertes Beispiel für das Zusammenwirken fehlerhafter Gesetzgebung und untauglicher Reparaturversuche durch die Rechtsprechung. Die Rechtskolumne

31. März 2015, 15:42 Uhr

Abweichend von meinem ursprünglichen Plan möchte ich heute noch einmal an das Thema „Gesetzgebung“ anknüpfen. In der letzten Woche habe ich versucht, Ihnen die – ziemlich verunglückte – Strafrechtsnorm des § 297 Strafgesetzbuch als Beispiel für Strukturen und Abläufe darzustellen, die meist das Beste wollen, gelegentlich aber das Gegenteil schaffen. Dazu gehört stets auch die Rezeption einer Norm, also ihre „Verwirklichung“ in der Anwendung. Nur selten misslingt eine Norm schon auf redaktioneller Ebene so gründlich wie § 297 StGB. Viel häufiger sind Verständnisfehler aufseiten des Gesetzgebers, die durch untaugliche Reparaturversuche der Praxis „verschlimmbessert“ werden. Hierfür will ich heute ein in der Rechtspraxis sehr bedeutsames Beispiel vorstellen, das ich letzte Woche schon erwähnt habe.

Erste Runde: Diebstahl

Im 6. Strafrechtsreformgesetz (1998) wollte der Gesetzgeber neben dem einfachen Diebstahl (§ 242 StGB; Strafe ein Monat bis fünf Jahre) und dem etwas höher bestraften „besonders schweren Fall“ des Diebstahls (§ 243 StGB, z.B. bei Einbruch in einen Laden oder bei Diebstahl aus einer Kirche; Mindeststrafe sechs Monate) auch noch einen „schweren“ Diebstahl (§ 244 StGB) regeln; für den letzteren ist die höchste Strafe (bis 10 Jahre) angedroht. Sprachlich ist das etwas verwirrend, weil die „schwere“ Tat höher bestraft wird als die „besonders schwere“; aber das müssen Sie jetzt einmal einfach so hinnehmen; die Erklärung würde zu weit führen.

Der Paragraf 244 des Strafgesetzbuchs unterscheidet einige Fälle, in denen ein Diebstahl zum „schweren“ qualifiziert wird: zum Beispiel beim Wohnungseinbruch oder bei bandenmäßiger Begehung. Wichtig war dem Gesetzgeber eine Variante, die eine erhöhte abstrakte (latente) Gefahr beinhaltet: Diebstahl unter Mitführen von Gegenständen, die zur Verletzung von Menschen geeignet oder bestimmt sind. Solche Gegenstände nannte man seit jeher „Waffen“, wenn sie ihre artgemäße, planmäßige Zweckbestimmung in der Verletzung haben. Das sind zum Beispiel Schusswaffen, Kampfmesser, Schlagstöcke, Schlagringe. Man kann mit ihnen zwar vielleicht auch Dosen öffnen, eine Schraube eindrehen oder Nägel in die Wand schlagen, aber dafür sind sie nicht gedacht. Gegenstände, die keine Waffen sind, sich aber zur Verletzung eignen, wenn sie zweckentfremdet werden, hießen „gefährliche Werkzeuge“. Das können Dosenöffner sein, Schraubendreher oder Hämmer. Sie sind nicht speziell zur Verletzung gemacht, eignen sich aber dafür recht gut.

Es ist nicht zwingend, aber jedenfalls plausibel, dass ein Diebstahl, der unter Mitführung solch gefährlicher Gegenstände begangen wird, gefährlicher ist als ein „einfacher“ Diebstahl. Wenn der Täter auf frischer Tat erwischt wird, ist die Gefahr groß, dass er den Gegenstand zum Einsatz bringt, und sei es auch nur, um eine Fluchtmöglichkeit zu erzwingen. Deshalb formulierte der Gesetzgeber die Fallgruppe „Diebstahl unter Mitführen einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ (§ 244 Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe a). Daraus ergibt sich nebenbei, dass eine „Waffe“ eine Unterform des „gefährlichen Werkzeugs“ ist.

Daneben soll es aber auch noch Gegenstände geben, die nicht „an sich“ gefährlich sind, aber in gefährlicher Weise eingesetzt werden können: Kugelschreiber können Augen ausstechen, Gürtel können drosseln, Plastiktüten können ersticken. Hieraus folgte die zweite Fallgruppe: „Diebstahl unter Mitführen sonstiger Mittel oder Werkzeuge in der Absicht, sie bei der Tat zu verwenden“ (§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b). Lassen wir vorerst einmal dahinstehen, ob das begrifflich stimmig ist oder ob den Gegenständen der Welt hier differenzierende Eigenschaften angedichtet werden, die es in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Gesetzgeber fand es jedenfalls richtig, zwischen mitgeführten Schraubendrehern und mitgeführten Kugelschreibern zu unterscheiden.

In der Gesetzesbegründung – die für die Rechtspraxis stets die erste Auslegungshilfe ist – musste der Gesetzgeber (in diesem Fall: der Verfasser des Gesetzentwurfs, also das Justizministerium) nun freilich noch erläutern, was der Unterschied zwischen „gefährlichen“ und „sonstigen“ Werkzeugen ist. Das, so meinten die Entwurfsschreiber 1998, sei aber ganz einfach, denn der Begriff des „gefährlichen Werkzeugs“ existierte schon jahrzehntelang im Paragrafen 224 (früher: § 223a) des Strafgesetzbuchs, dem Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung. Danach wird schwerer bestraft, wer eine Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs verursacht (statt durch bloßen Körpereinsatz). Also schrieb der Gesetzgeber: „Zur Auslegung des § 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a kann auf den herkömmlichen Begriff des gefährlichen Werkzeugs in § 224 zurückgegriffen werden.“ Erläuterung erledigt!

Aber Ach! Das zuständige Referat des Justizministeriums hatte zwei wirklich wichtige Umstände übersehen: Zum einen ist die Körperverletzung mittels gefährlicher Werkzeuge ein sogenanntes Erfolgsdelikt: Es muss ein „Taterfolg“ – hier also eine Verletzung – eingetreten und gerade durch das Werkzeug verursacht sein. Wenn das passiert ist, ist es natürlich leicht, nachträglich festzustellen, dass das Werkzeug „gefährlich“ war. Zum anderen hatte die hergebrachte Rechtsprechung bei der Körperverletzung noch nie zwischen „gefährlichen“ und „sonstigen“ Werkzeugen unterschieden: Schon für den alten § 223a war es nicht gelungen, eine solche Unterscheidung plausibel zu begründen. Deshalb galt für § 224 (§ 223a alt) seit jeher jeder beliebige Gegenstand als „gefährliches Werkzeug“, mit dem eine „gefährliche Verletzung“ herbeigeführt wurde. Für die Rechtspraxis ergab sich nicht die Verletzung aus der Gefährlichkeit, sondern die Gefährlichkeit aus der Verletzung.

Die Qualifikation des Diebstahls in § 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a setzt aber keinen Verletzungserfolg, sondern nur ein „Mitführen“ des (gefährlichen) Werkzeugs voraus. Es geht hier also unzweifelhaft nur um eine abstrakte Gefahr. Die Auslegung zu § 224, welche auf die „konkrete Art seiner Verwendung“ abstellt, lässt sich daher auf das „Mitführen“ in § 244 nicht übertragen, denn dort gibt es ja gerade keine „konkrete Art der Verwendung“. Die Verweisung des Gesetzgebers zur Auslegung war daher falsch und ging ins Nichts. So rächte sich die sprachliche und inhaltliche Ungenauigkeit bei der Auslegung der gefährlichen Körperverletzung noch nach Jahrzehnten, indem sie gedankenlos auf Vorschriften übertragen wurde (§§ 244, 250), bei denen es darauf ankam. Damit war der Keim für ein begriffliches Desaster gelegt.

Zweite Runde: Raub

Weil sich die Sache mit den gefährlichen Werkzeugen bei § 244 so scheinbar einfach regeln ließ und der Raub (§ 249 StGB) dem Diebstahl sowieso verwandt ist (Diebstahl ist Wegnahme einer fremden Sache ohne Nötigungsmittel, Raub ist Wegnahme mit Nötigungsmitteln, also Gewalt oder Drohung), übertrug man § 244 Abs. 1 einfach Eins zu Eins in § 250, den Tatbestand des „schweren Raubs“. Auch dort ist also seither in Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe a vorausgesetzt: „Mitführen einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“; in Nr. 1 Buchstabe b: „Mitführen eines sonstigen Werkzeugs in der Absicht, es bei der Tat zu verwenden“. Für diese beiden Varianten beträgt die Strafdrohung drei bis fünfzehn Jahre (für den einfachen Raub, § 249, ein bis fünfzehn Jahre).

Hier, in § 250, ist der Gesetzgeber aber noch weiter gegangen als beim Diebstahl. Er hat in Absatz zwei noch einen „besonders schweren Raub“ vorgesehen, für den die Strafdrohung fünf bis fünfzehn Jahre beträgt. Die erste Variante dieser Qualifikationsstufe lautet: Raub unter „Verwenden einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“. Der Gegenstand, der in Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a nur „mitgeführt“ wird, muss also hier „verwendet“ werden, entweder zur Gewaltanwendung oder zur Drohung.

Die zweite Variante lautet: Raub „als Mitglied einer Bande unter Mitführen von Waffen“ (Abs. 2 Nr. 2). Hier muss die Waffe nicht verwendet werden; Mitführen reicht. Dagegen reicht Mitführen von „anderen gefährlichen Werkzeugen“ nicht aus. Der Unrechtsgehalt ist hier durch die bandenmäßige Begehung erhöht.

Nun haben wir die gesetzlichen Ingredienzien für einen Teufelsritt der Rechtsanwendung beisammen. Eine erste Analyse ergibt: Es gibt drei Straf-Stufen (Mindeststrafe ein, drei oder fünf Jahre), deren Voraussetzungen zur richtigen Gesetzesanwendung genau unterschieden werden müssen. Wir müssen dazu drei verschiedene Arten von Gegenständen unterscheiden: Waffen, andere gefährliche Werkzeuge und sonstige Mittel oder Werkzeuge. Das gilt für § 244 und § 250 gleichermaßen. Waffen und gefährliche Werkzeuge sind in § 244 nicht unterschiedlich behandelt, wohl aber in § 250: Dessen Absatz 2 Nr. 3 gilt nur für Waffen, nicht für andere gefährliche Werkzeuge. „Sonstige“ Werkzeuge wirken sich nur bei Einsatzabsicht strafschärfend aus; Waffen und gefährliche Werkzeuge auch beim bloßen Mitführen ohne Verwendungsabsicht.

Dritte Runde: Rechtsprechung

Mit diesen Voraussetzungen gingen Rechtsprechung und Wissenschaft ab 1998 an die Auslegung und Anwendung der genannten Vorschriften. Alsbald stieß man auf den Fehler bei den „gefährlichen Werkzeugen“: Wie soll man die Gefährlichkeit eines in § 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a nur „mitgeführten“ Gegenstands „nach seinem konkreten Einsatz“ bestimmen, da doch die Tatbestände einen solchen Einsatz gar nicht voraussetzen? Es ist schlicht unmöglich. Anders war es erfreulicherweise in § 250 Abs. 2 Nr. 1: „Verwenden“ einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs. Hier konnte man daher, wie von der Körperverletzung gewohnt, nach der „konkreten Art der Verwendung“ schauen: Ein Kugelschreiber ist ein gefährliches Werkzeug, wenn er als Stichwerkzeug eingesetzt wurde. Hier wurde also, wie vom Gesetzgeber vorgeschlagen, die Definition aus § 224 einfach übertragen.

Aber was ist dann mit den Absätzen 1 Nr. 1 Buchst. a? Reicht hier das Mitführen eines Kugelschreibers (ohne Verwendung und ohne Verwendungsabsicht), um aus einem einfachen Diebstahl einen schweren, aus einem einfachen Raub einen schweren Raub zu machen? Zwei Jahre höhere Mindeststrafe für einen Räuber, der Schuhe mit Schnürsenkeln trägt (weil man damit jemanden erdrosseln könnte)? Schwerer Diebstahl (sechs Monate statt ein Monat Mindeststrafe), wenn die Ladendiebin in der Handtasche eine Nagelfeile mit sich führt? Drei Jahre Mindeststrafe für das Tragen eines Gürtels oder einer Krawatte? Können Handwerker, die berufliches Werkzeug dabei haben, überhaupt nur noch schwere Diebstähle und Raube begehen?

Solcher Unfug kann nicht im Sinn des Gesetzes sein. Er verstieße eklatant gegen Grundregeln der Gerechtigkeit und des Schuldprinzips. Er macht die Bestrafung mit schweren Strafen vom puren Zufall abhängig oder von der Willkür und dem Erfindungsreichtum der Auslegung. Denn letztlich gibt es überhaupt keinen Gegenstand auf der Welt, der nicht irgendwie „konkret gefährlich“ verwendet werden kann. Auch mit einem Stück Kuchen kann man jemanden ersticken. Wenn man aber die „konkrete“ Betrachtungsweise des Verwendungstatbestands auf die Mitführen-Varianten nicht übertragen konnte, dann ergab sich als Folge, dass innerhalb derselben Vorschrift ein und derselbe Begriff („gefährliches Werkzeug“) zwei unterschiedliche Bedeutungen hätte – auch dies ein kaum verständliches Ergebnis.

Und auch auf der anderen Seite taten sich ähnliche Lücken oder Widersprüche auf: Reicht es eigentlich aus, wenn das Tatopfer glaubt, ein Gegenstand sei gefährlich? Oder ist eine objektive Gefährlichkeit gemeint? Und im ersten Fall: Was ist, wenn der Täter irrtümlich glaubt, das Opfer glaube irrtümlich, der Gegenstand sei objektiv gefährlich? Auf diese Weise lassen sich zahllose schöne Konstellationen ersinnen. Und es handelt sich dabei keineswegs um weltfremde „Klausurprobleme“, sondern all diese Fälle kommen in der Wirklichkeit ständig vor und müssen entschieden werden.

Scheinwaffen und Lippenpflege

Der BGH tat in dieser Lage, was er in ähnlichen Situationen meistens tut: Erst mal gar nichts. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Vielleicht kommt so ein Fall ja gar nicht vor, oder nicht bis zu uns, oder vielleicht zu einem anderen Senat.

Aber dann kommt es wie immer: Der Fall kommt hundertprozentig, und gleich noch fünf schwierigere dazu. Nun beginnt ein aufgeregtes Forschen und Judizieren. Zwei Jahre nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, gelangten die ersten „Schraubendreher-Fälle“, „Zigaretten-Fälle“ und „Krawatten-Fälle“ zum BGH. Sie schienen lösbar, denn hier wurden diese Gegenstände konkret verwendet (also „klarer Fall des § 250 Abs. 2 Nr. 1“). Nicht verwendete Krawatten kamen vorerst nicht vor, denn den verschreckten Untergerichten war eine Verurteilung wegen „schweren Raubs“ aufgrund des Tragens eines Langbinders oder Hosengürtels zu albern und die Staatsanwaltschaften legten dagegen keine Revision ein.

Stattdessen kamen zunächst die „Scheinwaffen“. Sie funktionieren wie der Scheinriese in Michael Endes Jim Knopf, werden also immer ungefährlicher, je näher man ihnen kommt. Klassische Beispiele: Die Spielzeugpistole, der Theaterdolch.

Nun kommt es darauf an: Ist die Strafe für den „besonders schweren Raub“ so hoch, weil (und wenn) die verwendeten Gegenstände wirklich (objektiv) gefährlich sind? Oder deshalb, weil das Tatopfer durch sie besonders eingeschüchtert wird? Im letzteren Fall würde ja die irrtümliche Annahme ausreichen, der Gegenstand sei gefährlich. Der BGH hat diese Frage lange schwankend behandelt, sich aber dann für eine „objektive“ Auslegung entschieden: „Scheinwaffen“ sind keine „gefährlichen Werkzeuge“, auch wenn das Tatopfer sie irrtümlich dafür hält. Sie sind vielmehr stets nur „sonstige Mittel oder Werkzeuge“. Das heißt umgekehrt: „Gefährliche Werkzeuge“ müssen objektiv tatsächlich „gefährlich“ sein und dürfen nicht nur so scheinen.

Das bedeutet: Eine Spielzeugpistole ist weder eine Waffe noch ein „anderes gefährliches Werkzeug“ im Sinn von § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a. Sie ist vielmehr ein „sonstiges Werkzeug“ im Sinn von Nr. 1 Buchst. b: Sie führt zur höheren Bestrafung (Mindeststrafe drei Jahre) nur dann, wenn der Täter sie mit sich führt, um sie bei der Tat (zur Drohung) zu verwenden.

Dieses Bekenntnis zur „objektiven Gefährlichkeit“ (und deren Fehlen bei Scheinwaffen) stieß nun auf § 250 Absatz 2 Nr. 1: Verwenden von Waffen oder anderen gefährlichen Werkzeugen beim Raub. Was ist „Verwenden“? Man kann ein Werkzeug entweder einsetzen (einen Knüppel zum Schlagen) oder mit dem Einsatz drohen. Nächste Frage: Muss das Werkzeug, dessen „Verwenden“ nur im Drohen besteht, ebenfalls objektiv gefährlich sein, oder muss das Opfer das nur glauben? Große Verwirrung beim BGH. Mal so, mal so. „Lösung“ schließlich: Es kommt darauf an.

Einzelne Senate und Entscheidungen meinten: Man muss die „Scheinwaffen“-Rechtsprechung konsequent anwenden. Also: Wenn der Täter mit der Spielzeugpistole droht, wird sie dadurch nicht „gefährlich“ im Sinn von Absatz 2 Nr. 1, sondern bleibt ein „sonstiges Werkzeug“. Ergo: drei (nicht fünf) Jahre Mindeststrafe. Was aber, wenn der Täter das Opfer mit der Spielzeugpistole auf den Kopf schlägt? Dann, so diese Meinungsgruppe, gilt wieder die allgemeine Regel: „Gefährlich“ ist, was sich gefährlich auswirkt. Das gerade eben noch „sonstige“ Werkzeug wird also zum „gefährlichen Werkzeug“ – fünf Jahre Mindeststrafe. Man beachte: ein Plus von zwei Jahren Mindeststrafe für eine minimale Verletzung, die normalerweise mit einer kleinen Geldstrafe bestraft würde – die herrschende Meinung sieht hier kein Gerechtigkeitsproblem.

Eine andere Meinungs- und Entscheidungsgruppe kritisierte das: Ein Gegenstand kann nicht einerseits gefährlich und andererseits ungefährlich sein, meint sie. Sondern man muss die Sache „subjektiv“, aus Sicht des Tatopfers angehen: Wenn der Täter mit dem Einsatz eines Werkzeugs droht, der nach dem Inhalt der Drohung objektiv (!) gefährlich wäre, dann ist das Werkzeug „gefährlich verwendet“, also die Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs gegeben. Beispiele: Wer mit einem Frühstücksmesser droht, das Opfer zu schneiden, verwendet ein gefährliches Werkzeug; ebenso, wer mit einer brennenden Zigarette droht, das Opfer zu verbrennen. Das soll – neue Ausnahme – aber nur dann gelten, wenn die Drohung auch wahr gemacht werden könnte, weil der Gegenstand, mit dessen gefährlicher Verwendung gedroht wird, sich bei Verwirklichung der Drohung tatsächlich als objektiv gefährlich erweisen würde. Wenn das Messer aus Pappe ist oder die angebliche Pistole ein Spielzeug, dann sollen wieder die „Scheinwaffen“-Grundsätze gelten.

Diese Regel ist, wie Sie vielleicht bemerkt haben, wenig plausibel (um nicht zu sagen: widersinnig), denn sie vertauscht mehrfach die Bezugsebenen. In der Welt des BGH ist das aber egal. Denn Hauptsache ist, was hinten rauskommt. Und das ist allemal gut, wenn es nach Regelmäßigkeit aussieht.

Die genannte Regel ist aber nicht nur schwer verständlich und unlogisch, sondern auch auf ihre Weise genial: Sie verschwurbelt nämlich „objektiv“ und „subjektiv“, einerseits und andererseits in so verteufelter Weise, dass alles eins wird: Objektiv gefährlich ist ein Werkzeug, wenn es als solches glaubhaft beschrieben wird. Für „Scheinwaffen“ gilt das Gegenteil.

Allerdings – nichts ist unmöglich – gibt es auch von dieser verdrehten Ausnahme wieder eine Ausnahme: Auftritt des Lippenpflegestifts der Marke „Labello“: Ein Täter drückte ihn einem Raubopfer in den Rücken und forderte Geld. Das Opfer hielt den Stift für einen Pistolenlauf, fürchtete sich und verzichtete auf Widerstand. Das Landgericht verurteilte den Labelloverwender wegen „schweren Raubs“ in der Variante des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b: Zwar kein Verwenden eines „gefährlichen“ Werkzeugs im Sinn von Abs. 2 Nr. 1 (obwohl ja gefährliche Verwendung angedroht, siehe oben), aber Verwenden eines „sonstigen Werkzeugs“ (wegen objektiver Ungefährlichkeit) – Mindeststrafe drei Jahre (statt einem Jahr).

Der zuständige BGH-Senat hatte nun plötzlich schwere Bedenken gegen die eigene „Scheinwaffen“- Rechtsprechung. Statt sie aufzugeben, hielt er es für besser, die Entdeckung einer neuen Spezies von Fällen – genannt „Fallgruppe“ – zu behaupten. Er hob daher die Verurteilung auf und begründete dies wie folgt: Bei der Verwendung von „Scheinwaffen“ sei zwar – wie der Name schon sagt – stets ein Element der Täuschung (und des Irrtums) enthalten. Wenn das Opfer wüsste, dass die vorgehaltene Pistole nur ein Spielzeug ist, würde es sich ja nicht fürchten. Aber alles müsse seine Grenze haben: Zwar sei eine täuschend echt aussehende Spielzeugpistole eine „Scheinwaffe“, nicht aber eine hellgrüne Wasserpistole oder ein Lippenpflegestift, und ein an den Hals des Opfers gehaltener Strohhalm sei auch dann kein „Scheinmesser“, wenn das Opfer dies glaube. Denn bei objektiver (!) Betrachtung könne auch das dümmste Opfer solche Gegenstände nicht mehr irrtümlich als gefährliche Werkzeuge ansehen.

Deshalb wurde in die rein subjektiv auf dem Irrtum des Opfers beruhende Fallgruppe der „Scheinwaffen“ hier eine objektiv begründete Ausnahmegruppe eingebaut: Die „offensichtlich ungefährlichen Scheinwaffen“. Im (fiktiven!) „Rechtshistorischen Museum“ des Bundesgerichtshofs – der Sage nach kann man dort Exponate besichtigen wie „die Hemmschwelle“, die „erhöhte Hemmschwelle“, den „Stempel des Außergewöhnlichen“, den „sukzessiven Täter“, den verrückten Grenzstein und das angespannte Gewissen – gibt es inzwischen eine ganze Vitrine mit „absolut ungefährlichen“ Gegenständen, die allesamt „Scheinwaffen“ sind, aber dann gleich so viel „Schein“ enthalten, dass sie quasi über das Ziel hinausschießen: Ein kurzes gebogenes Kupferrohr, Nahrungsmittel, diverse Kosmetika, ein Strohhalm. Schwierig wird es mit Sprengsätzen: Sie haben keine anerkannte Gestalt, sodass man, wenn der Täter eine Aktentasche oder eine Grapefruit auf den Banktresen legt, nicht weiß, ob es sich um eine echte Bombe, eine Scheinwaffe oder das Frühstück des Räubers handelt.

Das Ganze ist freilich wiederum logischer Unsinn, denn die Täuschung ist ja nichts, was dem Labello eigen wäre; sie ist Inhalt jeder Drohung mit einer Scheinwaffe. Der BGH hat die Fallgruppe einfach deshalb erfunden, weil er drei Jahre als Mindeststrafe für unangemessen hielt. Er bestraft seither diese Fälle nach dem Grund-Tatbestand des § 249 mit einem Jahr Mindeststrafe, wegen „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“, also so, als habe der Täter überhaupt kein Werkzeug mitgeführt oder verwendet (was ja definitiv nicht stimmt). Ein ernsthafter sachlicher Grund, warum die Verwendung einer Wasserpistole, die das Tatopfer nicht sehen kann, mit einem Jahr Mindeststrafe bestraft wird, die Verwendung einer aus Knetmasse hergestellten Pistolenattrappe, die das Opfer nicht sehen kann, aber mit drei Jahren Mindeststrafe, ist beim besten Willen nicht erkennbar.

Noch absurder und ungerechter wird es, wenn der Täter sein „kurzes gebogenen Kupferrohr“ nicht nur zur täuschenden Drohung einsetzt (ein Jahr Mindeststrafe), sondern dem Tatopfer damit eine blutende Kratzverletzung beibringt: Dann wird die „absolut ungefährliche“ Scheinwaffe flugs zum „gefährlichen Werkzeug“, und die Mindeststrafe schnellt wegen des Kratzers von einem auf fünf Jahre (!) in die Höhe. Verfassungswidriger Auslegungsunsinn? Mitnichten, sagt der BGH: Da machen wir einfach einen „minder schweren Fall des § 250 Abs. 2 Nr. 1“ draus (§ 250 Abs. 3). Das senkt die Mindeststrafe wieder auf ein Jahr. Und schon ist keiner mehr „beschwert“.

Das Ende dieser Kette von Widersprüchlichkeiten ist so deprimierend wie der Anfang: Wenn nämlich die Strafuntergrenze von drei Jahren für „offensichtlich ungefährliche“ Scheinwaffen mithilfe der „objektiven“ Korrektur auf den Grundtatbestand des § 249 (ein Jahr) gesenkt wurde, gilt dann dort wieder, in erneuter Kehrtwendung, uneingeschränkt das subjektive (!) Programm: Für die Tathandlung „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ im Sinn des § 249 kommt es auf das Aussehen und die offensichtliche Ungefährlichkeit des Labello nicht an; hier wird vielmehr zugrunde gelegt, was das Opfer glaubt…

Diese richterrechtlich geschaffene Privilegierung einiger weniger Scheinwaffenbenutzer ist willkürlich. Da sie den Betroffenen nur nutzt, wird sie von ihnen aber natürlich nicht mit der Revision angegriffen. Die Staatsanwaltschaften schweigen. Die übrigen wegen „Scheinwaffen“ nach Paragraf 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Verurteilten sind dadurch zwar beschwert, haben aber schlechte Chancen mit der Verfassungsbeschwerde eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz, weil eine „Gleichheit im Unrecht“ (angeblich) nicht verlangt werden kann …

Hunde und Katzen

Der Tatbestand des Raubs fasert also am unteren Rand in kaum verständlicher Weise aus. Wie steht es weiter oben? Dies lehrt uns der Fall der Schreckschusspistole. Ist die (geladene) Schreckschusspistole – eines der Lieblingsraubmittel – ein „gefährliches Werkzeug“ oder ein „sonstiges“? Ein Strafsenat meinte: Sie ist immer gefährlich (§ 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a). Andere Senate meinten: nicht immer, sondern nur bei konkret gefährlicher Verwendung gefährlich (§ 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, Abs. 2 Nr. 1). Wieder andere meinten, sie sei eine Scheinwaffe. Inzwischen waren seit der Neufassung des Gesetzes vier Jahre vergangen; unzählige Raub- und Diebstahlstaten waren begangen und abgeurteilt worden, die entscheidenden Fragen weiter ungeklärt (oder: mal so, mal so).

Nun kam der Große Senat für Strafsachen des BGH ins Spiel: Dieses Gremium ist zuständig für die Entscheidung von Rechtsfragen, wenn sich einzelne (Straf-)Senate des Gerichts untereinander nicht einigen können und verschiedene Rechtsansichten vertreten. Er besteht aus 11 Richtern: jeweils zwei aus jedem Senat und dem Gerichtspräsidenten als Vorsitzendem. Er wird nicht von sich aus tätig, sondern von einzelnen Senaten bei Divergenzen angerufen. So geschah es im Streit um die Schreckschusspistole als „anderes gefährliches Werkzeug“: Der zweite Strafsenat verlangte eine bindende Klärung durch den Großen Senat.

Der Große Senat hatte daher im Jahr 2003 über folgende Frage zu entscheiden: Ist eine geladene Schreckschusspistole ein „anderes gefährliches Werkzeug“ im Sinn von § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a? Eine ziemlich einfache Frage, so scheint es zunächst. Ihre Beantwortung setzt allerdings voraus, dass zwei andere Fragen geklärt werden: Was ist der Unterschied zwischen einer „Waffe“ und einem „gefährlichen Werkzeug?“, und: Was ist der Unterschied zwischen einem „gefährlichen“ und einem „sonstigen“ Werkzeug?

Einen Anhaltspunkt bot das Gesetz mit der Formulierung „Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug…“ in den §§ 244 Abs.1 Nr. 1a, 250 Abs. 1 Nr. 1a: Hieraus ergibt sich, dass die „Waffe“ stets auch ein „gefährliches Werkzeug“ ist, nicht aber jedes gefährliche Werkzeug auch eine Waffe. „Gefährliches Werkzeug“ ist der Oberbegriff, „Waffen“ sind eine Unterform. Dass man beide unterscheiden muss (!), ergibt sich nicht allein aus dem Wort „anderes“, sondern unmissverständlich aus § 250 Abs. 2 Nr. 2, denn dort geht es nur um Waffen; „andere gefährliche Werkzeuge“ reichen nicht aus. Einen weiteren Fixpunkt für die Beantwortung der Frage bot die jahrzehntealte Rechtsprechung zur Unterscheidung von Waffen und (sonstigen) Werkzeugen: Waffe ist nur, was zur Verletzung seiner Art nach bestimmt ist.

Übertragen auf die Zoologie kann man die Frage wie folgt verdeutlichen: Angenommen, ein Strafgesetz verbietet das Halten von „Hunden und anderen Raubtieren“, und es ist der Fall zu entscheiden, dass jemand eine schwarze Katze hält. Dann würde die Frage an den großen Senat lauten: Sind schwarze Katzen als Raubtiere im Sinn des Gesetzes anzusehen?

Der große Senat überlegte lange. Er sah den groben Fehler des Gesetzgebers. Er sah die Wirrnis der Rechtsprechung. Er sah, dass er eine Grundsatzentscheidung treffen musste. Er fürchtete sich sehr. Und dann entschied er: „Für Schreckschusspistolen wird am Begriff der Waffe nicht festgehalten.“

Dies war, liebe Deutschlehrer, der sprachlogische Super-GAU. Der Offenbarungseid. Der Leitsatz lautete, übertragen auf unser Tier-Beispiel: „Für schwarze Katzen hält der Senat am Begriff des Hundes nicht fest.“ Farewell, Brehm! Adé, Humboldt! Für rote Rosen hält der Senat am Begriff des Pilzes nicht fest. Und für gelbe Unterseeboote nicht am Begriff des Luftfahrzeugs.

Das Ergebnis des der Entscheidung zugrunde liegenden konkreten Einzelfalls war damit natürlich so einfach geworden wie gewünscht: Die Schreckschusspistole wurde als „Waffe“ behandelt. Diese geradezu erbarmungswürdige Neuschöpfung einer „Fallgruppe“ für einen einzigen Gegenstand unter Auflösung des Oberbegriffs gilt seither als „herrschende Auslegung“. Sie widerspricht zwar eklatant jeder Waffen-Definition – die weiterhin verwendet wird! Das ist aber egal, solange es keiner merkt. Merke: Es gibt fliegende gelbe Unterseeboote, und Katzen, die Hunde sind, wenn der Große Senat es sagt. Landgerichte, die es anders machen, werden wegen eines „Rechtsfehlers“ aufgehoben.

Man sollte denken: So etwas kann nicht gut gehen. Es wird ein Aufschrei des Schmerzes ertönen aus den Hallen der Germanisten, den Laboren der Linguisten und den unterirdischen Gängen der Philosophen. Der deutsche Philologenverband wird zum Streik aufrufen und das Feuilleton der F.A.Z. mit Trauerrand erscheinen, bis jener Satz aus der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des BGH getilgt oder zumindest widerrufen ist … Jedoch: Nichts geschah. Die Süddeutsche meldete, Schreckschusspistolen seien ab jetzt Waffen. Auf die Frage, wie es um Brotmesser stehe und Brieföffner, Kieselsteine und Bierkrüge, kamen allenfalls ein paar erbleichte Professoren. Der BGH winkte ab: Diese Frage war ja nicht gestellt.

Das war die letzte Hoffnung: Es komme der Tag, an dem der BGH Farbe bekennen und erklären müsse, was der Unterschied zwischen Waffen und gefährlichen Werkzeugen ist und woran man die Letzteren erkennt, wenn sie nicht verwendet werden. Anlass dafür könne ein Fall des § 250 Abs. 2 Nr. 2 sein: Bandenmäßiger Raub unter Mitführen von Waffen. Dann würde sich enthüllen, was misslungen und schief gelaufen und falsch gemacht worden war. Kein Stein würde auf dem anderen bleiben. Katzen würden wieder Katzen sein dürfen, und fröhliche gelbe Unterseeboote würden aus den Wolken zurücksinken auf den Grund des Meeres, wo die Fische wohnen.

Aber es ist – nicht zum ersten Mal! – auch hier wieder etwas Außerordentliches passiert (oder besser: nicht passiert). Seit zwölf Jahren musste kein einziger Fall entschieden werden, in dem es auf die Unterscheidung zwischen „Waffen“ und „gefährlichen Werkzeugen“ angekommen wäre (§ 250 Abs. 2 Nr. 2). Wie durch ein Wunder haben die Räuber dieser Welt ihre Tätigkeit derart zielgerichtet eingestellt, dass der BGH kein einziges Mal darüber nachdenken und bekennen musste, ob es sich bei jenem Leitsatz um eine Scherzerklärung oder die Auswirkung eines LSD-Trips handelte (so viel zu Revolver).

Dieses Rätsel der faktischen Kraft des Normativen (Palmström-Prinzip) ist gar nicht so selten, wie man glauben könnte: Wenn sich die Rechtsprechung auf den Spuren des Gesetzgebers, durch ständiges Ausweichen und immer neue Differenzierung, dermaßen in einen Winkel unauflöslicher Widersprüche hineingeschafft hat, dass gewisse Fallkonstellationen überhaupt nicht mehr entschieden werden könnten, ohne das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen – dann kommen diese Konstellationen einfach nicht mehr vor. Dann kommt es auf die Rechtsfrage, durch wundersame Fügung, im konkreten Fall nie an. Für den äußersten Notfall halten Paragraf 337 Strafprozessordnung den Begriff des „Beruhens“ und Paragraf 354a Strafprozessordnung den Begriff der „Angemessenheit der Strafe“ bereit. Dann lesen wir: Es könne hier zwar ein Rechtsfehler vorliegen. Es könne auch manches falsch sein, was bisher entschieden wurde. Das könne aber hier dahinstehen, denn das Urteil beruhe nicht auf dem möglichen Fehler. Denn die Strafe „passe“ schon aus anderen Gründen. Ja, so kann man es machen. Manche meinen, das sei die hohe Kunst stromlinienförmiger, also schneller und „effektiver“ Revisionsrechtsprechung. Andere, auch ich selbst, sehen das anders. Ich komme bei Gelegenheit darauf zurück.

Wer ist „schuld“?

Was haben wir jetzt? Ein bekannter deutscher Strafrechtslehrer hat die Entscheidung des Großen Senats und die Folgeentscheidungen als „Chaotisierung des Rechts“ bezeichnet. Da hat er, unter systematischem Blickwinkel, schlicht und ergreifend Recht. Wir haben im Bereich von Diebstahl und Raub (und räuberischer Erpressung), also einem Kernbereich unseres Strafgesetzes, ein Wirrwarr von Unklarheiten geschaffen, das einem die Tränen in die Augen treibt. Es gibt Regeln, Sonderregeln, Ausnahmeregeln, Ausnahmen von den Ausnahmen und Sonderausnahmen von Sonderausnahmen. Schwarze Katzen sind manchmal Raubtiere, manchmal Hunde, manchmal sonstige Tiere. Für kleine schwarze Katzen wird am Begriff des Tiers nicht festgehalten.

Jurastudenten bemühen sich meist im dritten Semester, das zu verstehen, und vergessen es alsbald wieder. Ein Jahr vor dem Examen „lernen“ sie es unter Tränen der Verzweiflung beim Repetitor noch einmal auswendig. Weil sie die Entstehung und die Gründe des Chaos nicht kennen, klappt das, da es an 100 anderen Stellen ganz ähnlich zugeht, fast nie vollständig. Deshalb denken die meisten, Jura sei sehr schwierig.

Wer ist „schuld“? Alle oder niemand? Natürlich liegt dem allen ein eklatanter systematischer Fehler „des Gesetzgebers“ (ursprünglich: des BMJ; übersehen vom Rechtsausschuss, vom Bundesrat und vom Bundestag) zugrunde: Eine abstrakte Gefahr kann man nicht nach Maßgabe ihrer Konkretisierung definieren. Der BGH hat einen schlimmen sprachlogischen Fehler obendrauf gesetzt: Man kann eine übergeordnete Kategorie („Waffen“, „Hunde“) nicht für einen einzelnen Gegenstand „aufheben“ („Schreckschusspistole“, „schwarze Katzen“), ohne die Kategorie insgesamt aufzugeben: Wenn eine Schreckschusspistole eine „Waffe“ ist, muss es selbstverständlich auch ein Kugelschreiber sein; wenn eine schwarze Katze ein „Hund“ ist, ist auch der Tiger einer. Damit hat man – offenkundig – genau die Differenzierung aufgegeben, auf welche es für die Rechtsanwendung ankäme.

Der Gesetzgeber kennt die genannten Fehler inzwischen ganz genau. Er tut aber nichts, denn, so heißt es, die Rechtspraxis habe sich „an die Rechtslage gewöhnt“. Auf diese Weise könnte man sich auch daran gewöhnen, dass das Aufspannen von Regenschirmen bei Graupelschauern verboten ist, weil die Rechtsprechung entschieden hat, dass für Graupel der Begriff des Niederschlags nicht gelte. Oder dass Trunkenheitsfahrten auf Ergometern besonders streng bestraft werden, weil auf die Frage: Ist ein Ergometer ein Fahrzeug? entschieden wurde: „Für ortsfeste Trainingsgeräte wird am Begriff des Kraftfahrzeugs nicht festgehalten“. In Jonathan Swifts Blefuscu köpfte man die Eier am dicken Ende, in Liliput am dünnen. Abweichungen wurden jeweils sehr streng bestraft.

Man könnte nun sagen: Was geht das alles mich an? Ich beabsichtige, in nächster Zeit keinen Raubüberfall unter Mitführen eines Hosenträgers zu begehen, und ich achte darauf, beim Ladendiebstahl keine Lippenpflegestifte zu verwenden. Diese überaus konkrete Betrachtungsweise führt zu dem Ergebnis, dass einem am Strafrecht sowieso fast alles Wurst sein kann, da es ja stets nur die anderen trifft. (Wenn Sie sich da mal nicht täuschen!)

Man könnte auch sagen: Sollen das doch die reparieren, die es angerichtet haben! Das stimmt. Ein erster Schritt auf diesem Weg ist es, die Fehler und (eigenen) Verantwortlichkeiten nicht zu verschweigen, sondern zu offenbaren und verständlich zu machen. Denn es geht ja nicht um jene Art von „Fehlern“, die in den Foren stets 95 Prozent ausmachen: Irgendeine Fehlentscheidung im Einzelfall, die der eine behauptet und niemand nachprüfen kann. Es geht um die Kompliziertheit der Struktur und die Quellen von Ungerechtigkeit, die trotz besten Willens hierin liegen können.

Ich bin mir sicher: Es gibt irgendwo in der Welt der Normen und der Welt der deutschen Sprache einen Raub-Tatbestand, der in sich schlüssig, gerecht und einfach zu verstehen ist. Denn das sind wir dem Räuber doch schuldig, dass wir ihn nach Gesetzen verurteilen, die wir wenigstens selbst verstehen.