Beschluss vom 15. Januar 2015, Beschluss vom 15. Januar 2015
Mit zwei heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt, dass die Pflicht des Vorsitzenden im Strafverfahren, in der Hauptverhandlung den wesentlichen Inhalt von Gesprächen über eine Verständigung mitzuteilen, in erster Linie dazu dient, eine Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die Öffentlichkeit zu ermöglichen. Im Verständigungsgesetz kam es dem Gesetzgeber maßgeblich darauf an, die Transparenz der strafgerichtlichen Hauptverhandlung und die Unterrichtung der Öffentlichkeit zu bewahren. Das Revisionsgericht verkennt daher Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG), wenn es das Beruhen des Strafurteils auf einem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht alleine unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten prüft. Im Verfahren 2 BvR 2055/14 hat die Kammer einen Beschluss des Bundesgerichtshofs aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Im Verfahren 2 BvR 878/14 hat die Kammer die Verfassungsbeschwerde aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles hingegen nicht zur Entscheidung angenommen.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Den beiden Verfassungsbeschwerden liegen strafrechtliche Verurteilungen des Landgerichts Karlsruhe (2 BvR 878/14) und des Landgerichts Braunschweig (2 BvR 2055/14) zugrunde. In beiden Ausgangsverfahren wurden – außerhalb der Hauptverhandlung – Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung geführt. In der Hauptverhandlung gab der Vorsitzende jeweils bekannt, dass die Möglichkeit einer Verständigung erörtert worden sei, machte jedoch keine Angaben zum Inhalt dieser Gespräche. Eine Verständigung kam im weiteren Verlauf nicht zustande. Im Revisionsverfahren stellte der Bundesgerichtshof in beiden Ausgangsverfahren einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO fest. Nach dieser Vorschrift hat der Vorsitzende in der Hauptverhandlung über den wesentlichen Inhalt von Verständigungsgesprächen zu informieren. Die Revision blieb jedoch in beiden Ausgangsverfahren ohne Erfolg, weil die landgerichtlichen Urteile nach Ansicht des Bundesgerichtshofs nicht auf diesem Verstoß beruhten. Die Angeklagten hatten nämlich in beiden Fällen deutlich gemacht, dass sie zu einem Geständnis ohnehin nicht bereit gewesen wären.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
- Der Bundesgerichtshof verkennt Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Verständigung im Strafprozess, indem er das Beruhen des landgerichtlichen Urteils auf dem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO allein unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten prüft und die Kontrollmöglichkeit der Öffentlichkeit außer Acht lässt.
- a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen erhält durch die gesetzliche Zulassung der in eine vertrauliche Atmosphäre drängenden Verständigungen zusätzliches Gewicht. Der Gesetzgeber hat dem durch die Mitteilungspflicht in § 243 Abs. 4 StPO Rechnung getragen. Die Öffentlichkeit kann ihre Kontrollfunktion nur ausüben, wenn sie die Informationen erhält, die zur Beurteilung der Angemessenheit einer etwaigen Verständigung erforderlich sind. Nur so bleibt der gerichtliche Entscheidungsprozess transparent und die Rechtsprechung auch in Verständigungsfällen für die Allgemeinheit durchschaubar.
Zugleich dienen die Transparenzvorschriften des Verständigungsgesetzes dem Schutz des Angeklagten vor einem im Geheimen sich vollziehenden „Schulterschluss“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Intransparente, unkontrollierbare „Deals“ sind im Strafprozess wegen der mit ihnen verbundenen Gefährdung des Schuldprinzips, der darin verankerten Wahrheitserforschungspflicht und des Prinzips des fairen Verfahrens bereits von Verfassungs wegen untersagt.
- b) Diese Zusammenhänge verkennt der Bundesgerichtshof in seinen Entscheidungen. Der Schutzgehalt des § 243 Abs. 4 StPO, der unabhängig vom Aussageverhalten des Angeklagten Geltung beansprucht, hätte bei der Beruhensprüfung Berücksichtigung finden müssen.
- Im Verfahren 2 BvR 2055/14 wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs daher aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Im Verfahren 2 BvR 878/14 hat der Bundesgerichtshof ein Beruhen des landgerichtlichen Urteils auf dem Transparenzverstoß hingegen auch deshalb verneint, weil im konkreten Fall ausnahmsweise davon auszugehen sei, dass die Gespräche nicht auf eine unzulässige Absprache gerichtet gewesen seien. Diese Erwägung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
- a) Bei einem Verstoß gegen Transparenz- und Dokumentationspflichten wird sich in den meisten Fällen nicht sicher ausschließen lassen, dass das Urteil auf eine gesetzwidrige „informelle“ Absprache oder diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht. Bei der Prüfung, ob sich ein Beruhen des Urteils auf einem Transparenzverstoß ausnahmsweise ausschließen lässt, sind die Revisionsgerichte nicht gehindert, Art und Schwere des Verstoßes zu berücksichtigen. Ferner kann von Bedeutung sein, welcher Art die Gesprächsinhalte waren, die in der Hauptverhandlung nicht mitgeteilt wurden, sofern sie sich zweifelsfrei feststellen lassen. Das Stattfinden von Gesprächen, die auf die Herbeiführung einer gesetzwidrigen Absprache gerichtet waren, wird allerdings umso weniger auszuschließen sein, je schwerer der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht wiegt.
- b) Im Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde 2 BvR 878/14 hat sich der Vorsitzende zwar nicht zum genauen Ablauf und Inhalt der Verständigungsgespräche geäußert, was eine Verletzung der Mitteilungspflicht darstellt. Er hat jedoch offengelegt, dass entsprechende Gespräche stattgefunden haben und dass diese ergebnislos verlaufen sind. Ferner enthielt die Revisionsbegründung detaillierte Stellungnahmen der erstinstanzlichen Verteidiger, aus denen sich Ablauf und Inhalt der Gespräche ergaben. Das Revisionsgericht konnte hieraus zweifelsfrei entnehmen, dass die Gespräche nicht auf die Herbeiführung einer gesetzwidrigen Absprache gerichtet waren. Auch die Revisionsbegründung selbst gelangt zu dieser Schlussfolgerung. Unter diesen Umständen konnte der Bundesgerichtshof ausnahmsweise ein Beruhen des landgerichtlichen Urteils auf der Verletzung der Mitteilungspflicht verneinen.
(Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung vom 12. Februar 2015)