Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Der Bundesgerichtshof entscheidet in Strafsachen als letzte Instanz allein auf Grundlage der Akten. In 90 Prozent der Fälle aber ohne deren Lektüre. Wie kann das sein?

9. Juni 2015, 15:54 Uhr

Ende dieser Woche findet in Karlsruhe, fernab vom Trubel der Welt, in den Räumen des Bundesgerichtshofs wieder der sogenannte „Karlsruher Strafrechtsdialog“ statt. Das ist eine private Tagung, zu der Richter des Bundesverfassungsgerichts, die Strafrichter des BGH, die Revisionssachbearbeiter des Generalbundesanwalts (GBA) sowie Strafrechtswissenschaftler deutscher Universitäten eingeladen werden (Durchschnittliche Anwesenheit: Null Verfassungsrichter, zehn Bundesrichter, zehn Mitarbeiter des Generalbundesanwalts, zwanzig Professoren, dreißig wissenschaftliche Mitarbeiter). Der titelgebende „Dialog“ soll stattfinden zwischen der Strafrechtswissenschaft und der obersten Strafgerichtsbarkeit. Er leidet stets darunter, dass der Dialogbeitrag der Richter und Bundesanwälte vor allem aus anhaltendem Schweigen zu bestehen pflegt. Umso enthusiastischer fallen die Gruß- und Schlussworte aus.

Ich will die Gelegenheit zum Anlass nehmen, Sie, Leserinnen und Leser – und vielleicht auch den ein oder anderen Teilnehmer – mit ein paar revisionswissenschaftlichen Geheimnissen vertraut zu machen. Denn dem Rechtsunterworfenen – nicht nur, aber insbesondere, wenn er betroffen ist – gilt die Revision in Strafsachen als eines der letzten Geheimnisse der Welt.

Manche mögen fragen, warum die Revision in Strafsachen sie interessieren sollte, da sie weder Bundesrichter noch Verbrecher noch Strafverteidiger seien oder zu werden wünschen. Hunderttausende junge Menschen erlangen mit Traumnoten die Allgemeine Hochschulreife, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben, was eine Strafkammer ist oder wie ein Gesetzgebungsverfahren abläuft. Solches Detailwissen, sagt das Curriculum, braucht kein Mensch, um Banker oder Orthopäde zu werden!

Wer diese Kolumne liest, weiß es besser: Zum einen sollte der aufgeklärte Bürger über Grundkenntnisse des Funktionierens derjenigen Macht verfügen, die als „staatliche“ sein Leben bestimmt. Zum anderen verwirklicht sich – oder eben auch nicht – hier, in der Realität, was in den großen Formeln und Reden uns als „Rechtsstaatliche Ordnung“ in den Ohren klingelt. Wem der Rechtsstaat im Kleinen, Einzelnen gleichgültig ist, der wird sein Verglühen erst bemerken, wenn es zu spät ist.

Grundkurs: Bundesgerichtshof

Der Bundesgerichtshof (BGH) ist eines der fünf obersten Bundesgerichte. Diese stehen an der Spitze der fünf Gerichtsbarkeiten: Verwaltung, Finanzen, Soziales, Arbeit, „Ordentliche Gerichtsbarkeit“. Letztere ist der größte Zweig, er umfasst das allgemeine Zivilrecht und das Strafrecht. Bei den „großen“ Strafsachen, also den Anklagen wegen schwerer Straftaten, urteilt in erster Instanz das Landgericht. Dort entscheidet eine „große Strafkammer“ aus drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Gegen ihre Urteile gibt es keine Berufung, sondern nur das Rechtsmittel der Revision. Dafür ist der Bundesgerichtshof zuständig.

Der BGH ist das oberste Gericht in einer Pyramide von 24 Oberlandesgerichten (mit ebenso vielen Generalstaatsanwaltschaften), 115 Landgerichten (mit jeweils einer Staatsanwaltschaft) und 646 Amtsgerichten. Er entscheidet in letzter Instanz, gegen seine Entscheidungen gibt es keine Rechtsmittel mehr. Über dem BGH ist daher, wie ein etwas resigniertes Sprichwort sagt, „nur noch der blaue Himmel“. Das ist gut so: Irgendwo muss Schluss sein; irgendeine Instanz muss das letzte Wort haben, sonst währt der Streit im Einzelfall ewig. Umso wichtiger ist es, dass die Entscheidungen des BGH formal und inhaltlich dieser Verantwortung gerecht werden. Vertrauen und Rechtsfrieden können nur entstehen, wenn für die Macht des letzten Wortes Legitimation hergestellt wird: also Glaubwürdigkeit.

Beim BGH gibt es fünf Strafsenate. Sie teilen sich die Zuständigkeit für die strafrechtlichen Revisionen nicht inhaltlich (wie die Zivilsenate), sondern bezirksmäßig auf. Vier der fünf Strafsenate haben jeweils sieben Mitglieder, einer hat acht. Diese 36 Richter stellen das Personal der „Obersten Gerichtsbarkeit“ in Strafsachen für die Bundesrepublik.

„Richter“ ist die Berufsbezeichnung für eine Person. Wichtiger ist die Bezeichnung „Richter“ aber in anderem Sinn: „Der gesetzliche Richter“ ist in Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz jedem garantiert, der vor deutschen Gerichten Prozesse führt oder angeklagt ist. „Gesetzlich“ ist ein Richter, dessen Zuständigkeit für diesen Einzelfall durch eine allgemeine Regelung vorab bestimmt ist. Dieser „gesetzliche Spruchkörper“ kann ein einzelner Strafrichter sein, eine Kammer beim Landgericht oder ein Senat beim BGH: Gesetzlicher Richter ist auch jeder einzelne Richter, der dem zuständigen Spruchkörper aufgrund allgemeiner Regeln angehört. Kurz gesagt: Der Fall kommt zum Richter, nicht der Richter zum Fall.

Aufbaukurs: Revision in Strafsachen

Die Revision ist das einzig zulässige Rechtsmittel gegen Urteile der Großen Strafkammern der Landgerichte. Anders als bei der „Berufung“ gibt es keine neue Beweisaufnahme. Die Grundlage der Entscheidung des Revisionsgerichts ist niemals eine neue „Beweisaufnahme“ (also eine Vernehmung des Angeklagten, der Zeugen und Sachverständigen), sondern ausschließlich der Text des angefochtenen Urteils sowie der Text der „Revisionsbegründung“, also der vom Strafverteidiger formulierte Schriftsatz, mit dem das Urteil angegriffen wird. Hinzu kommt noch eine Stellungnahme des Generalbundesanwalts.

Die „Endkontroll-Abteilung“ der Strafjustiz

Mit der Revision kann ausschließlich geltend gemacht werden, dass entweder die „Feststellungen“ des Erstgerichts den Schuldspruch nicht tragen. Das ist die sogenannte „Sachrüge“ (Beispiele: A schlägt B einen Zahn aus – das Gericht verurteilt wegen „Diebstahl“. Oder: Das Gericht ist von der Täterschaft des A überzeugt, weil Zeuge Z ihn genau gesehen habe. Aus den Urteilsgründen ergibt sich aber, dass Z blind ist). Die zweite Möglichkeit ist, dass die Feststellungen des Erstgerichts zwar den Schuldspruch rechtfertigen, aber auf einem fehlerhaften Verfahren beruhen. Das ist die sogenannte „Verfahrensrüge“ (Beispiele: Zeuge B wurde vom Vorsitzenden über seine Wahrheitspflicht nicht belehrt. Oder: Das Geständnis des Angeklagten wurde durch Folter erzwungen. Oder: Das Gericht war nicht richtig besetzt).

Das ist der Rahmen, in dem das strafrechtliche Revisionsverfahren spielt: Ungefähr 3.000 erstinstanzliche landgerichtliche Urteile werden pro Jahr mit dem Rechtsmittel der Revision angefochten, über diese entscheiden die fünf Strafsenate des Bundesgerichtshofs. Sie sind die „Endkontroll-Abteilung“ der Strafjustiz: Nur etwa zwei Promille der Strafverfahren erreichen die Ebene des BGH.

Wer in der „Endkontrolle“ eines Hochtechnologie-Unternehmens arbeitet, muss mehrere Voraussetzungen mitbringen und gewisse mentale Anforderungen erfüllen. Er/Sie muss: Ahnung haben von der Fertigung bis ins Detail. Wissen, wo und wie man Fehler machen und wie man sie verschleiern kann. Bereit sein, sich bei den Kollegen aus der Fertigung unbeliebt zu machen. Er muss sich bewusst sein, dass er nur jedes tausendste Endprodukt sieht und dass es darauf ankommt, den Standard hoch zu halten, nach dem die übrigen 999 sich richten müssen. Über allem steht: Er oder sie muss die Bereitschaft haben, Fehler zu finden. Ein überdrehter, kleinkarierter Fanatiker ist hier ebenso fehl am Platz wie ein Charakter, der meint, man müsse es „nicht immer so genau“ nehmen, und dessen oberste Prüfungsregel ist, den armen Kollegen aus der Produktion möglichst keine Schwierigkeiten zu machen. Anders gesagt: Wer von der Produktion in die Endkontrolle wechseln möchte, sollte sich das vorher gut überlegen. Das gilt für die Herstellung von feinmechanischen Präzisionsapparaten ganz genauso wie für die Justiz.

Parallelkurs: Revisionsrichter

Der Kolumnist ist seit 15 Jahren Revisionsrichter und seit einiger Zeit Vorsitzender eines Strafsenats am BGH. Er ist damit „gesetzlicher Richter“ im oben beschriebenen Sinn. Senatsvorsitzende hießen bis 1972 „Senatspräsidenten“. Sie werden besoldet wie Präsidenten eines Oberlandesgerichts, also eine Stufe über einem Abteilungsleiter beim Generalbundesanwalt und eine Stufe unter einem Abteilungsleiter beim Bundesministerium der Justiz, jedenfalls zwei Stufen über dem „einfachen“ Bundesrichter. Nun darf man sich die Besoldungsstufen im Öffentlichen Dienst nicht als Stufen einer Himmelsleiter zum Reichtum vorstellen. Über die Besoldung eines Bundesrichters lächeln der örtliche Sparkassenvorstand und der Apotheker um die Ecke. Besoldungsstufen sind eher „Bedeutungsstufen“: Je höher die Ziffer, desto größer die Macht und desto wichtiger der Beamte.

Bei Richtern ist das mit der Wichtigkeit aber so eine Sache: Sie sind nämlich nicht weisungsabhängige Beamte, sondern qua Verfassung „unabhängig“. Ein Richter hat einen Dienstvorgesetzten (das ist der Präsident des Gerichts), der ihm sagen darf, in welchem Zimmer er arbeitet und dass er nicht in kurzen Hosen zur sommerlichen Sitzung erscheinen darf. Mehr nicht. Ein Richter hat, was seine richterliche Tätigkeit betrifft, keinen „Chef“. Deshalb ist die übliche journalistische Fixierung auf den oder die Vorsitzende(n) eines Spruchkörpers ebenso dumm wie irreführend, ebenso wie die notorische Bezeichnung von Gerichtspräsidenten als „höchste Richter“. Die Präsidenten-Tätigkeit ist eine Position der Justiz-Verwaltung, sie hat mit der richterlichen Entscheidungstätigkeit nichts oder fast nichts zu tun. In den Spruchkörpern ist es ähnlich: Der oder die Vorsitzende leitet die Beratungen und Verhandlungen und verkündet die Entscheidungen, hat aber auf deren Inhalt keinen größeren Einfluss als jeder Beisitzer. Das alles sind keine „Formalitäten“, sondern Bedingungen rechtsstaatlicher Ordnung.

Früher, bis Anfang der 1990er, waren die Senatsvorsitzenden beim BGH erstaunlich mächtige Menschen: 600 Revisionen kommen pro Jahr auf jeden einzelnen Strafsenat, sie gelangen über den Generalbundesanwalt (GBA) an das Gericht und werden dem Vorsitzenden in Form einer Revisionsakte vorgelegt, die „Senatsheft“ heißt. Sie enthält: das angefochtene Urteil, die Revisionsbegründung(en) und die Stellungnahme der Bundesanwaltschaft. Die Akten sind zwischen 40 und 1.000 Seiten stark, im Durchschnitt vielleicht 80 bis 100 Seiten. Der Vorsitzende liest alle diese Akten, mal mehr, mal weniger genau. Dann „teilt er sie zu“.

Das ist ein magischer Moment des Revisionsverfahrens: Der oder die Senatsvorsitzende vollzieht den Akt der „Zuteilung“ (oder „Zuschreibung“). Wenn Senatsvorsitzende über ihre Arbeit berichten, wird das Wort oft mit einem gewissen Unterton ausgesprochen, so wie: „Diskontsatzerhöhung“ oder „Examensergebnis“ oder „Superzahl“. Irgendetwas Bedeutendes also, das die Person, die es vollzieht, heraushebt aus der Masse des Einfachen.

Tatsächlich ist die Sache nicht wirklich bedeutend; überdies ist es eine Tätigkeit, die jede(r) Strafkammervorsitzende an allen Landgerichten Deutschlands jeden Tag vollzieht, wenn er eine neu eingehende Sache verteilt. Es wird aus dem Kreise der Senatskollegen für jeden einzelnen Revisionsfall ein sogenannter „Berichterstatter“ (BE) bestimmt. Das ist derjenige Richter, der den Fall als Sachbearbeiter betreut, die Entscheidungsentwürfe schreibt und in der Verhandlung oder Beratung einen Sachbericht erstattet. Der Berichterstatter hat regelmäßig die größte Detailkenntnis eines Falls. Er bestimmt weithin die Auswahl von „Problemen“ oder Rechtsfragen, sichtet die Rechtsprechung und gegebenenfalls die Fachliteratur und formuliert Vorschläge.

Sie erinnern sich: Jeder Senat hat mindestens sieben Mitglieder, der „Gesetzliche Richter“ beim BGH ist nach der Strafprozessordnung aber eine Gruppe von fünf Richtern. In jedem Senat müssen daher mehrere Spruchgruppen gebildet werden. Im 2. Strafsenat, dem der Kolumnist angehört, sind das drei Gruppen, die in unterschiedlicher personeller Zusammensetzung für je ein Drittel der eingehenden Verfahren zuständig sind. Jeder Beisitzer ist Mitglied in zwei Spruchgruppen. Der Vorsitzende in allen dreien.

Bis 1992 bestimmte der Senatsvorsitzende aus eigener Weisheit den Berichterstatter, wie es ihm gefiel. Das ist an sich nicht bedenklich, denn es gibt kein Verfassungsrecht auf den „gesetzlichen Berichterstatter“. Aber wenn es verschiedene Sitzgruppen gibt, wird mit der Auswahl des Berichterstatters zwingend zugleich die Sitzgruppe, also der gesetzliche Richter bestimmt. Das ist das glatte Gegenteil einer „nach allgemeinen Regeln im Vorhinein festgelegten Zuständigkeit“, wie es das Grundgesetz für den „gesetzlichen Richter“ fordert. Es ist, genauer gesagt: die Tür zur Willkür. Diese stand nicht nur offen, sondern wurde auch durchschritten. Der „Senatspräsident“ konnte sich durch Bestimmung des Berichterstatters auch die Sitzgruppe aussuchen, in der er eine Sache beraten wollte. Er konnte durch die Auswahl des Berichterstatters Personalpolitik betreiben (etwa indem der eine nur die „schwierigen“ und ein anderer nur die „einfachen“ Sachen bearbeiten muss) und auf das Ergebnis einwirken (etwa indem er sich den Berichterstatter aussuchte, von dem er wusste oder annahm, er werde in der Sache am ehesten die von ihm für richtig gehaltene Meinung vertreten).

Wer diese banalen Tatsachen und auf der Hand liegenden Manipulationsmöglichkeiten im Jahr 1991 offen ansprach, riskierte Kopf und Kragen. Die Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) über den gesetzlichen Richter sollten nämlich, nach damals „herrschender Meinung“ im BGH, für alle Gerichte in Deutschland gelten – nur nicht für den BGH selbst. Angeblich, weil die Sache es erfordere: Beim Bundesgerichtshof sei das Niveau der Diskussion dermaßen hoch, dass es auf Fragen der Gerichtsverfassung nicht mehr ankomme. Das war schon damals Unsinn. Und jeder Richter weiß natürlich, dass es für die Frage des „gesetzlichen Richters“ nicht darauf ankommt, ob tatsächlich manipuliert wird, sondern allein darauf, ob manipuliert werden kann.

Es kam, wie es kommen musste. Irgendjemand hat es dann doch einmal gemerkt, gedacht und geschrieben, und wenn ein solcher Gedanke einmal in der Welt ist, frisst er sich weiter. Nicht die weise Prozessrechtswissenschaft hat den Fehler seinerzeit aufgedeckt, sondern ein Bundesrichter aus einem Zivilsenat. Die Wirkung seiner Veröffentlichung war wie ein Schlag ins Hornissennest: Zunächst behaupteten sämtliche Senatsvorsitzende, es sei eine beleidigende Unterstellung, dass ihre „Zuschreibung“ eines Falles auf einen bestimmten Berichterstatter jemals anderen als rein sachlichen Zwecken gedient habe. Genau dieses Argument hatten sie den Landgerichten aber Jahrzehnte lang als belanglos um die Ohren gehauen, wenn diese sich nicht bis auf den letzten Spiegelstrich an die Vorgaben des Gerichtsverfassungsgesetzes hielten.

„Drei zu Zwei ist einstimmig“

Nachdem die Stellungnahmen verrauscht waren, wonach es mit dem „Wesen des Revisionsrechts“ unvereinbar sei, sich an das Gesetz zu halten, war der Spuk vorbei: Der Gesetzgeber schrieb Paragraf 21g ins Gerichtsverfassungsgesetz. Danach müssen sich die Senate des BGH an dieselben allgemeinen Regeln halten wie alle anderen Gerichte auch. Vom nächsten Tag an ging das problemlos.

Leistungskurs: Was soll’s?

Zurück zur Revision. Das Reichsgericht, Erblasser des BGH, entschied alle Fälle durch Urteil, also in öffentlicher Hauptverhandlung. Damals ging es nur um Formalia und Rechtsfragen; da haute ein Senat bis zu tausend Urteile im Jahr hinaus. Später wurden Ausnahmen eingeführt: Man konnte auch durch einstimmigen Beschluss ohne Hauptverhandlung entscheiden, wenn die Revision unzulässig war. Schließlich dann der Dammbruch: Verwerfung der Revision durch einstimmigen Beschluss ohne Verhandlung, wenn die Revision „offensichtlich unbegründet“ ist, und Aufhebung des Urteils durch Beschluss, wenn sie (einstimmig) begründet ist. Heute werden mehr als 90 Prozent aller Revisionen durch Beschluss entschieden. Davon sind wiederum mindestens 80 Prozent Verwerfungen als „offensichtlich unbegründet“.

Das gesetzliche (!) Erfordernis der „offensichtlichen“ Unbegründetheit gilt schon lange als Gesetzesfolklore. Heute wird in den Senaten über eine Revision manchmal stundenlang streitig beraten. Wenn am Ende eine „einstimmige“ Entscheidung herauskommt, gilt diese trotzdem als „offensichtlich“. Es können auch Rechtsmeinungen „offensichtlich“ sein, die gänzlich neu sind und noch nie vertreten wurden. Das ist, nach den Maßstäben der Sprache, natürlich Unsinn. Der Widerspruch zwischen Gesetzeswortlaut und Praxis wird aber von der herrschenden Meinung dahin gelöst, man dürfe das Wort „offensichtlich“ nicht so genau nehmen. Befürworter einer Reform schlagen seit Langem vor, das Wort zu streichen.

In der Praxis der Strafsenate werden 550 Sachen pro Jahr, das heißt zehn bis fünfzehn Sachen pro Woche beraten. Gibt es Meinungsdifferenzen, wird gelegentlich lange diskutiert. Wenn am Ende eine Stimme gegen vier steht, wird geklärt, ob der eine sich fügt und einen „einstimmigen“ Beschluss unterschreibt. Wer das nie oder selten tut, gilt bald als „schwierig“: Er oder sie „hält den ganzen Laden auf“, „macht den Senat kaputt“, ist „unkollegial“. Anders gesagt: Es wird informell erwartet, dass man sich an die Regel hält: „Vier zu Eins ist einstimmig“. Und in vielen Fällen gilt: „Drei zu Zwei ist einstimmig“. Ausnahmen sind sogenannte „Herzblut“-Fälle: Wenn es einem einzelnen Bundesrichter gelingt, glaubhaft den Eindruck zu erwecken, es gehe um eine ihm besonders wichtige Frage, darf er einmal „den Senat in die öffentliche Hauptverhandlung treiben“. Dann beteuern die Mitglieder der Mehrheit: Das sei überhaupt nicht schlimm. Das sei das gute Recht des Abweichlers. Das sei völlig normal. Schon das Ausmaß demonstrativer Akzeptanz der Unabhängigkeit signalisiert: Wenn er das mehr als zweimal im Monat macht oder in der derselben Frage mehrfach, wird es rasch ungemütlich.

Das festzustellen ist weder böse Missdeutung noch Denunziation. Denn es ist – ob Sie es glauben wollen oder nicht – nichts anderes als der Ausdruck von „Normalität“: Es handelt sich nämlich um Mechanismen der Kommunikation, die von derartigen Strukturen zwangsläufig hervorgebracht werden. Machen wir uns die Lage noch einmal klar: Es gibt ein aufwendiges Erledigungsverfahren (also Hauptverhandlung und Urteil) und ein einfaches Verfahren (Beschluss mit kürzestmöglicher Begründung). Das einfache Verfahren setzt Einstimmigkeit voraus, das andere nicht. Was soll da anderes herauskommen als ein gnadenloser informeller Druck zur Einstimmigkeit? Das wäre in jedem Betrieb und jeder Verwaltung der Welt so. Dass es beim Bundesgerichthof nur deshalb anders ist, weil es nicht sein soll, ist nicht mehr als ein ziemlich frommer, aber gleichwohl alberner Wunsch.

An dieser Stelle treten selbstverständlich die Verteidiger des (vortrefflichen) „Richterbilds“ gravitätisch aus den Büschen: Wie kann man nur anzunehmen erwägen, meinen Sie kopfschüttelnd, ein deutscher Richter lasse sich durch solcherlei Druck bewegen, die heilige Pflicht der Unabhängigkeit zu vernachlässigen? Gibt es denn, Ihr Nestbeschmutzer, einen einzigen Beweis, dass jemals ein Richter so oder so gestimmt hat, bloß weil er sich anpassen wollte, weil er befördert werden wollte, weil die meisten Menschen es nicht aushalten können, fünfzehn Jahre lang der Außenseiter zu sein? Und vorsorglich, wenn doch: Allenfalls Ausrutscher! Wir kennen Sie ja, wir bedauern sie. Kein Grund, an der Struktur etwas zu ändern!

Wer so spricht, hat nichts verstanden oder alle Hoffnung fahren lassen. Er bastelt sich die Wirklichkeit seines Seins aus den Puzzelteilen des Sollens und ist anschließend beeindruckt von der Größe der Kraft, die ihm aus dem Spiegel entgegenblickt.

Parallelkurs: Augen, Ohren und eine goldene Regel

Die einzige, grundlegende Aufgabe des jeweils zuständigen Gremiums („Spruchgruppe“) beim Revisionsgericht ist es, die angefochtenen Urteile auf Rechtsfehler zu untersuchen. Das Revisionsgericht prüft, ob wohl ein Rechtsfehler geschehen ist, auf dem das Urteil des Landgerichts beruht (Paragraf 337 Strafprozessordnung). Das einzige, was es zu diesem Zweck machen kann und muss (!) ist, das angefochtene Urteil möglichst genau zu lesen und zu analysieren. Als Grundlage der letztinstanzlichen Entscheidung jedes Falls steht allein der Text des Urteils plus die Revisionsbegründung zur Verfügung, dazu noch eine kurze Stellungnahme eines Mitarbeiters des Generalbundesanwalts.

Welches Verfahren, liebe Leser, würden Sie für die Lösung dieser Aufgabe vorschlagen? Ich nehme an: Sie würden die Unterlagen kopieren lassen und an die fünf gleichberechtigten Mitglieder des Entscheidungsgremiums verteilen, damit diese sich ein Bild von der Richtigkeit des Urteils machen können. Genau so wird es auch gemacht – manchmal. Nämlich immer dann, wenn ein Strafsenat durch öffentliche Hauptverhandlung entscheiden will oder muss. Das ist aber nur in fünf Prozent der Fälle so. Beim gesamten Rest geht es anders zu:

Wie schon ausgeführt, liest der Vorsitzende des jeweiligen Senats alle eingehenden Revisionsakten und „teilt sie zu“, das bedeutet: er macht ein Zeichen unter den Namen des Berichterstatters, den die Geschäftsstelle nach der allgemeinen Regelung (nach Endziffern) schon eingetragen hat. Früher war, wie oben ausgeführt, diese Zuteilung ein Zeichen der Macht des Vorsitzenden. Heute halten einzelne Senate daran immer noch fest; in der Regel könnte die Zuteilung aber genauso gut die Geschäftsstelle erledigen. Warum also wird sie weiterhin gemacht?

Von „Vier Augen“ steht in der Strafprozessordnung kein Wort

Hier kommt ein interessanter Begründungsmechanismus in Gang. Er beruht auf einer verdrehten Anwendung der goldenen Regel: „Vier Augen sehen mehr als zwei.“ Sie hat im Zeitalter der Compliance besondere Bedeutung erlangt und auf diesem Gebiet einen überwiegend qualitativen Sinn. Sie gilt aber natürlich auch quantitativ: Zwei Augen sehen mehr als eines, fünf mehr als drei, zehn mehr als vier, und so weiter. Dass dies wahr ist, lässt sich beim besten Willen nicht bestreiten.

Nun muss man aber wissen, wie die Mitglieder des zuständigen Strafsenats in den 90 Prozent der Beschluss-Sachen Kenntnis vom Inhalt der Revisionsakte erlangen: Wundersamerweise nämlich nicht durch Lesen der Akte! Ihnen erschließt sich der gesamte Verfahrensstoff vielmehr allein durch den sogenannten „Vortrag“ des Berichterstatters, mit anderen Worten: Sie lassen sich den Inhalt erzählen. Und das geht so:

Vom Vorsitzenden gelangt die Akte zum Berichterstatter (BE). Der liest sie und bereitet die Entscheidung vor. Wie er/sie das macht, ist ihm/ihr überlassen. Er/sie bestimmt auch den Termin der Beratung: Er „bringt“ die Sache, wann es ihm oder ihr gefällt (also wenn er/sie meint, inhaltlich zur Entscheidung bereit zu sein). Randbemerkung: Es liegt auf der Hand, dass hier eine weitere Möglichkeit der Manipulation besteht, die mit dem Grundsatz des Gesetzlichen Richters nur schwer vereinbar ist. Denn jedes Senatsmitglied kennt die Sitzungs-, Beratungs- und Urlaubspläne des Senats. Will man vermeiden, eine Sache mit einem bestimmen Kollegen beraten und entscheiden zu müssen, muss man bloß warten, bis der in Urlaub ist. Es gibt natürlich keinen Beleg dafür, dass unter den vielen BGH-Kollegen, die mir in 15 Jahren von dieser Möglichkeit der Manipulation berichtet haben, auch nur ein einziger ist, der sie je angewandt hat.

In die Beratungen über die durch (einstimmigen) Beschluss zu entscheidenden Sachen bringt also zum Termin jedes Sitzgruppen-Mitglied diejenigen Akten mit, die es als Berichterstatter für „vortragsreif“ hält. Das sind, in der Summe, zwischen 5 und 15 pro Tag. Rekordhalter unter den Senaten bringen es auf 30 vorgetragene und als „offensichtlich unbegründet“ verworfene Revisionen an einem einzigen Tag. Bei solchen Zahlen bleibt dem einen oder anderen die Bewunderung dann doch schon einmal etwas verhalten im Hals stecken.

In der Beratung sitzen neben dem jeweiligen Berichterstatter der Vorsitzende, der die Akte (vor mehr oder weniger langer Zeit) ebenfalls gelesen hat, und drei Beisitzer, die Akte und Fall nicht kennen. Drei von fünf Richtern erfahren erstmals zu diesem Zeitpunkt von dem Urteil, der Revision und allen Rechtsfragen, die für die Entscheidung des Falles von Bedeutung sind. Grundlage ihrer Entscheidung ist ausschließlich (!) der mündliche Vortrag des Berichterstatters.

Hier kommt nun das „Vier-Augen-Prinzip“ aufs Schlachtfeld: Aus diesem „Prinzip“ soll nämlich – nach ganz herrschender Meinung (hM) beim BGH – die Pflicht des Vorsitzenden entspringen, die Revisionsakte vorab (auch) zu lesen. Dies garantiere, meint hM, erstens, dass er alle Sachen kennt, die im Senat anhängig sind, und zweitens, dass nicht am Ende ein wichtiges Problem übersehen wird (denn, wie gesagt: „Vier Augen sehen mehr…“).

Dagegen gibt es zwei Argumente – ein albernes und ein ernsthaftes: Das Bundesverfassungsgericht hat am 23. Mai 2012 entschieden, ein Senatsvorsitzender müsse die Revisionsakte gar nicht lesen; deshalb sei es auch gerade einmal gleichgültig, ob er nach der Geschäftsverteilung des BGH 650 Sachen im Jahr oder 1.300 Akten lesen müsse und ob ein Mensch überhaupt auch nur theoretisch in der Lage sei, eine derartige Arbeitslast zu bewältigen. „Denn“ (!) jeder Richter des Revisionssenats müsse von Verfassung wegen dieselbe umfassende Kenntnis vom Verfahrensstoff haben. Und weil er dies müsse, sei es dann wohl auch so. So viel zum albernen Argument… Es ist, wie Sie bemerkt haben werden, ein „Palmström“ der eher schlichten Sorte: Der Himmel ist blau, weil das Gegenteil verboten ist.

Das ernsthafte Argument lautet: Von „Vier Augen“ steht in der Strafprozessordnung kein Wort. Das „Vier-Augen-Prinzip“ ist auch nicht, wie der Name suggeriert, die „Erweiterung“ einer unzureichenden Praxis zum Zweck der Erzielung höherer Treffergenauigkeit. Sondern das glatte Gegenteil: Das Gesetz und das Bundesverfassungsgericht sagen eindeutig, dass jeder Richter bestmöglich – und gleichermaßen! – Kenntnis nehmen muss von den Unterlagen des Verfahrens. Wenn man das „Zehn-Augen-Prinzip“ nennt, fällt man auf die eigene Falle herein. Denn es gilt im Revisionsrecht das „Fünf-Richter-Prinzip“: Fünf Richter haben zu entscheiden, und zwar auf der Basis „gleichermaßen umfassender Kenntnis des Verfahrensstoffs“. Punktum, Ende des Gesetzes. Nun muss man nur noch klären, auf welche Weise diese „gleichermaßen umfassende“ Kenntnis herzustellen ist.

Der „Verfahrensstoff“ besteht im Revisionsverfahren, wie oben geschildert, ausschließlich in Form von Schriftstücken: Urteil, Revisionsbegründung, Stellungnahmen. Wie könnte man wohl erreichen, dass fünf Menschen „umfassende Kenntnis“ davon erlangen? – Richtig: indem man ihnen aufgibt oder nahelegt, diese Schriftstücke zu lesen: Was denn sonst? Und wenn fünf Menschen (Richter) in der Regel jeweils zwei Augen haben, dann mag man das „Zehn-Augen-Prinzip“ nennen, oder besser „Fünf-Richter-Prinzip“. Dabei ist der Begriff „Prinzip“ auch schon wieder eine Verdrehung: Als ob beim Weinverkosten unterschieden werden könne zwischen „Ein-Zungen-Prinzip“ und „Vier-Zungen-Prinzip“! Was würden Sie, Leserinnen und Leser, von einem Gourmet-Test halten, dessen Mehrheit darauf beruht, dass ein Tester den übrigen vier erzählt, wie es ihm geschmeckt hat?

Das „Vier-Augen“-Prinzip ist daher selbstverständlich keine Erhöhung der Sicherheit, sondern eine eklatante Beschneidung der Kognitionsmöglichkeit von fünf Fünftel auf zwei Fünftel. Die Verwendung des Worts an dieser Stelle ist ein schönes Beispiel für sprachliche Verkommenheit, mit welcher ein eklatanter Mangel euphemistisch in sein Gegenteil umgedeutet wird.

Kognition: menschlich

Die Beratung in den (einstimmigen) Beschlusssachen findet in der Form statt, dass reihum ein Beisitzer eine Akte „vorträgt“. Genauer gesagt: Er oder sie hält einen Vortrag zwischen zehn Minuten und zwei Stunden Dauer, in welchem der gesamte Inhalt des angefochtenen Urteils und der Revisionsbegründung (und möglicherweise weiterer Aktenteile) mündlich ausgebreitet wird. Die Form des Vortrags ist nicht formalisiert. Sie wird weder geregelt noch geübt, sondern ist Geschmackssache. Von 100 Bundesrichtern finden 100 Form und Inhalt der eigenen Vorträge vorbildlich und den Vortrag aller anderen Senatskollegen verbesserungsfähig. 100 Prozent der Revisionsrichter beherrschen sie nach eigener Ansicht vom Tag ihrer Ernennung an. Der Stil der ersten Woche bleibt daher für die folgenden 18 Jahre konstant.

Es ist klar: Hier ist der Platz des Allzumenschlichen. Manche lesen ausformulierte Inhaltsangaben vor, andere offenbaren ihre Sehnsucht nach einer Karriere als Volksschauspieler, indem sie jeden Fall als Slapstick-Drehbuch vortragen. Wieder andere blättern und suchen ohne Unterlass. Alles normal, menschlich, beinahe unvermeidlich. Dass es von allen anderen aufmerksam verfolgt, permanent kommentiert und bewertet wird, liegt an der strukturellen Absurdität des Gesamtvorgangs: Fünf höchstqualifizierte Richter lauschen 16 Stunden pro Woche mit unbewegtem Gesicht, innerem Stöhnen und gelegentlich überwältigender Müdigkeit den „Vorträgen“ von Kollegen, die sich redlich, aber vergebens bemühen, 200 Seiten lange hochkomplizierte „Einerseits-Andererseits“-Abwägungen umfassend, lückenlos und neutral darzustellen. Anschließend entscheiden drei von fünf Richtern, ob sich in den Formulierungen des Urteilstexts ein Rechtsfehler befindet – und damit über das Schicksal eines verurteilten Menschen –, ohne auch nur eine einzige Zeile des angefochtenen Urteils gelesen zu haben.

Kritik und Praxis

Eigentlich müsste sich, so meine ich, schon hier im Hals des Richters oder der Richterin ein Kloß des Zweifels bemerkbar machen: Haben wir früher nicht etwas ganz anderes gelernt? Haben unsere Lehrer und unsere Geschichte und unsere Träume uns nicht gelehrt, dass wir niemals unterschreiben dürfen, was wir nicht wirklich verstanden haben und (daher) verantworten können? Haben wir nicht Jahre unserer Jugend über Dissertationen verbracht zum Rechtlichen Gehör und zur Verwertung und zum Gesetzlichen Richter? Wollten wir nicht, Kollegen, große, selbstbewusste, souveräne Richter werden? Ist das alles nichts mehr wert vor der „Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz“ – in ihrer erbärmlichsten, kleinkariertesten, feigsten Gestalt: Der Erledigungsstatistik und der Beförderungs-Pyramide?

Kognition: übermenschlich

Es ist selbstverständlich unmöglich, sich beim mündlichen Vortrag auch nur halbwegs die Einzelheiten des Sachverhalts zu merken: Ob der Berichterstatter nun 14 oder 17 Fälle des Bandenbetrugs oder 43 Fälle des sexuellen Missbrauchs geschildert hat, wissen die Zuhörer schon nach drei Minuten nicht mehr, geschweige denn, wenn es eine halbe Stunde später um die rechtliche Bewertung geht. Viel wichtiger noch als die Tatsachen-Feststellungen sind die Urteilspassagen zu Beweiswürdigung und Strafzumessung: Stellen Sie sich vor, dass in einer komplizierten Beweislage vom Landgericht fünfzehn oder zwanzig Zeugen vernommen worden sind. Sämtliche Aussagen werden im Urteil zusammengefasst wiedergegeben und „abgewogen“: Dafür spricht dieses, dagegen jenes…; Zeuge X hat einerseits gesagt…, es ist aber durch die Aussage des Zeugen Y widerlegt, dass… und so weiter. 50 oder 100 Seiten lang. Wer soll sich das alles auch nur oberflächlich merken können?

Wenn fünf Menschen eine Reise machen, ein Buch lesen oder einen Film anschauen, und anschließend den Ablauf und Inhalt neutral und sachlich wiedergeben sollen, dann entstehen fünf verschiedene Abbilder. Wenn fünf Zeugen einen Verkehrsunfall beobachten und anschließend vernommen werden, entstehen fünf subjektive Hergangsschilderungen, beeinflusst durch unbewusste Interessen, Wahrnehmungsfilter, Sprache, Erinnerungsfehler. Das ist so banal, dass selbst die Justiz es weiß und in Rechnung stellt. Es gilt immer und für alle Menschen. Nur eine einzige Ausnahme soll es geben im Universum: den Bundesrichter in Strafsachen.

Dieser kann – ohne jegliche spezifische Ausbildung – 200 Seiten Akteninhalt so vortragen, dass sich ein absolut neutrales Bild des Inhalts vermittelt, und zwar selbst dann, wenn der Akteninhalt aus lauter Wertungen und Interpretationen besteht. Die Präzision seiner Wiedergabe wird weder durch das Sprachvermögen noch durch ein Ergebnis-Interesse oder die rechtspolitische Meinung des Berichterstatters in irgendeiner Weise beeinflusst. Das gilt vom ersten Tag seiner Tätigkeit an, auch wenn er Ähnliches zuvor noch nie getan hatte. Wer das bestreitet, muss ein „Nestbeschmutzer“ sein oder einer, der „sein hohes Amt missbraucht“, um „Kollegen anzuschwärzen“.

Nun haben ja auch andere Revisionsgerichte eine Aufgabe: Die zwölf Zivilsenate des BGH zum Beispiel oder die Strafsenate der Oberlandesgerichte. Dort werden alle Sachen vom Berichterstatter schriftlich vorbereitet, und in allen Sachen entscheiden sämtliche Mitglieder des Senats auf der Basis der Kenntnis der Akte. Anders beim Bundesrichter in Strafsachen. Er ist eine Wundermaschine der Kognition, Gedächtnisleistung und Abstraktion. Er meint nichts, will nichts, verändert nichts. Niemals manipuliert er unbewusst einen Sachverhalt oder ein ihm fremdes Argument. Das ist angeblich schon deshalb unmöglich, weil er es ja nicht darf. Und sollte das Unmögliche doch einmal vorkommen: Für diesen Fall sitzt ja der/die Vorsitzende dabei.

Wenn man – als Vorsitzender – jahrein, jahraus 15 Akten pro Woche lesen muss, hat man deren Inhalt jeweils nach zwei Tagen vergessen. Deshalb machen die meisten Vorsitzenden „Exzerpte“. Manche schreiben sich ein paar Stichworte auf. Andere fertigen exzessive Zusammenfassungen. In beiden Fällen behalten die Vorsitzenden diese Notizen bei (und für) sich. Sie ziehen sie aus dem Ordner, wenn ein Berichterstatter die Sache aufruft, und prüfen dann anhand ihrer Notizen, ob er alles so vorträgt, wie sie selbst es in Erinnerung haben. Das ist eine unwürdige Veranstaltung: Den Vorsitzenden degradiert sie zu einer Art Lehrer, der die Hausaufgaben prüft, den Berichterstatter zum Schüler. Genau so wird es in der Wirklichkeit nicht selten vollstreckt.

Das ganze Brimborium, das um die Vorsitzenden-Lektüre und Exzerpte gemacht wird, ist aber in der Sache ganz und gar gleichgültig. Es ändert nichts daran, dass drei der fünf entscheidenden Richter, also die Mehrheit (!), von dem Urteil, dessen Fehlerfreiheit oder Rechtsfehlerhaftigkeit zu prüfen die einzige Aufgabe ihres Berufslebens ist, nicht mehr sehen als den Aktendeckel von außen und das Formular, auf dem sie die Revision als „offensichtlich unbegründet“ verwerfen. Selbst wenn der Berichterstatter das Urteil auswendig lernte und rezitierte, könnte dies eine eigene Lektüre der übrigen Richter nicht ersetzen. Das liegt auf der Hand, ist also „offensichtlich“. Das Bundesverfassungsgericht sagt: „Jeder Richter des Revisionssenats muss dieselbe umfassende Kenntnis des gesamten Verfahrensstoffs haben.“

Wer jemals dabei war, weiß, wie es geht: Um 9 Uhr morgens beginnt die Beratung, und um 17 Uhr endet sie. 15 Sachen werden vorgetragen und „einstimmig“ entschieden. Spätestens ab 13.00 Uhr sind alle müde, erschöpft, unaufmerksam. Kein menschlicher Mensch kann sich um 15.30 Uhr noch merken, ob die Subsumtion im Fall 43 der Anklageschrift richtig und die Beweiswürdigung im Fall 27 überzeugend oder lückenhaft war. Welchen Grund sollte es geben, die Justiz von allgemein geltenden Regeln und Erkenntnissen der Psychologie freizusprechen? Es gibt keinen, außer einem Interesse am Beharren auf eingeübte Machtstrukturen und Bequemlichkeit des Denkens, zu Lasten Dritter.

Was würden Sie davon halten, wenn Auszeichnungen für Bücher oder Noten für Examensarbeiten, Entscheidungen über Schadensersatz oder Einweisungen in die Psychiatrie oder über Ihr Sorgerecht an Ihren Kindern von Menschen getroffen würden, die niemals auch nur eine Zeile der Arbeit oder der Sachakte oder Ihrer Schriftstücke gelesen haben? Was würden Sie sagen, wenn über Ihre Klagen Richter entschieden, die weder Sie selbst gehört noch auch nur von Ihren Schriftsätzen jemals Kenntnis genommen haben, sondern sich deren Inhalt von Dritten „kurz zusammenfassen“ ließen?

Das Imperium: Kritik und Praxis und so weiter

So einfach geht das alles natürlich nicht. Man kann sich nicht mit dem Sonnenwind anlegen ohne das Risiko der Verbrennung. Wer am Strand bei Ebbe einen Graben gräbt, wird bei Flut sein blaues Wunder erleben. Solche und ähnliche Metaphern fallen dem ein, der über strukturelle Kritik an der Justiz nachdenkt.

Zu viele Fälle, zu wenig Richter

Denn: 1. geht das gar nicht; 2. haben wir es schon lange anders gemacht; 3. werden wir es doch wohl nicht umsonst anders gemacht haben; 4. willst Du doch wohl nicht sagen, wir hätten es absichtlich anders gemacht; 5. meinst Du wohl, Du wärst besonders schlau; 6. meinst Du wohl, Du könntest Dich auf unsere Kosten wichtigmachen; 7. muss man schließlich auch mal an die Außenwirkung denken; 8. hatten wir kürzlich einen Fall, in dem es anders war; 9. ist das eine Unverschämtheit und muss es auch mal genug sein. Und 10. geht es nicht.

Sie glauben, liebe Leser, dies sei eine Persiflage aus einer Vorabendserie? Lesen Sie, was die Mitglieder des 5. Strafsenats veröffentlichten, als drei Richter des 2. Strafsenats eine erste zaghafte Frage nach der Rechtmäßigkeit und Glaubwürdigkeit des „Vier-Augen-Prinzips“ gestellt hatten:

„Es wurden (hier) subjektive Einschätzungen eines einzelnen Kollegen in die Medien gebracht, die geeignet sind, die Reputation des höchsten deutschen Strafgerichts in Frage zu stellen. Wir halten dies für unerträglich (…) Die Behauptung, wir würden in unserer Funktion als Berichterstatter die Fakten … manipulieren, entbehrt jeglicher Grundlage (…) Nach unseren jahrzehntelangen Erfahrungen setzt sich das Votum des BE im Beschlussverfahren (Vier-Augen-Prinzip) nicht in größerem Umfang durch als im Urteilsverfahren (Zehn-Augen-Prinzip)“ (Neue Zeitschrift für Strafrecht, 2014, Seite 563).

Das klingt kein bisschen sachlich interessiert, dafür umso beleidigter. „Unerträglich“ ist ein Argument, das seine Kraft gemeinhin aus dem Inbegriff einer Persönlichkeit bezieht. Es ist daher nicht mehr als eine nebelhafte Nachahmung, wo Persönlichkeit sich nicht offenbaren, sondern nur verbergen will hinter einem Wall von Usancen, Vorurteilen und Furcht. Die empörte Zurückweisung eines angeblich subjektiven Manipulationsvorwurfs ist von rührender Einfalt. Sie missversteht sachlich-strukturelle Kritik als persönliche, liegt also vollständig neben der Sache. Eine bemerkenswerte Demonstration (bundes)richterlicher Souveränität!

Beliebt sind zwei Gegenargumente: Bei den Landgerichten habe auch nicht jeder Richter umfassende Aktenkenntnis, und beim BGH könne ja jeder Beisitzer, wann immer er will, Einblick in die Akte verlangen. Zum ersten ist zu sagen: Stimmt. Das Landgericht entscheidet nämlich „aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung“. Der BGH entscheidet „aus dem Inbegriff der Revisionsakte“. Und das zweite Argument stimmt auch: Es kommt ungefähr bei jedem 50. Fall vor, dass die Revisionsakte ganz oder teilweise verteilt wird. Je routinierter der BE ist, desto weniger Chancen bestehen, Lücken seines Vortrags überhaupt zu bemerken.

Empirie und Geheimnis

Interessant ist im zitierten Empörungsaufsatz aber der nachdrückliche Hinweis, dass die ganze Sache am Ende überhaupt keine praktische Bedeutung habe, weil die Person des Berichterstatters („nach jahrzehntelanger Erfahrung“!) nicht den geringsten Einfluss auf das Ergebnis habe.

Das ist einmal ein Wort! Wenn es stimmte, könnten 95 Prozent der Erkenntnisse der Psychologie und der Kommunikationswissenschaften und der Soziologie in die Tonne wandern! Die Aussage lautet, ein bisschen abstrahiert: Die Persönlichkeit des Menschen, der anderen Menschen einen Sachverhalt mündlich vermittelt, hat keinerlei Einfluss auf das Ergebnis der Bewertung dieses Sachverhalts durch die Hörer. Da, liebe Kollegen, muss man erstmal drauf kommen.

Der Kolumnist empfand die Bedeutung der Empirie zu einem frühen Zeitpunkt. Er hat daher eine statistische Erhebung der Revisionen beim 2. Strafsenat über einen Zeitraum von fünf Jahren durchgeführt und veröffentlicht. Sie ergab, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Person des Berichterstatters und der Erfolgsquote der Revisionen bestehe. Das ist das genaue Gegenteil der „jahrzehntelangen Erfahrung“, welche die Mitglieder des 5. Strafsenats – schon zwei Jahre nach ihrer Wahl zum Bundesrichter – inspirierte.

Es wäre daher von außerordentlich hohem Wert gewesen, die Frage durch eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung bei allen Strafsenaten zu überprüfen. Doch ein Forschungsprojekt zweier renommierter strafrechtlicher Lehrstühle an deutschen Universitäten, das 500 Revisionsakten nach wenigen formalen Gesichtspunkten auswerten wollte, wurde vom BGH nicht genehmigt, nachdem vier von fünf Strafsenaten dem Anliegen entgegentraten: Es könnten, meinten sie, vielleicht Persönlichkeitsrechte von Richtern verletzt werden, die früher einmal Fragezeichen oder Bemerkungen in die Revisionsakten gekritzelt haben.

Man reklamierte also die Seitenränder der Akten einer Bundesbehörde als Freiraum höchstpersönlich-individueller Persönlichkeitsentfaltung, als ob es sich um tagebuchartige Privataufzeichnungen der Richter handele: Auch dies ein verfassungsrechtlich interessanter und erfrischend innovativer Gedanke! Die Strafverteidigung und die Prozessrechtswissenschaft hat es nicht beunruhigt.

Wohin?

Was bleibt? Was ist nun eigentlich das inhaltliche Argument, mit dem das gesetzliche „Fünf-Richter-Prinzip“ bekämpft wird? Inhaltlich, nach Abzug aller Albernheiten, bleibt nur eines übrig: Zu viele Fälle, zu wenig Richter. „Sag er ihm, er könne mich im Arsche lecken“, lässt der gesetzliche Revisionsrichter dem Herrn Angeklagten ausrichten, der meint, er könne seine Gedanken fünf Richtern schriftlich vortragen. Sie sind, Gott sei’s beklagt, verpflichtet zur Kognition. Aber wenn tausend Rechtssuchende daherkommen und eine Kognition verlangen, dann kann er halt nicht mehr, der Revisionsrichter: Er kann es nicht mehr lesen, nicht mehr verstehen, nicht mehr entscheiden.

Er kann nicht die Richtlinien des Rechts bestimmen und mit den Großkopferten der Lehrstühle plaudern und ihre unermesslichen Schriften lesen und ihre albernen Theorien verstehen, und 650 Einzelfälle entscheiden: Alles zur selben Zeit. Er kann es nicht. Niemand kann das, aber er muss es angeblich können sollen.

Ende

Damit sind wir zum Anfang zurückgekehrt: Was soll das Revisionsrecht und was die Rechtsprechung des obersten Gerichtshofs unseres Staates sein? Das Maß der Feigheit vor dem Freund und der Tapferkeit gegenüber den Verlierern, das ich erlebe, ist bedrückend: Statt die Sachen so zu behandeln, wie es das Gesetz befiehlt, werden immer neue „Vereinfachungen“ ersonnen, die sich immer zu Lasten der Revisionsführer (also der Verurteilten) auswirken.

Der Grund liegt auf der Hand, selbst wenn er nur „objektiv“ sein und nicht auf bösem Willen beruhen sollte: Es wird „nach oben“ getan, was gewünscht wird, und der Druck nach unten weitergegeben, wo man sich nicht wehren kann.

Statt klar zu sagen, dass 600 Revisionen pro Jahr und Senat auf der Grundlage der heutigen Überprüfungsdichte und Komplexität unmöglich sachgerecht zu erledigen sind, werden lieber diejenigen als Störenfriede ausgegrenzt, die das feststellen und aussprechen. Richtig wäre: Die Revisionsprüfung einzuschränken oder die Revisionsinstanz besser auszustatten. Höchste Pflichterfüllung nurmehr zu simulieren, ist Betrug am Bürger, an sich selbst und am Recht.

Die Strafverteidiger, die all die ungelesenen Revisionen verfassen, sind ganz entspannt. Auf sie darf man nicht hoffen. Was geht sie das Elend der Mandanten an? Und die „Kritischen“ unter ihnen sagen: Warum sollen wir uns in die „Querelen“ des BGH einmischen? Was ist unser Vorteil? Sie haben es nicht verstanden.

Und die Rechtswissenschaft, die eingangs erwähnte und in dieser Woche wieder anreisende „Dialog“-Freundin des Bundesgerichtshofs? Sie nimmt ein Fingerfood-Häppchen oder drei, und feiert die enge Verbundenheit von Revisionsrecht und Verfahrensrechtsdogmatik. Mit wissenschaftlich unbestechlichem Blick, versteht sich!