Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Der ehemalige Starmanager Thomas Middelhoff ist nur einer von vielen austauschbaren Verwaltern fremder Güter. Die Macht haben andere

Von Thomas Fischer
4. Dezember 2014, 3:03 Uhr DIE ZEIT Nr. 48/2014, 20. November 2014

Thomas Middelhoff, der Vorsitzende des Vorstands der früheren Arcandor AG, also irgendwie auch der vormaligen Karstadt-Quelle AG, ist am 14. November wegen Untreue und Steuerhinterziehung in mehreren Fällen vom Landgericht Essen zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er zu Zeiten seiner (seit Februar 2009 beendeten) Tätigkeit Aufwendungen für bizarre Reisekosten und sonstige Privatvergnügen aus den Mitteln seiner Arbeitgeberin bezahlt hat. Die deutsche Presse ist sich einig in der Bewertung, es handle sich um ein „hartes“ Urteil. Dem Vernehmen nach sollen Hauptverhandlung und Urteilsverkündung auch geprägt gewesen sein von einem bemerkenswert herrischen Auftreten des Angeklagten und von Moralpredigten des Kammervorsitzenden.

Glaubt man den Berichten, bestätigen sie ein gewisses Grundmuster in ähnlichen Fällen. Als besondere Sensation wird die Verhaftung des Angeklagten am Ende der Urteilsverkündung und die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr angesehen. Die Meinungen hierzu gehen auseinander:

Manche meinen, die Saalverhaftung sei die gerechte Strafe für herablassendes Auftreten, andere, sie sei eine kleinkarierte Racheaktion; manche, es geschehe dem Angeklagten nur recht, andere, der Haftgrund der Fluchtgefahr sei an den Haaren herbeigezogen. Genaues kann nicht wissen, wer nicht dabei war und die Akten nicht kennt. Jedenfalls konnten ersichtlich alle gewünschten Fotos des derangierten Sünders gemacht werden, man flieht nur einmal über die Dächer.

Schrotschüsse ins Dunkel

Vor ein paar Jahren hat der Vorsitzende eines Strafsenats des Bundesgerichtshofs in Richtung von Vorstandsmitgliedern der Mannesmann-AG die – vielfach als weise empfundenen – Worte gesprochen, sie seien nur „Verwalter“ und dürften sich deshalb nicht wie die Herren der von ihnen betreuten Güter aufführen. Damals hatte der Aufsichtsrat dem ausscheidenden Vorstandsvorsitzenden für die angeblich überobligatorische Qualität seiner Arbeit einen Bonus nachgeworfen, der eines brasilianischen Mittelfeldregisseurs würdig war, keinesfalls aber einem Manager, der nichts als seine Pflicht tat. Große Aufregung. Das schöne Geld! Was hätte man damit Gutes bewirken können!

Schon das zeigte einen gewissen Stimmungswandel im Umgang mit den „Chefs“ auf der Brücke unseres Gesellschaftsdampfers, auch in der Strafjustiz. Seither wurden – dies nur beispielhaft – ein „Telekom-Chef“ im Frühstücksfernsehen verhaftet, Teile der zweiten Führungsebene des notorischen Siemens-Konzerns wegen Korruption verurteilt und die Heiligenscheine seiner ersten Ebene nachhaltig getrübt. Herr Nonnenmacher, der Versöhner von Nackenmatte und Finanzkapital, wurde durch ein unangenehmes Strafverfahren geschleift, bevor er – mit der schönen Begründung, er habe halt die Fähigkeit nicht besessen, die möglichen Auswirkungen seines Regimes in der von ihm geführten HSH-Nordbank vorherzusehen – in ein neues Leben starten durfte.

Derweil knackte die Staatsanwaltschaft München-Eins die Milliarden-Grenze an Einnahmen aus Bußgeldauflagen. Uli Hoeneß kam und ging und kam wieder.

Ziemlich bewegte Zeiten also! In der Gala lächelte Madeleine Schickedanz zu alldem schmerzlich berührt.

Die Chefs

Früher hießen die Chefs Generaldirektor, rauchten Zigarre und kannten die Lehrlinge persönlich, die Gattin trug Nerz, man fuhr Limousine. Das deutsche Volk glaubte, dass der Generaldirektor sein Geld wert war. Das glaubt heute kaum noch jemand. Noch kürzlich empfing Herr Middelhoff wahlweise auf seinen Latifundien an der Azurküste oder im cisalpinen Mittelgebirgsraum. Wenig später riss ihm der Gerichtsvollzieher die Uhr vom Handgelenk. Es war, so lasen wir, eine Piaget. Nun sitzt er ohne Uhr in der Zelle. Vielleicht waren ja schon die Hinterherträger seiner Reiseutensilien damals nur gekaufte Tagelöhner, die Assistentinnen arbeitslose Schauspielerinnen, die Claqueure seines Sachverstands bezahlte Studenten der nächstgelegenen Business-School. Alles möglich. Wie auch immer und gerade deshalb: Das hat er nun davon. Das deutsche Volk und seine Presse sind sich einig: Hochmut kommt vor dem Fall!

Denn seien wir ehrlich: Hat nicht Herr Middelhoff, wenn man sich beim Betrachten etwas Mühe gibt, eine beunruhigende Ähnlichkeit mit dem vormaligen Bischof von Limburg, Herrn Tebartz-van Elst? Vereint nicht ihre Physiognomien eine Anmutung von Fanatismus und Ausgemergeltheit? Während der Letztere in brennender Vorfreude auf jenseitige Gnade flackert, glüht und leuchtet Middelhoff schon im Diesseits von innen. Er glüht und glüht für sich selbst. Sein wahres Format sind Die Geissens. Der psychologische Wert seiner Bentley-Vorfahrt für die Börse war den Analysten so viel wert wie 400 Verkäuferinnenstunden oder 80 Frühschichten von Regal-Einräumern. Er muss es wissen, er war der oberste Regal-Einräumer von Madeleine Schickedanz.

Die Mehrheit der Bürger hat vor 20 Jahren beschlossen, Maskeraden wie die seine als Ausdruck der Moderne anzusehen. Deren Strukturen überfordern sie zugleich derart, dass sie sie nur im Pop-Format ertragen.

Sie Herren der Chefs

Herr Middelhoff mag der Concierge sein am Eingang zur Schatzhöhle. Aber der Goldene Drache ist er nicht, also kein Gutseigentümer.

Die Herren der Chefs, die „Treugeber“, die Großfürsten im Reich der Ressourcen, sind – während der Rest empört ist über die großen und kleinen Middelhoffs – fein raus: Sie fliegen, wohin sie wollen. Sie kreisen mit ihren eigenen Privatjets rund um ihren eigenen Garten, tagein, tagaus. Sie fressen tonnenweise Kaviar und werfen die Reste aus dem Fenster. Sie verbrennen 10 Millionen Dollar im Kamin. Sie stopfen den schönsten Huren die Blusen voll Gold und ihren „Verwaltern“ das Maul mit Boni, die mindestens zur Hälfte der Steuerzahler bezahlt. Denn ihnen gehören die Welten, und die Middelhoffs allemal.

Man sollte denken: Wer über Gutsverwalter spricht, sollte über Gutseigentümer nicht schweigen. Denn ohne Herren keine „Verwalter“. Es gibt sie ja noch, bei uns und anderswo. Sogar in großer Zahl: Oligarchen und Milliardärinnen, Ölmagnaten und Latifundienherren, Kaufhauserbinnen und Reeder. Manchen gehören ganze Straßenzüge oder Regenwälder oder die Gasproduktion für Generationen. Wer hat die längste Jacht der Welt? Welcher Sohn welches Königs fliegt mit dem teuersten Flugzeug? Das sind, erstaunlicherweise, nur müßige Fragen, für illustrierte Zeitschriften.

Eine andere Frage ist vielleicht noch beunruhigender: Was wäre, wenn die kleinen und großen Middelhoffs die wahren Herren der Welt wären, weil nur die wundersamen Konstruktionen des Aktien- und Konzernrechts den Inhaber von ein paar läppischen Arcandor-Aktien als Herrn des Verwalters Middelhoff erscheinen lassen? Der Großteil der Aktien gehört ja anderen Aktiengesellschaften, an deren Spitze wiederum nur ein Herr Middelhoff steht, und so immer weiter, bis alle am Ende nur die Verwalter ihrer selbst sind – und dem Bürger, dem keine Aktie gehört und kein Kaufhaus und kein Tanker, schwindelt vor dem unermesslichen Reichtum, der an ihm vorbeifließt, strudelt und in schwarzen Löchern versinkt oder am Himmel explodiert in Freudenfeuern der Devisenhändler. Was ist uns, fragen die Theoretiker der praktischen Vernunft, unter solchen Bedingungen noch Schuld? Und was nützt uns Moral?

Moral

Hierzu schweigt des Richters Weisheit. Er selbst ist kein Middelhoff, sondern von einer Sorte, die dieser bislang eher zum Saubermachen benötigte. Ratlos und müde beugt er sich über die Akten. Er fliegt nicht zu den Sternen.

Glaubt man den Zeitungen, so stellte der Vorsitzende Richter in der Hauptverhandlung gegen Herrn M. Betrachtungen über die Ehrlichkeit an, die man ihm (!), dem Vorsitzenden, schulde, er gab bekannt, dass er sehr enttäuscht sei von Herrn M., der sich mal anschauen solle. Die Zeitungen schreiben, „der Richter“ habe Herrn M. verurteilt, bevor er ihn verhaftete. Die vier übrigen Richter, die – weil auch in Essen die Strafprozessordnung gilt – dabei gewesen sein müssen, werden in der Presse nicht erwähnt. So wird auch dieses Stück herabgewürdigt zum Zusammenstoß des Schurken mit dem Guten, des Verschwenders mit dem Treuherzigen, des offenkundig Maßlosen mit der Maßlosigkeit des Wohlanständigen.

Offenbar braucht die Gesellschaft ihre Demütigungsrituale, als deren Objekt sich Herr M. in ungewöhnlich selbstzerstörerischer Weise anbot. Diese haben erkennbar ihre Richtung geändert: Peinliche Moralpredigten gegen Räuber, Mörder oder Körperverletzer, die vor einigen Jahrzehnten als Sternstunden der praktischen Jurisprudenz galten, sind aus der Mode gekommen. Heute richten sie sich gegen die kleinen und großen Middelhoffs, in denen der lottospielende Beamtenbürger vielleicht seine außer Rand und Band geratenen Brüder erblickt, vor deren Gewalt und Kleinlichkeit er sich lange fürchtete. Je mehr er ihre „Gier“ und Maßlosigkeit geißelt, desto sicherer fühlt er sich in seiner Moral.

Kürzlich wurde in Deutschland tatsächlich einmal gegen einen leibhaftigen Gutsherrn verhandelt. Er hieß Bernie. Mit ihm ging man anders um. Er ließ später ausrichten, er sei sehr zufrieden mit der deutschen Justiz.