Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier (teilweise auszugsweise) einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen, oftmals auch sehr bissigen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit und Jugend oder aktuellen Beispielen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!
28. Juni 2016
Die Würfel sind gefallen: Das Sexualstrafrecht in Deutschland wird reformiert. Und doch – es bleiben immer noch Strafbarkeitslücken. Wir sollten sie schließen!
Auf vielfachen Wunsch – aber wirklich nur deshalb! – erlauben wir uns, zum Thema aller Themen, zur Entscheidungsschlacht von Gut und Böse, zur Mutter aller Strafrechtsreformen, also zur noch vor der Sommerpause umzusetzenden Reform des SEXUAL-Strafrechts ein letztes Mal Ausführungen zu machen. Am 24. Juni, so lasen wir, haben sich ein paar Parlamentarierinnen von CDU und SPD geeinigt: Die Sache läuft! Was draußen geschwätzt wird, ist den Macherinnen egal. Mit dem Rest sollen sich dann die Gerichte herumschlagen, dazu sind sie ja wohl da.
Ist Ihnen übrigens aufgefallen, dass sich die Araber und die Marokkaner und die Algerier in letzter Zeit auffällig zurückhalten? Das ist natürlich ein Trick, um die Menschen über die Dringlichkeit des Anliegens zu täuschen. Daran kann man sehen, wie gefährlich diese Banden sind.
Spaß beiseite: Vielen hierzulande ist es durchaus ernst; viele haben Sorge, viele durchschauen nicht, um was es eigentlich geht. Viele Hundert Kommentare zu dieser Kolumne – wenn sie sich mit dem Thema befasst – zeigen vor allem eines: Alles geht durcheinander.
Das ist kein Vorwurf: Lesen Sie den Artikel von Andreas Zielcke in der Süddeutschen Zeitung vom 23. Juni 2016 (SZ, Seite 9)! Ein lobenswerter Versuch, die Grundlinien der Diskussion und des Reformprojekts darzustellen und einmal wieder zu sagen, um was es geht. Aber wenn Sie den Text gelesen haben, werden Sie (vielleicht) mit dem Kolumnisten feststellen: Man ist hinterher ungefähr genauso schlau wie zuvor. Nichts Genaues weiß man nicht, da es auch Herr Zielke nicht weiß. Bloß dieses: Alles ist irgendwie sehr schwierig.
Das ist wahr, das ist schade, das muss aber nicht sein. Die Sache ist zwar wirklich kompliziert, aber sie ist nicht von vornherein unverständlich (das ist ähnlich wie bei der Erbschaftsteuer). Um sie zu verstehen, muss man allerdings bereit sein, sich auf ein paar Differenzierungen (Unterscheidungen) und Grundsätze einzulassen und eine Stunde seine eigenen Vorurteile und Sachverhaltsvorstellungen beiseite zu lassen, denn
1) Behauptungen über die Wirklichkeit sind nicht die Wirklichkeit selbst.
2) Die Materielle Rechtslage ist nicht identisch mit den prozessualen Regeln ihrer Erkenntnis.
3) Das bloße „Machen“ eines Gesetzes löst weder Beweisfragen noch Dunkelzifferfragen noch Gerechtigkeitsfragen.
4) Bloße Schlagworte sind nicht geeignet, komplizierte Strukturen zu klären oder zu entscheiden.
Auf dieser Grundlage versuche ich noch einmal, ein paar Rechtsfragen zu erklären:
1) „Nein heißt Nein“
Ein schön klingendes Schlagwort, das aber in der Praxis kaum etwas erklärt oder erleichtert. Mit „Köln“ zum Beispiel hat es nicht das Geringste zu tun. „Köln“ wiederum hat mit der „Strafbarkeit von Grabschen“ nichts zu tun: Dort wurde ja gerade eben nicht („nur“) gegrabscht, sondern offenkundig genötigt: Da bestand also keine (Grabscher-)Lücke.
Für das „Grabschen“ – gemeint ist: Ausführen so genannter „sexueller Handlungen“ unter Missbrauch einer Überraschungssituation – hat das „Nein-heißt Nein“-Dogma praktisch keine Bedeutung: Niemand nimmt ja bisher an, Personen, die in der U-Bahn fahren, eine Treppe hochgehen oder am Kopierer stehen, seien im Prinzip damit einverstanden, sexuell motiviert berührt zu werden. Und selbstverständlich erwartet daher auch niemand, dass alle U-Bahn-Fahrgäste ab sofort einmal in der Minute laut „NEIN“ rufen, um die allenthalben lauernden Grabscher über die eigene aktuelle Willenslage in Kenntnis zu setzen.
2) Grabschen
Paragraf 184 i Strafgesetzbuch soll demnächst lauten:
„Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.“
Grabschen bei Unbekannten
Unbestritten ist: Bloßes „Grabschen“ = Sexuelle Handlungen ohne jede (noch so geringe) Gewalt, ohne Festhalten, ohne Den-Weg-Versperren, ohne Drohung, ohne Furcht der betroffenen Person, also ausschließlich durch Ausnutzen einer Gelegenheit und eines Überraschungsmoments, ist bisher meist nicht strafbar. Es soll (wird) jetzt aber strafbar gemacht werden.
Das ist rechtspolitisch umstritten. Viele sagen: Da bestehe eine „Schutzlücke“ und meinen damit, die Strafbarkeit solcher Handlungen sei dringend erforderlich, und sei es auch nur „symbolisch“. Die Straflosigkeit zeige nämlich, dass das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung gering geschätzt werde. Da in den meisten Fällen Frauen die von Grabschereien Betroffenen seien, demonstriere die Straflosigkeit insbesondere eine Missachtung weiblicher Selbstbestimmung.
Andere sagen: Es bestehe keine Schutzlücke, denn es handle sich um einen Bereich des Bagatell-Unrechts, in dem das Strafrecht mit seinen groben Werkzeugen nichts zu suchen habe und auch keine pädagogische Funktion ausübe. Sobald solche Handlungen eine (ziemlich) niedrige Schwelle überschreiten, sind sie schon heute strafbar: manchmal als Beleidigung, manchmal als Erregung öffentlichen Ärgernisses, häufig als Nötigung, weil die Person gleichzeitig festgehalten oder ein unwillkürlicher Widerstand überwunden wird. So dürfte etwa in den allermeisten Fällen ein Hineingreifen in die Kleidung und eine Berührung von Geschlechtsteilen unter der Kleidung nicht derart „überraschend“ erfolgen können, dass die betroffene Person nicht spontan/unwillkürlich auszuweichen versucht oder sich sonst sträubt. Die Überwindung solchen Widerstands aber ist schon wieder Gewalt.
Hieraus kann man nicht ableiten, das Opfer „müsse“ sich wehren. Umgekehrt wird eine betroffene Person kaum, bloß weil demnächst auch das „bloße“ Anfassen strafbar ist, eine derartige Handlung wort-, reaktions- und widerstandlos über sich ergehen lassen (nach dem zivilrechtlichen Motto: „Dulde und liquidiere“). Die berüchtigten „Schockstarren“ (die ja in der Regel Angststarren sind) pflegen selten in der Straßenbahn oder auf Rolltreppen aufzutreten.
Sehr problematisch ist die praktische Umsetzung. Wie viele Strafanzeigen wegen „Grabschens“ durch Unbekannte (in der Öffentlichkeit) wird es geben? Und wie sollen diese Taten verfolgt werden? Es ist kaum zu erwarten, dass der „Grabscher“, der einer Frau in der Straßenbahn an den Hintern gefasst hat, dies alsbald zugeben und seine Personalien offenbaren wird. Es ist ebenso wenig wahrscheinlich, dass sich auf den Ruf der begrabschten Frau umstehende Fahrgäste auf den Verdächtigen stürzen und ihn bis zum Eintreffen der Polizei festhalten.
Von den (angeblich) unermesslich vielen Taten wird also allenfalls ein äußerst geringer Teil überhaupt zur Anzeige kommen; hiervon wird wiederum der weitaus größte Teil entweder mit Einstellung wegen Unerweislichkeit (Paragraf 170 Abs. 2 StPO) enden oder zu Verfahrenseinstellung gegen kleine Geldauflagen, maximal zu Geldstrafen im untersten Bereich führen. Ein volkspädagogischer Effekt dürfte kaum eintreten: Jeder weiß auch heute schon, dass das Verhalten als sozial verächtlich angesehen wird und „verboten“ ist.
Grabschen bei Bekannten
Strafbarkeit des Grabschens im sozialen Nahraum stößt natürlich nicht auf das Problem der Täteridentifizierung. Die echte Notwendigkeit, einen einzelnen Griff etwa an Geschlechtsteile über der Kleidung zwischen bekannten Personen oder Unverschämtheiten wie „Tätscheln“ im Büro, „Die-Hand-aufs-Knie-Legen“, den Arm um die Schulter legen beim Betriebsfest … und so weiter, besteht aber nach meiner Ansicht nicht und lässt sich auch strafrechtlich schwer verwirklichen, ohne Grenzen eines rechtsstaatlichen Strafrechts zu gefährden.
In der Lebenswirklichkeit wird kaum je eine erste Handlung solcher Art zu strafrechtlichen Anzeigen führen. Bei Wiederholungen gibt es heute wirksame arbeitsrechtliche und sonstige zivilrechtlichen Mittel der Abwehr, Offenlegung und Vorsorge, die weitaus wirksamer und abschreckender sind als die (stillschweigende) Zustellung eines Strafbefehls mit 15 Tagessätzen Geldstrafe. Unter dem – angeblich ja immer noch geltenden – „Ultima-Ratio-Grundsatz“ (Strafrecht soll erst dann eingesetzt werden, wenn andere rechtliche Mittel versagen) scheint mir die Grabsch-Verfolgung im sozialen Umfeld überzogen.
Die Beweisbarkeit der angeblichen Handlung ist extrem problematisch, wenn – was naheliegt – keine Augenzeugen vorhanden sind. Der eine sagt ja, der andere nein – wem soll man glauben? Soll gegen jedes unverschämte Tätscheln mit den Keulen einer öffentlichen Verhandlung und einer Begutachtung durch Glaubwürdigkeitssachverständige in die Schlacht gezogen werden? Woher sollen all die qualifizierten Gutachter kommen? Wer soll sie bezahlen? Ist die Gesellschaft willens, pro Jahr 5.000 Glaubwürdigkeitsgutachten à 3.000 Euro zu berappen für aufgrund ihrer Unerweislichkeit eingestellte Verfahren wegen etwa solcher Vorwürfe: „… legte der Angeklagte in einem unbeobachteten Moment überraschend ungefähr zwei Sekunden lang seine linke Hand auf die rechte Brust der Geschädigten ….“
Und wie hoch wird wohl die Quote von Fehlentscheidungen sein – mal so herum, mal so herum?
Sehr interessant ist übrigens auch die Anwendung im Jugendstrafrecht. Der „Grabsch“-Tatbestand wird ja, wie alle Straftatbestände, auf alle Personen ab dem 14. Lebensjahr anzuwenden sein. Da kann man nur sagen: Viel Vergnügen, liebe Jugendrichter!
Grabschen in Beziehungen
Besonders schwierig ist die Lage innerhalb von sexuellen Beziehungen. Kein Mensch wird seinen Partner bei der Polizei anzeigen, weil der ihn/sie gelegentlich „überraschend“ (also ohne Willen oder auch gegen den Willen) berührt. Die Problematik setzt also Störungen in der Beziehung voraus. Wir reden daher über problematische, unklare, ambivalente Beziehungen, über Alkohol- und Drogenkonsum eines oder beider Partner, über „Versöhnungen“ und Pseudo-Versöhnungen, Streitereien und Aggressionen. Wir reden nicht über Vertragsverhandlungen zwischen zwei Rechtsanwältinnen, sondern über eine unendliche Vielfalt von Möglichkeiten zur Unklarheit, zum Ärger und zum Missvergnügen, überlagert von emotionaler Betroffenheit, Erregung, Affekt.
Wann wohl werden Strafanzeigen wegen „Grabschens“ in Beziehungen erstattet? Richtig: ausschließlich nach dem Ende der Beziehung. Dann ist die Gefahr von Falschanzeigen, Rachebeschuldigungen groß, aber auch die von Gegenanzeigen. Schlammschlachten um die Frage, wer wen vor einem Jahr mal nachts wo angefasst hat – wie viel staatsanwaltschaftliche Kraft und Zeit möchten wir dafür aufwenden?
Extraordinäre Beispielsfälle („Überraschende Durchführung von Analverkehr“ und ähnliches) werden immer einmal wieder behauptet, entpuppen sich in den meisten Fällen aber als schlicht unzureichende Feststellungen oder als unplausibel. Materiell-rechtliche „Lücken“ bestehen hier nicht wirklich; kaum jemand außerhalb der schäumenden Foren behauptet das noch.
Beispielhaft der „Fotografen-Fall“: Fotograf tritt an stehendes jugendliches Modell heran und führt im Stehen „überraschend“ den GV durch. Große Empörung, dass das nicht als „Vergewaltigung“ bestraft wurde. Wäre es aber auch nach der neuen Regelung nicht! Es wäre vielmehr ein „Überraschungsdelikt“ („Grabschen“). Ob der Fall früher richtig entschieden wurde, mag dahinstehen: Vieles spricht eher für einen Fall des Paragrafen 177 Abs. Nr. 3 (schutzlose Lage); der Vorsatz des Täters mag fraglich sein. Und ob der entgegenstehende Wille der Betroffenen evident war: Fragezeichen.
Das Opfer „muss“ gar nichts
3) Nötigung
„Nein ist Nein“ und „Ja ist Ja“ ist keine wirkliche Alternative. In beiden Fällen geht es – was die meisten Diskutanten offenbar nicht verstehen – nicht um materielles Recht: Dass Nein das Gegenteil von Ja ist, ist nicht überraschend. Ebenso wenig, wie vom Opfer einer Nötigung „verlangt“ werden kann, dass es körperlichen Widerstand ausübt, kann man von ihm „verlangen“, dass es irgendwelche Äußerungen – sei es ausdrücklich, sei es konkludent – von sich gibt.
Die entsprechenden Vorwürfe beruhen zum nicht geringen Teil auf (bewussten) Verdrehungen und „Vereinfachungen“. Viele Male haben wir gehört, die gegenwärtige Rechtslage „verlange, dass das Opfer sich wehrt“. Tatsächlich verlangt sie das keineswegs, und die Profis unter denen, die es behaupten, wissen das genau. Sie zitieren die zwei oder drei ersichtlich fehlerhaften Urteile, die man im Netz finden kann, wieder und wieder, und schreiben dazu, diese seien „beispielhaft“ für „die Rechtsprechung“. In Wahrheit sind sie beispielhaft nur dafür, dass auch (höchste) Gerichte einmal irren oder Unsinn schreiben können. Die Tausenden von richtigen und überzeugenden Entscheidungen alle werden nicht zitiert. Wann man erlebt, wie erfahrene Rechtsanwältinnen, in der Rolle als Abgeordnete oder Aktivistin, mit Tremolo in der Stimme die Unangreifbarkeit und monolithische Stärke der BGH-Rechtsprechung beteuern, wenn es darum geht, einzelne Ausrutscher zur „ständigen Rechtsprechung“ hochzujazzen, dreht es einem den Magen um. Doch die Damen lächeln fein, wenn Scheinwerfer und Kamera ausgeschaltet sind, und sagen: So geht Politik.
Das „Sich-Wehren“ ist aber natürlich ein gewichtiges Anzeichen (Indiz) für das Fehlen eines Einverständnisses. Weglaufen auch. Nein-Sagen auch. Jedes beliebige Verhalten kann ein Indiz für die Haupttatsache sein, die in jedem Fall von Nötigung vorhanden ist: der entgegenstehende Wille.
Noch einmal: Ob und in welcher Form dieser entgegenstehende Wille ausgedrückt wird oder ob er nur im Inneren einer Person besteht, ist materiell-rechtlich völlig gleichgültig. In zahllosen Situationen besteht am entgegenstehenden Willen nicht der geringste Zweifel, obgleich er keineswegs zum Ausdruck gebracht wird: Die Anzahl derjenigen unter uns, die begeistert sind, nachts im Hinterhof mit einem Unbekannten schnell mal den GV auszuüben, ist relativ überschaubar. Und welchem Täter würde man wohl glauben, er habe irrtümlich gedacht, das Tatopfer sei einverstanden? Einzelne (!) seltene (!) Ausnahmen bestätigen auch diese Regel: Manchmal ist auch im Hinterhof die Sache nicht völlig klar. Das zu erkennen wird man der deutschen Rechtsprechung nicht von vornherein verbieten können, falls man nicht die Justiz von Pjöngjang einzuführen beabsichtigt.
Das so genannte „Eckpunktepapier“ vom 1. Juni, auf das man sich am 24. Juni (angeblich) geeinigt hat, verdreht auch diesen Grundsatz, und zwar verrückterweise zu Lasten der Opfer: „Das Opfer muss einen der sexuellen Handlung entgegenstehenden Willen zum Ausdruck bringen“, heißt es da. Das wäre, wenn es ernst gemeint wäre, richtig dummes Zeug. Das Opfer „muss“ gar nichts – dabei sollten wir doch wohl bleiben, verehrte Feministinnen! Insbesondere kann vom Tatopfer nicht verlangt werden, bestimmte Worte („Nein“; „Ich will nicht“) auszusprechen oder nicht auszusprechen, um überhaupt in den erlesenen Status des „Opfers“ einrücken zu dürfen.
„Nötigung“ ist das „Zwingen“ einer anderen Person (durch was auch immer). Zwingen setzt einen „entgegenstehenden Willen“ voraus: Das ist seit der Kreidezeit so und wird sich durch „Nein ist Nein“ kein bisschen ändern. Um einen Menschen wegen Nötigung (sexueller Nötigung, Vergewaltigung) einer anderen Person bestrafen zu können, wird man also immer beweisen müssen, dass diese andere Person nicht einverstanden war.
4) Beweis
Der Beweis ist oft ganz leicht (Gewalt mit objektiven Spuren, Zeugen). Manchmal ganz schwer. Und „Nein ist Nein“ ändert daran gar nichts. Ein Beispiel aus einer Konstellation, die in der Praxis sehr häufig ist, in der Diskussion aber notorisch verschwiegen wird: Die „sexuellen Handlungen“, von denen die Rede ist, können ja immer solche des Täters am Opfer, aber auch solche des Opfers am Täter oder des Opfers an dritten Personen sein. Bei Handlungen, die das Tatopfer am Täter vornimmt (Anfassen, Masturbieren, Penetrieren, Streicheln…) ist es aber in der Wirklichkeit viel schwieriger zu erklären, warum sie „gegen den Willen“ durchgeführt worden sein sollen, wenn der Täter doch überhaupt keine Nötigungsmittel eingesetzt hat – also weder Gewalt noch Drohung noch Ausnutzung von Furcht: Warum vollzieht eine Person eine sexuelle Handlung, die sie gar nicht will, obwohl sie dazu nicht gezwungen wird? Sie denken: Schwer vorstellbar? Da haben Sie recht, und auch wieder nicht.
Hier sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, Ihre Fantasie ein wenig spielen lassen und nicht immer nur in gewohnten Schemata denken. Denn in Wahrheit gibt es viele Gründe: Vielleicht aus „Gefälligkeit“. Aus Dankbarkeit. Aus Scham. Aus Überdrüssigkeit. Aus Berechnung. Aus Unsicherheit (Jugendliche!). Aufgrund irriger Vorstellungen. Aufgrund von Täuschungen. Aufgrund von Versprechungen. Aufgrund von „Gewohnheit“. Und so weiter und so fort, von ganz oben die moralische Leiter hinab bis in die niedersten Winkel der menschlichen Motivation. Wir sprechen nämlich, liebe Leser, über die soziale, emotionale, psychologische Wirklichkeit von 80 Millionen Menschen. Darunter auch viele sehr dumme Menschen. Über wenig differenzierte Charaktere, über Sprachlose und Empathiekrüppel und Säuferinnen, über die Armutsdicken aus der Unterschicht, die jeden Monat die neue Liebe ihres Lebens treffen. Wir sprechen über Motivlagen zwischen dem vierten und dem achten Bier, über Schreiereien, „häusliche Konflikte“, „Aussprachen“ und „letzte Aussprachen“. Wir sprechen nicht über die Motive, die im Gesprächskreis Lebensberatung anerkannt sind.
Die Frage ist: Was davon soll als „Vergewaltigung“/Nötigung wirklich strafbar sein? Und wie beweisen wir das? Und welchen genauen Wert und Inhalt und welche Halbwertszeit hat der Wille? Andreas Zielcke hat in seinem eingangs zitierten Beitrag in der SZ vom 23. Juni resigniert ausgeführt:
„Kein Wunder, dass manche Länder noch den Tatbestand der ‚Vergewaltigung durch Täuschung’ kennen, etwa das britische Recht oder auch das israelische. In Israel wurde ein Muslim, der einer Jüdin vor dem Sexualakt vorgemacht hatte, er sei ebenfalls ein Jude, wegen Vergewaltigung verurteilt. Die Frau schwor, sie hätte sich nie mit ihm eingelassen, hätte er seine Identität offenbart.“
Na gut, Herr Zielcke, lassen wir das mit der „Identität“ aus Religion einmal außer Betracht. Man muss gar nicht zu den jüdischen Identitäten reisen. Ein Blick ins Reichsstrafgesetzbuch 1871 reicht. Dort stand in Paragraf 179 Abs. 1 RStGB:
„Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs dadurch verleitet, dass er eine Trauung vorspiegelt, oder einen anderen Irrthum in ihr erregt oder benutzt, in welchem sie den Beischlaf für einen ehelichen hielt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.“
Das war zu der Zeit, als nachts keine LED das kalte Schlafgemach erleuchtete. Da krabbelte in der Finsternis der Knecht ins Bettchen, griff zu und flüsterte: „Ich bin der Bauer.“
Paragraf 179 Reichsstrafgesetzbuch: Ein früher Höhepunkt des Feminismus? Warum, denken Sie, liebe Leser/innen, hat man den Tatbestand einige Jahrzehnte später auf den Müll geworfen? Weil es nicht auf „Motive“ und Irrtümer, sondern auf den wirklichen Willen ankommt. Weil der „Zugang zur Vagina“ eben nicht behandelt werden sollte wie der zu einem Schatzkästlein der Tugend, sondern wie eine Willensschranke lebendiger Menschen. Weil es nicht um „Sittlichkeit“ geht, sondern um Selbstbestimmung. Es ist bedrückend zu erleben, dass abgedrehte Fraktionen eines so genannt „feministisch“ definierten Bestimmungsrechts inzwischen wieder da angelangt sind, wo wir vor 150 Jahren einmal losgegangen sind.
Und das, verehrte Vorruheständler, sage ich keineswegs im Auftrag einer schweigenden Minderheit von sexistischen Donaldisten. Ich sage es nicht um des Beifalls von Möchtegern-Patriarchen oder Frauenbenutzern willen. Ich habe gar nichts übrig für die Theorie der vis haud ingrata und für die John Waynesche Verführungskunst, die darin bestand, durch möglichst festes Aufpressen der Lippen auf die Mundöffnung einer anderen Person bei dieser nach etwa ein bis zwei Minuten gewalttätigen Festhaltens das Gefühl so genannter Liebe durch Atemnot zu generieren (erkennbar am Erschlaffen der Rückenmuskulatur, ruckartiges Herabhängenlassen der Arme, die sich eben noch gegen des Helden Brust sich stemmten… Filmtipp: Alle Errol Flynns). Andererseits: Der Mensch ist nicht zur Leibhaftigwerdung von „Weil ich es mir wert bin“-Spots auf diese Welt gekommen.
Der neue Paragraf 177
5) Die neue Nötigung
In dem voraussichtlichen neuen Paragraf 177 sollen ganz unterschiedliche Sachverhalte zusammengefasst werden: „Übergriffe“ und „Nötigungen“, Missbräuche und Zwangsmaßnahmen.
Neuer Grundtatbestand soll sein:
Absatz 1: „Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Hieran anknüpfend folgt Absatz 2:
„Ebenso wird bestraft, …, wenn
1) der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern.
2) der Täter ausnutzt, dass die Person aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er habe sich der Zustimmung der Person … versichert.
3) der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt.
4) der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.
Absatz 3:
Der Versuch ist strafbar.
Absatz 4: Freiheitsstrafe ein Jahr bis 15 Jahre, „wenn die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einem vorübergehenden oder dauerhaften körperlichen oder psychischen Zustand des Opfers beruht.
Absatz 5: Freiheitsstrafe 1 Jahr bis 15 Jahre bei
1) Anwendung von Gewalt
2) Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben
3) Ausnutzen einer schutzlosen Lage
Absatz 6: Besonders schwere Fälle: 2 Jahre bis 15 Jahre
1) Bei Eindringen in den Körper (Vergewaltigung)
2) Wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wurde
Absatz 7: 3 Jahre bis 15 Jahre
1) Bei Mitführen eines gefährliche Werkzeugs
2) Bei Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung
Absatz 8: 5 Jahre bis 15 Jahre
1) Bei Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs
2) Bei schwerer Misshandlung
3) Bei Gefährdung des Lebens
Absatz 9:
Minder schwere Fälle der Absätze 1 und 2: drei Monate bis drei Jahre, minder schwere Fälle der Absätze 4 und 5: sechs Monate bis zehn Jahre, minder schwere Fälle der Absätze 7 und 8: ein Jahr bis zehn Jahre
Da haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, was Sie immerzu verlangen: die ganze Information (stimmt nicht ganz, da noch weitere neue Tatbestände und Begründungen fehlen).
Bitte gehen Sie nun wie folgt vor: Drucken Sie die oben stehende Regelung des Paragraf 177 (Entwurf) aus. Schreiben Sie auf einen Zettel einen Sachverhalt (also einen Fall), den Sie geklärt haben möchten: Bitte mit möglichst genauen Beschreibungen auch der inneren Vorstellungen der Beteiligten. Versuchen Sie sodann, Ihren Sachverhalt zu „subsumieren“, also in den Merkmalen und Worten des obigen Tatbestands wiederzufinden. Genau dies ist nämlich die Aufgabe einer Staatsanwältin oder der ihr zuarbeitenden Polizeidienststelle (mit dem Unterschied, dass Sie den Sachverhalt frei erfinden dürfen, Staatsanwalt und Richter ihn aber auf irgendeinem Weg erst mühsam herausfinden müssen).
Möglicherweise werden Sie auf Probleme stoßen. Nur zwei Beispiele: Worin besteht der Unterschied zwischen Absatz 2 Nr. 1 und Absatz 4? Was bedeutet der Begriff „der erkennbare Wille“ (Absatz 1)? Seien Sie nicht beunruhigt: Genau das ist die Position eines Staatsanwalts oder eines Richters; genau so unsicher wie Sie sind diese, was die ganz neuen gesetzlichen Regelungen eigentlich erfassen und was nicht. Ihnen wird irgendein Sachverhalt auf den Tisch gekippt, irgendein „reformierter“ Tatbestand ins Gesetz geschrieben, und dann sollen sie sehen, wie sie damit zurechtkommen.
Und wehe, sie irren sich auch nur ein einziges Mal! Dann schreien genau dieselben Lobbyistinnen, die zuvor die uferlosen und kaum noch abgrenzbaren Tatbestände konzipiert haben, „die Rechtsprechung“ mache Fehler bei der Anwendung (was im Zweifel dann wieder die nächste angebliche „Lücke“ begründet)! Und das sei garantiert nichts anderes als das Resultat eines tief sitzenden männlichen Sexismus … .
Tastsache ist, der neue Tatbestand ist eine Mischung: aus Nötigung und „Missbrauch“. Im Absatz 1 ist eine Pseudo-Nötigung bestraft: handeln gegen den „erkennbaren Willen“. Was immer das sein mag: „erkennbar“. Erkennbar für wen: Den Täter oder einen objektiven Dritten (etwa das Gericht)? Der Unterschied zwischen einem „erkennbaren“ und einem „erkannten“ Willen ist ersichtlich, dass es bei der Erkennbarkeit auf das tatsächliche Erkennen nicht ankommt; es reicht, dass die Erkenntnis gegeben sein könnte, wenn bestimmte Voraussetzungen vorlägen (ordentliches Nachdenken; angemessene Anstrengung und so). Das heißt: Hier haben wir es mit einem Fahrlässigkeitstatbestand zu tun.
Das ist/wäre eine nach meiner Vorstellung absurde und unverhältnismäßige Ausweitung des Strafrechts. Voraussetzung wäre natürlich ein tatsächlich bestehender Widerwille. Es käme aber nicht darauf an, ob der Täter diesen tatsächlich erkennt, sondern nur darauf, ob er ihn erkennen könnte, wenn er sich anstrengen würde. Das ist die klassische Fahrlässigkeit. In Verbindung mit den Qualifikationen der Absätze 3 ff. führt das zu verfassungswidrigen Strafdrohungen für vermeidbare Irrtümer.
6) Missbrauch und Nötigung
Im Absatz 2 des Tatbestands finden wir den bisherigen Paragrafen 179 Strafgesetzbuch wieder: sexueller Missbrauch willensunfähiger Personen. Die dogmatischen Verästelungen gehören nicht hierher, wohl aber der Hinweis: Dies ist die Verschmelzung des „Opfers“ von Missbrauch und von Nötigung. „Missbrauch“ (zum Beispiel von Kindern, von Jugendlichen, von Gefangenen, von psychisch Kranken, von Willensunfähigen) wird ja jetzt schon in vielen Tatbeständen bestraft. Er zeichnet sich dadurch aus, dass es auf den Willen der betroffenen Person überhaupt nicht ankommt, weil ihre Willensbildung entweder „defekt“ ist oder als solche postuliert wird: Ein frühreifes Mädchen im Alter von 13 Jahren, 11 Monaten und drei Wochen darf einem Zungenkuss oder einem Griff an ihre Brust nicht zustimmen – sie ist „Kind“ und muss daher auch gegen ihren Willen geschützt werden.
Ebenso ist es mit geisteskranken Personen: Sie dürfen einfach nicht zustimmen, auch wenn sie es wollen.
Diesen Personengruppen stellt das neue Gesetz nun Menschen gleich, die erwachsen, gesund, widerstandsfähig und nicht in einer Zwangslage sind. Menschen, die in keiner Weise unter Zwang stehen, aber aus unerklärlichen (s.o.) Gründen ihren entgegenstehenden Willen trotzdem nicht durchsetzen (und dies noch nicht einmal versuchen), werden endlich den Kindern und Geisteskranken gleichgestellt und „geschützt“.
7) Gruppen
Sie erinnern sich: Stichwort „Köln“! Das war doch für die Rechtspolitik „der Augenöffner“, das „Zeichen“. Also muss man natürlich irgendwie darauf zurückkommen.
„Straftaten aus Gruppen“ soll eine neue Vorschrift Paragraf 184 j heißen:
„Wer sich an einer Personengruppe beteiligt, die eine andere Person zur Begehung einer Straftat umdrängt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn durch einen Beteiligten dieser Gruppe eine Straftat nach den Paragrafen 177, 184 i StGB begangen wird und die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht wird.“
Und Paragraf 184 i StGB soll lauten:
„Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.“
Schwer verständlich! Wer sich (vorsätzlich) beteiligt, wenn eine Personengruppe „zur Begehung einer Straftat“ eine andere Person „umdrängt“, beteiligt sich selbstverständlich an der Straftat – als Mittäter oder Gehilfe. Der merkwürdige Paragraf 184 i liegt völlig quer zu Paragraf 177 Abs. 1und Abs. 2 Nr. 3 (s.o.).
8) Fazit
Die Versprechungen, die mit dem Entwurf verbunden werden, können sich ganz überwiegend nicht erfüllen. Selbstverständlich wird die Dunkelziffer nicht sinken, sondern sich erhöhen: Das ist der notwendige Effekt jeder Ausweitung der Strafbarkeit. Wer heute sagt, 100.000 „Vergewaltigungen“ pro Jahr blieben unverfolgt, wird morgen sagen, es seien 300.000. So ist das halt: Wenn man meint, es sei unerträglich, dass das ungefragte Wegfressen des letzten Frühstücksbrötchens nicht als Unterschlagung strafbar sei, muss man damit leben, dass die Dunkelziffer des Paragraf 246 ins Unendliche schnellt.
An den Beweisproblemen wird das nichts ändern. Symbolischer Aktionismus mit geringstmöglichen praktischen Effekten – so geht „Schutz durch Strafrecht 2016“.
Übrigens: In den USA, wo sexuelle Belästigungen und so weiter seit Langem wesentlich härter verfolgt werden als bei uns, wo angeblich ganze so genannte Universitäten von „Vergewaltigungskulturen“ geprägt sind, wo feministische Forderungen wie „Ja ist Nein“ und so weiter Teil der Immatrikulationsvoraussetzungen für Hauptschulen und Zustimmungsformulare für einmal Anfassen kostenfrei in Apotheken und Schulbussen ausliegen: Dort gibt ein immer höherer Teil der (weiblichen) Bevölkerung in Befragungen an, dass sie ständig mehr und immer mehr Übergriffen ausgesetzt seien. Man fordert jetzt Strafbarkeit für „Anstarren“. Die Dunkelziffer auch dieses Gewaltverbrechens soll enorm sein. Wir sollten daher ein paar Tatbestände bereithalten: „Opto-sexueller Hausfriedensbruch“ wäre ein erster Vorschlag. Da werden ernste Gemüter jetzt wieder den unpassenden Sarkasmus geißeln. Aber glauben Sie mir, Anstarropfer dieser Welt: Ich fühle mit euch.