Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Einmal mehr wurde die jährliche „Kriminalstatistik“ der Polizei vorgestellt. Nur wenige verstehen sie, umso mehr machen Politik damit. Das ist bedenklich.

12. Mai 2015, 16:23 Uhr

Vergangene Woche war es wieder soweit: Die Kriminalstatistik 2014 wurde der Öffentlichkeit präsentiert. Dieses Vorstellen muss man sich als Drama in mehreren Akten vorstellen. Das Interessante daran ist, dass es trotz eines Untertons steter Bedrohung doch von ewiger Gleichförmigkeit ist und dadurch letztlich ein beruhigendes Gefühl des Zuhauseseins verströmt. So ähnlich wie die Meldungen über die ins Meer fließenden Mengen hochradioaktiven Kühlwassers in Fukushima. Natürlich interessiert sich heute kein deutscher Mensch mehr für diese Zahlen, die vor nicht langer Zeit noch als Breaking News durch den Bildschirm liefen: Das Format war, fernsehtechnisch ausgedrückt, etwas überzogen. Wer will schon 300.000 Jahre lang täglich hören, wie sich der Fortschritt in den Ozean ergießt?

Da macht es die Kriminalität als solche schon besser. Sie präsentiert sich, von tagesaktuellen Eruptionen des Entsetzens oder Anwandlungen kollektiver Verfolgungswut unberührt, in einer unvergleichlichen Mischung aus jahreszeitenorientierter Gemütlichkeit („Urlaubszeit – Einbruchszeit“) und Warnung vor dem immerzu Unausweichlichen, aber gleichwohl erfolgreich Bekämpften. Die Aufgabe der Präsentation ist also durchaus eine Herausforderung: Jeder Rückgang der Bedrohung könnte ja als Anlass verstanden werden, die Mittel für die Ausstattung der Polizei zu verringern. Weit übertriebene Bedrohungsszenarien hingegen könnten die allgemeine Furcht übermäßig schüren und Fragen nach der Verantwortung aufwerfen. Aus Sicht der Polizei bewegt sich die theoretisch optimale Schlussfolgerung daher zwischen Besorgnis an einigen Stellen, Erleichterung an anderen, und transportiert die Botschaft: Die alten Gefahren haben wir gut im Griff, für die neuen benötigen wir aber dringend noch die eine oder andere Verbesserung (sprich: Million oder gesetzliche Ermächtigung). Wunderbarerweise schafft es die Wirklichkeit Jahr um Jahr, diese optimale Mischung haargenau hervorzubringen und punktgenau nahezulegen. Oder ist es am Ende vielleicht gerade andersherum?

Wieso die Polizei?

Dass sich mit Kriminalität – also mit Strafrecht – überhaupt die Polizei beschäftigt, ist nicht selbstverständlich – eigentlich ist es auch nur ein (kleinerer) Teil der Polizei. Als solche bezeichnete man jedenfalls ab dem 18. Jahrhundert (und in einigen Ländern bis heute) die Gesamtheit der staatlichen Verwaltung, die sich mit der Sicherung der öffentlichen Ordnung beschäftigt. „Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahren zu treffen, ist das Amt der Polizei“, heißt es im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1792. Insofern ist fast die gesamte Innenverwaltung eines Staats „Polizei“.

Der landläufige und hier interessierende Begriff der Polizei ist aber enger. Er bezeichnet jene Teile der öffentlichen Gewalt, denen neben der allgemeinen Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung (Gefahrenabwehr, sogenannte präventive Tätigkeit der Polizei) auch die Aufgabe der Mitwirkung bei der Verfolgung von Straftaten (sogenannte repressive Tätigkeit) durch das Gesetz übertragen ist. Eigentlich ist dies (allein) die Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Diese ist „verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten“ (Paragraf 152 Absatz 2 Strafprozessordnung), und muss, sobald sie vom Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, den Sachverhalt erforschen (Paragraf 160 Absatz 1). Hierzu kann sie die Behörden und Beamten des Polizeidienstes anweisen, „Ermittlungen vorzunehmen“ (Paragraf 161 Absatz 1). Die Polizei ist verpflichtet, „Straftaten zu erforschen“ und die Ergebnisse ihrer Ermittlungen „ohne Verzug der Staatsanwaltschaft zu übersenden“ (Paragraf 163 Absatz 1 und 2).

Auf dieser gesetzlichen Legitimationsschiene kommt es dazu, dass die tatsächliche Ermittlungsarbeit zu 99 Prozent von der Polizei („Kriminalpolizei“) durchgeführt wird – rechtlich allerdings nur auf Weisung der Staatsanwaltschaft, die als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ gilt und über dessen Ergebnis (Anklage oder Einstellung) entscheidet.

Die Jahresstatistik

Einmal im Jahr stellt der Bundesinnenminister – also der oberste Dienstvorgesetzte der Bundespolizeien – die sogenannte Polizeiliche Kriminalstatistik vor, die aus den Erhebungen der Polizeien der Länder und des Bundes vom Bundeskriminalamt (BKA) zusammengefügt wird. Eigentlich müsste da der mündige Bürger schon zusammenzucken: Wieso der Innenminister? Wo ist denn der Justizminister? Ist das nicht so, als enthülle und erläutere uns der Bundeswehrminister eine jährliche Statistik über Außenpolitik?

Erstens: Auftritt des Bundesinnenministers vor der Bundespressekonferenz. Präsentieren der gebundenen Langfassung des Berichts. Vortrag eines Sprechzettels, siebenmal auf Unangreifbarkeit geprüft: zwei Komma irgendwas weniger Gewalttaten von 17-jährigen Migranten, dafür elf Komma null mehr Wohnungseinbrüche im „Vorfeld-OK“-Bereich. Rechts und links: Pressereferenten, Leitende Polizeidirektoren in Uniform und Zivil. Unten Journalisten mit durchschnittlich null Kenntnis Kriminologie und null Kenntnis Statistik. Eine Meldung muss trotzdem her für das 12-Uhr-Update: „Die Kriminalität, stieg sie nun oder stieg sie nicht?“

Zweitens: Zeitgleich Veröffentlichung der „Polizeilichen Kriminalstatistik“ (PKS) durch das Bundeskriminalamt. Langversion, Kurzversion, Ganz-kurz-Zusammenfassung. Anhänge, methodische Hinweise, Tabellen. Von den Journalisten, die darüber berichten, lesen vielleicht zehn Prozent zehn Seiten der Kurzfassung. Die übrigen 250 Seiten bleiben für „die Wissenschaft“ (heißt: belanglos).

Drittens: Verwirbelung dessen, was die Redakteure und Redakteurinnen nicht verstanden haben, in Tages-, Wochen- und Langzeitmedien („Hintergründe“).

Schlagzeilen: Weniger Morde in Süddeutschland! Gewaltkriminalität um acht Komma sieben Prozent angestiegen! Gewerkschaft der Polizei fordert… und so weiter. Was davon beim Bürger überhaupt ankommt und was „hängenbleibt“, ist fraglich und wird allenfalls gelegentlich und punktuell (von Kriminologen und Soziologen) überprüft: Abgefragt werden dann zum Beispiel ein „allgemeines Bedrohungsgefühl“ oder Meinungen darüber, ob, wo und in welche Richtung sich die Kriminalität nach Ansicht der Befragten bewegt. Diese Meinungen weichen oft erstaunlich von den Fakten der PKS ab. Das zeigt, dass die statistischen Werte von der Mehrheit der Bevölkerung kaum wahrgenommen und noch weniger verstanden werden. Ihre Bedrohungseinschätzung hängt mehr von anderen, „weichen“ Faktoren ab.

Was ist für die Polizei ein „Fall“?
Was zählt die Kriminalstatistik?

Die PKS enthält – vor allem – die Anzahl der unserer Polizei bekannt gewordenen Straftaten, einschließlich der Versuche, sowie die Anzahl der ermittelten Tatverdächtigen. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Die PKS zählt Fälle, die von der Polizei als Fälle registriert werden. Das klingt banal, beinhaltet aber jede Menge Problemstoff. Denn es beruht auf mindestens drei Parametern, die unbekannt sind: Was ist für die Polizei ein „Fall“? Wann und warum registriert die Polizei einen Fall? Was wird aus den Fällen? Auf alle drei Fragen findet sich die Antwort nicht in der Statistik, sondern bestenfalls in ihren Fußnoten – meistens aber nur in den ungenannten Voraussetzungen.

Nehmen wir an, in der Ortschaft A und in der Ortschaft B gibt es in einem bestimmten Zeitraum jeweils 20 Versuche des Wohnungseinbruchs. Die Ortschaft A hat keine Polizeistation, die nächste befindet sich im 30 Kilometer entfernten B und ist stark besetzt. Was meinen Sie, liebe Leser, wie sich dies in der Kriminalstatistik niederschlägt? Meine Vermutung: Die „Kriminalitätsbelastung“ der Ortschaft B wird deutlich höher sein als die von A. Warum? Weil bei zehn der zwanzig Versuche in A kein Schaden entstanden ist und daher fünf Geschädigte auf eine mühsame Anzeige verzichten. Und weil die Ermittlungstätigkeit in B weit eifriger ist als in A, und sich das herumspricht. Noch ungleich stärker macht sich dieser Effekt bemerkbar bei Delikten wie Nötigung im Straßenverkehr, Hausfriedensbruch, Körperverletzung und dergleichen.

Was ist eine „Dunkelziffer“?

Eine Dunkelziffer ist, das klingt schon im Namen mit, etwas Dunkles, Unbekanntes, auch Furchterregendes. In der Kriminologie bezeichnet das Wort den Anteil von Straftaten, der nicht bekannt wird, sondern eben „im Dunkeln“ bleibt, also nur vermutet (!) wird. Der Gegenbegriff ist das sogenannte „Hellfeld“. Er suggeriert: Klarheit, präzise Differenzierung, erfolgreiche Ahndung. Das stimmt leider auch nicht so recht. Man muss, leider schon wieder, mehrere Gesichtspunkte unterscheiden:

Das „Dunkel“ ist, aus Sicht der Kriminalstatistik, jener Bereich von Kriminalität, der nicht „offiziell“, also von Instanzen der staatlichen Kriminalitätskontrolle erfasst wird. Ob er von anderen (Opfern, Dritten, Institutionen, Verbänden) irgendwie zur Kenntnis genommen wird, spielt keine Rolle. Für die Sichtweise der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden ist nur wichtig, dass es „Straftaten“ gibt, die nicht in die Statistik gelangen, also nicht als solche erfasst werden.

Eine andere Dimension des Problems liegt sozusagen vor oder unterhalb dieser Ebene: Was als Straftat nicht erfasst wird, muss auch nie beweisen, dass es eine solche ist. Anders ausgedrückt: Wenn Ihr Nachbar 15 Minuten lang verkehrsbehindernd vor Ihrer Garage parkt, könnte (!) das eine „Nötigung“ (Paragraf 240 StGB) sein. Viele halten es dafür und bezeichnen es so. Manche Staatsanwaltschaft wird mit guten Gründen anderer Ansicht sein. Weil Sie mit dem Nachbarn auch in Zukunft halbwegs friedlich leben möchten, verzichten Sie vielleicht auf die Alarmierung eines Sondereinsatzkommandos. Ergebnis: War das jetzt eine „Dunkelziffer“? Oder einfach nur ein unerfreuliches, aber rechtlich unerhebliches Ereignis am Samstagmorgen?

Anders gesagt: Bei manchen Deliktsarten wird zwar stets (und mit einiger Berechtigung) von einem „erheblichen Dunkelfeld“ gesprochen (zum Beispiel Sexualdelikte, Betrug im Bagatellbereich, Diebstahl). Dabei bleibt aber auch immer im Dunkeln, ob es diese Delikte überhaupt gegeben hat.

„Hellfeld“ ist, was die Polizei (!) als solches definiert. Es gibt in den polizeilichen Erfassungsformularen sehr detaillierte Kataloge von Merkmalen für jedes mögliche angezeigte Verhalten. Ob ein solches einem oder mehreren Katalogmerkmalen und einem strafrechtlichen „Tatbestand“ zugeordnet werden kann (das Fachwort heißt: subsumieren), ist eine Frage, die von vielem abhängt: von der Darstellungskraft und Durchsetzungsfähigkeit des Anzeigeerstatters; von der Subsumtionsfähigkeit, also der juristischen Kompetenz des Polizeibeamten; von der „Anzeigebereitschaft“ von Betroffenen, Zeugen und Polizeibeamten.

Wie hoch ist wohl die „Dunkelziffer“ von Beleidigungen und üblen Nachreden? Vermutlich geht sie gegen unendlich. Und die von (erfolgreichen) Wohnungseinbrüchen geht vermutlich gegen null. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Die meisten Menschen fühlen sich sehr häufig von irgendjemandem beleidigt (man denke nur einmal an den ganz normalen „Beziehungsstreit“!). Sie halten es aber, aus verschiedenen (guten) Gründen, nicht für tunlich, dies durch Instanzen der staatlichen Kontrolle verfolgen zu lassen. Anders beim Wohnungseinbruch: Die Opfer fühlen sich massiv verletzt, und kaum einer hat gute Gründe, die Tatsache, dass in seine Wohnung eingebrochen und er bestohlen wurde, zu verheimlichen (Ausnahme: Kriminelle, denen verbotene Gegenstände entwendet wurden). Überdies ist die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen meist von einer Anzeige abhängig. Ergebnis: Das „Hellfeld“ ist beim Wohnungseinbruchsdiebstahl extrem hoch, bei der Beleidigung extrem niedrig. Mit der tatsächlichen Häufigkeit hat das aber kaum etwas zu tun.

Es gibt Delikte, die praktisch nur dann herauskommen, wenn sie (aus welchen Gründen auch immer) im polizeilichen Hellfeld landen. Wie groß ist beispielsweise das Dunkelfeld der landesverräterischen Agententätigkeit oder der Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Organisation oder der einfachen Nötigung? Niemand weiß das, auch wenn noch so viele „Terrorismus-Experten“ in Talkshows herumschwadronieren. Wie viele Körperverletzungen gibt es täglich in deutschen Familien? Da darf man, wenn man sich der Wahrheit annähern will, sicher nicht die PKS fragen, sondern muss komplizierte empirische Forschungen anstellen bei Ärzten, Einrichtungen der Kinderbetreuung, Betroffenen, potenziellen Täter/innen, dem Umfeld. Mit den Zahlen der Polizei haben die Ergebnisse solcher Forschungen fast nichts zu tun.

Die Anzeigebereitschaft von – tatsächlichen oder vermeintlichen – Tatopfern spielt vor allem da eine Rolle, wo Straftaten nicht „öffentlich“, sondern in engen sozialen Bezügen geschehen. Das betrifft etwa Sexualstraftaten. Hier kann man aufgrund allgemeiner soziologischer Forschung davon ausgehen, dass die Anzeigebereitschaft etwa seit den 1960er Jahren sehr stark gestiegen ist, weil die „Opfer“-Position von der Gesellschaft weitgehend anerkannt ist und nicht mehr negativ stigmatisiert wird. Das bedeutet: erhöhte Fallzahlen in der Polizeistatistik, gleichzeitig Rückgang des Dunkelfelds. Insgesamt hat sich die Zahl der tatsächlich begangenen Taten wahrscheinlich stark verringert. An der Statistik kann man das aber nicht erkennen.

Hohe Aufklärungsquote = gute Polizeiarbeit, niedrige Quote = schlechte Arbeit
Was ist eine Aufklärungsquote?

„Aufklärungsquote“ ist ein Begriff, der in keinem Bericht über die Kriminalstatistik fehlt. Er wird von den Polizeiführungen wie ein Qualitätsnachweis verwendet und von der Bevölkerung – das ist ja die Absicht – auch so verstanden: Hohe Aufklärungsquote = gute Polizeiarbeit, niedrige Quote = schlechte Arbeit. Beides ist falsch. Denn die Aufklärungsquote ist im Wesentlichen ein Effekt der Statistik – einerseits der Dunkelfeld-Problematik, andererseits der Erfassungskriterien der Polizei. Sie erinnern sich: Die PKS erfasst „die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen.“ Sie erfasst also keineswegs „Täter“! Denn ob der Verdächtige auch wirklich der Täter ist, hat – zunächst – allein die Staatsanwaltschaft zu prüfen.

Ein Beispiel: Wie hoch ist wohl die Aufklärungsquote von Betäubungsmittel (BtM)-Delikten? Das hängt davon ab, was ein solches Delikt und was eine „Aufklärung“ ist. Eine Straftat (ein Delikt) liegt für die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) vor, wenn durch irgendeine Schnittstelle eine entsprechende Information (Input) in das System „Polizei“ eingegangen ist. Das kann, im einfachsten Fall, eine von außen kommende, nicht mehr veränderbare „Strafanzeige“ sein, vielleicht der schriftliche Bericht eines Bürgers. Die meisten solcher externen Strafanzeigen werden mündlich erstattet: Bürger X geht zur Polizeiwache und trägt ein Ereignis vor. Das wird bei BtM kaum jemals der Fall sein. Vielmehr ermittelt die Polizei in diesem Bereich mit einem gelegentlich geradezu wahnhaft wirkenden Eifer von sich aus; in vielen Fällen initiiert sie selbst (über verdeckte Ermittler und Vertrauenspersonen) die Straftaten, die sie anschließend „verfolgt“ (angeblich „zur Abschreckung“). Ergebnis: Ohne Verdächtigen keine Tat. Aufklärungsquote 95 Prozent. Danke, Polizei!

In den Fällen der Strafanzeige durch einen Bürger hat die Anzeige dieselbe Hürde zu überspringen wie bei der Anzeigen-Aufnahme von Amts wegen, wenn also die Polizei von einem Ereignis Kenntnis erlangt und von sich aus prüft, ob es sich um eine Straftat handeln könnte: Das Auffinden einer nicht ansprechbaren Person hinter dem Hauptbahnhof kann der Beginn eines Mordprozesses sein oder der Start der weniger spannenden präventiven Maßnahme, einen volltrunkenen Obdachlosen in Sicherheit zu bringen. Hat die hilflose Person schwere Verletzungen, liegt vielleicht beides zugleich vor. In jedem Fall also müssen – in der Regel – Polizeibeamte entscheiden, ob der Verdacht einer Straftat gegeben ist. Nur selten gehen Strafanzeigen direkt bei einer Staatsanwaltschaft ein; diese leitet auch dann in 99 Prozent der Fälle die Anzeige direkt an die Polizei weiter („mit der Bitte, die notwendigen Ermittlungen durchzuführen“) und wartet ab, was von dort zurückkommt.

Wenn nun also der Polizeibeamte X, bei dem der aus der Nase blutende Anzeigeerstatter Y auftaucht, der Ansicht ist, hier handele es sich um ein Delikt der Körperverletzung, so füllt er ein Formular aus, das letztlich Eingang in die PKS finden wird: Ein „Fall“ ist geboren. Sodann folgt schon das erste Wunder: Gibt der Anzeigeerstatter Y zu Protokoll, den Schlag auf die Nase habe ihm soeben in der Disco ein Herr Z verpasst, vermerkt der Polizeibeamte: Tatverdächtiger ermittelt. Für die PKS heißt das: Fall aufgeklärt! – Hieraus folgt: Aufklärungsquote Körperverletzung heute 100 Prozent.

Noch besser ist es, wenn gleich fünf Blutende erscheinen oder festgenommen oder vorgefunden werden: Das sind fünf Fälle. Alle fünf sagen aus: Der Herr Z hat in der Disco um sich geschlagen. Super-Ergebnis für Kommissar X: Fünf Fälle aufgeklärt.

Und wenn im Jahr zuvor in dieser Disco nur einer geschlagen wurde, folgt daraus für die Statistik: Anstieg der Gewaltkriminalität um 400 Prozent, Aufklärungsquote 100 Prozent. Wenn das ein rasender Reporter der Lokalzeitung in die Finger kriegt, kann daraus eine gar wundersame Geschichte über die Explosion der Gewaltkriminalität im ländlichen Raum entstehen – selbst wenn die Staatsanwaltschaft drei Wochen später alle Fälle wegen unaufklärbarer Beweisschwierigkeiten einstellt.

Noch ein Beispiel: Nehmen wir an, in der bayerischen Kleinstadt A wird, durch Anordnung der Landespolizeidirektion (auf ein abwägendes Schreiben des Staatsministeriums des Innern, nach einem Gespräch auf Staatssekretärsebene, im Anschluss an den – der Staatskanzlei berichteten – abgestimmten Schlussbericht der interministeriellen Arbeitsgruppe „Effektive Bekämpfung der internationalen Wirtschaftskriminalität“) eine „Sonderkommission Wirtschaftskriminalität“ (Soko WiKri) gegründet, kriminologisch unterteilt in die Bereiche „Betäubungsmittel/Geldwäsche“, „Bettelbetrug“ und „Steuerhinterziehung“. Zehn Beamte des gehobenen Dienstes werden der Kommission zugeteilt. Sie entwerfen einen strategischen und einen taktischen Plan und gehen ans Werk.

Wir wissen nicht, was dies für die Kleinstadt A an realem Sicherheitsgewinn mit sich bringen wird. Doch wir ahnen, was es für die Kriminalstatistik bedeutet: Sie wird stark ansteigen. Statt, wie seit 15 Jahren üblich, ein paar Kiffer am örtlichen Gymnasium zu observieren, wird nämlich Gruppe 1 der Soko den Handel mit Amphetaminen aufrollen: „Anlassunabhängige Kontrollen“ jedes daherkommenden tschechischen Kombis „aufgrund polizeitaktischer Erfahrungen“ sind nun Pflicht (Nebeneffekt: starker Anstieg der illegalen Beschäftigung, des Sozialversicherungsbetrugs, der Verkehrsordnungswidrigkeiten). Zudem werden Vertrauensleute angeworben; diese verraten serienweise Bezieher, Einführer und Händler von Kleinmengen. Da die notorisch in der Fußgängerzone herumgreinenden Rumäninnen samt Hund und betäubtem Kind den Stempel des Bettelbetrugs sozusagen auf der Stirn tragen, dürfte auch bei Soko-Gruppe 2 die Kriminalität besorgniserregende Ausmaße erreichen. Aktenabgleiche mit dem Finanzamt decken schließlich bei Soko-Gruppe 3 auf: ein Sumpf der Unklarheit bei der Umsatzsteuer des örtlichen Handwerks!

Ergo: Im bayerischen A hat im letzten Jahr die Ausländerkriminalität um 1200 Prozent, die Betäubungsmittelkriminalität um 700 Prozent, die Steuerkriminalität um 300 Prozent zugenommen. Aufklärungsquote: Ausländer 100 Prozent, BtM 95 Prozent, Steuer 15 Prozent. Wirtschaftskriminalität insgesamt: steiler Anstieg – gottlob fast alle Fälle aufgeklärt. Daher Auflösung der Soko WiKri im folgenden Jahr: Die Kriminalität bricht in sich zusammen. Herzlichen Dank, Staatsministerium des Innern! In der Kleinstadt A ist derweil das Leben weitergegangen wie immer.

Jeder von uns, liebe Leserinnen und Leser, kann sich die atemlosen „Reportagen“ ausmalen, die aus solchem Datenstoff für eine nochmals gefilterte, nochmals intellektuell heruntergerechnete Zeitungs- oder Fernsehöffentlichkeit hergestellt werden können: mit fast jeder denkbaren tendenziösen Botschaft, ohne dass man bewusste Fälschung annehmen oder auch nur mutmaßen könnte.

Warum ist das so (oder so ähnlich)? Weil in den beiden Fallgruppen „Betäubungsmittel“ und „Ausländer“ jeder Fall der Natur der Sache nach nur erfasst werden kann, wenn eine tatverdächtige Person schon feststeht. Ganz offensichtlich ist dieser Zusammenhang bei Spezialdelikten: Ausländerkriminalität oder Betäubungsmittelkriminalität werden zu fast 100 Prozent „aufgeklärt“, ebenso etwa „Trunkenheit im Straßenverkehr“. Erst findet man den Ausländer ohne Aufenthaltstitel, dann hat man eine „Tat“. Auch Sexualdelikte werden fast alle „aufgeklärt“, denn auch hier wird ein „Fall“ in der Praxis meist nur bekannt, wenn zugleich ein bestimmter Verdächtiger benannt wird. Die Aufklärungsquote tendiert also nur deshalb gegen 100, weil bei diesen Delikten immer (!) zuerst ein Verdächtiger ermittelt und deshalb (!) eine Straftat registriert wird. Da lässt sich natürlich über die Aufklärungsquote preiswert frohlocken. Tatsächlich dürfte, wie ein jeder sich ausmalen kann, die Dunkelziffer in diesen Fällen besonders hoch sein.

An solch einfachen Beispielen lassen sich Probleme von Fall- und Aufklärungsquoten nachvollziehen. Diese sind mitnichten, wie manche Präsentation der PKS suggeriert, die Folge der Fähigkeiten und braven Pflichterfüllung der Polizei einerseits, der kriminellen Intelligenz andererseits, sondern vielfach delikts- oder statistikspezifisch.

Es wird etwa immer gern behauptet, die Aufklärungsquote bei Mord und Totschlag sei besonders hoch (über 90 Prozent). Das stimmt aber nur dann, wenn man die Bedingungen akzeptiert: Jemand muss einen Todesfall als Straftat erst einmal erkennen, dann „anzeigen“, und jemand muss ihn als solchen registrieren. Bei einer unbekannten Zahl von Todesfällen geschieht das nicht (denken Sie an verdeckte Sterbehilfe, verborgene Mitleidstötungen, spurenarme Tötungsdelikte durch Angehörige, „Mitnahmesuizide“, die als Unfälle getarnt sind). Niemand weiß, wie hoch diese Zahl ist. Daher ist namentlich im Bereich der Schwerstkriminalität (Tötungsdelikte, Terrorismus) die selbstzufrieden daherkommende Attitüde der Sicherheitsspezialisten oft besonders fraglich.

Eine Statistik über die „Tätigkeit“ der Polizei
Wie hoch ist die Kriminalität wirklich?

Die polizeiliche Kriminalstatistik ist, wie Kriminologen zutreffend formulieren, im Wesentlichen keine Statistik über die Wirklichkeit der Kriminalität, sondern eine Statistik über die Tätigkeit der Polizei. Und daneben auch eine über die „gefühlte“ (behauptete) Kriminalitätswirklichkeit. Sie ist dadurch weder falsch noch verwerflich. Ihre öffentliche Vermarktung und Bewertung ist allerdings oft bestimmt von Desinformation und politischen Strategien.

Um herauszufinden, wie die Kriminalität wirklich verläuft, müsste man zumindest auch wissen, was bei den (von der Polizei) eingeleiteten Verfahren am Ende herauskam. Das wird in der PKS mit keinem Wort und in keiner Tabelle erwähnt. Zugespitzt: Wenn ein übermotivierter Beamter 100 Verfahren wegen Landfriedensbruch gegen 100 zufällig festgenommene Anti-Bahnhofs-Demonstranten registriert und die Staatsanwaltschaft sämtliche Verfahren sofort mangels Tatverdacht einstellt, ist trotzdem die „politisch motivierte Gewaltkriminalität“ explodiert, und die Polizei hat alle Verfahren „aufgeklärt“, obwohl in Wirklichkeit gar nichts passiert ist. Die Verzerrung ist nicht Schuld der Statistik, sondern die ihrer Ausleger.

Die Ergebnisse der bei der Justiz ankommenden Strafverfahren finden sich in der sogenannten „Strafverfolgungsstatistik“. Sie wird vom Statistischen Bundesamt als „Fachserie 10: Recht“ jährlich herausgegeben; wer will, kann sie im Internet nachlesen. Hier wird erfasst, wie die Justiz mit den eingeleiteten Strafverfahren umgegangen und was als deren Ergebnis herausgekommen ist.

Das ist natürlich immer noch nicht die ganze Wahrheit, sondern nur die Wahrheit durch den Filter der justizförmigen Verfahren. Aber da es bei Kriminalität nicht um irgendwelche unmoralischen Handlungen geht, sondern um gesetzliche Straftatbestände, ist natürlich die Frage, ob ein solcher Tatbestand tatsächlich erfüllt wurde, von zentraler Bedeutung. Die Strafverfolgungsstatistik ist daher für die Abbildung der tatsächlichen Kriminalität und ihrer Entwicklung mindestens so wichtig wie die PKS. Trotzdem kennt sie fast niemand. Sie wird auch (vom Bundesjustizminister) nicht öffentlich und medienwirksam präsentiert. Und kaum ein Journalist berichtet über sie.

Der Grund ist vermutlich nicht, dass sie ein bisschen schwerer zu lesen ist als die der Polizei. Das Problem ist: Beide Statistiken sind miteinander überhaupt nicht kompatibel. Sie erfassen vollkommen verschiedene Sachverhalte, überdies nach verschiedenen Parametern. Daher kann man sie auch nicht einfach „nebeneinanderlegen“. Selbst die schlauesten Lehrstühle für Kriminologie vermögen es seit Jahrzehnten nicht, eine valide (gültige) Beziehung zwischen beiden Statistiken herzustellen. Das Ergebnis lautet, quer durch alle Lehrbücher der Kriminologie: Nichts Genaues weiß man nicht. Der Rest ist „Gefühl“.

Das, wird mancher sagen, kann nicht sein: Man wird doch wenigstens „Tendenzen“ ableiten können, also das Ergebnis, ob die Kriminalität sinkt oder steigt! Meine Antwort: leider noch nicht einmal das. Man kann natürlich die PKS-Ergebnisse vieler Jahre vergleichen und hieraus „Tendenzen“ errechnen. Aber schon dann hat man wieder vieles außer Betracht gelassen, was sich nicht oder nur sehr schwer errechnen lässt: die Entwicklung des Rechtszustands, die Veränderungen der polizeilichen Sachkompetenz oder der Empfindlichkeiten, die Rückwirkungen tief greifender sozialer Veränderungen auf Anzeigebereitschaft, Definitionsbereitschaft, Handlungsbereitschaft von Polizeibeamten. In einer Gesellschaft ist, mit anderen Worten, alles ständig in Bewegung. Daher sind Aussagen über statistische Werte, sei es zur Kriminalität, sei es zur Rechtstreue, immer nur mit vielen Vorbehalten möglich.

Das missfällt natürlich allen, die „auf einfache Fragen klare Antworten“ haben wollen, egal ob sie möglich sind oder nicht. Das sind wir alle. Polizeibeamte vielleicht noch ein bisschen mehr als der Durchschnitt, weil es immerhin auch um den „Erfolg“ ihrer beruflichen Arbeit geht. Wer würde schon gern zugeben, dass die Erfolgsmeldungen über seine Pflichterfüllung genauso unsicher sind wie Bedrohungsszenarien, die ihnen vorausgehen? Ganz schlecht kommt die Botschaft „einerseits…, andererseits“ bei den Medien an. Und überhaupt nicht hören wollen sie Politiker, also Menschen, deren Beruf und Erwerbsquelle das Haben von Meinungen und das Anbieten von (meist: juristischen) Lösungen für beliebige Probleme ist. Hier müssen die allereinfachsten Botschaften her, koste es, was es wolle. Denn angeblich kann (und will!) der Wähler (das sind Sie!) einfach nicht mehr. Und wer die Bild hat, sagte ein berühmter Staatsmann, hat gewonnen.

Ergebnisse

Nun soll hier keinesfalls der Eindruck erweckt werden, als sei die PKS „falsch“, oder als kenne der Kolumnist geheime Wahrheiten. Es geht um etwas anderes.

Zum einen und zu allererst sind die Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, hinter den Fassaden der Floskeln und Behauptungen nach der Wirklichkeit zu forschen, die sie selbst betrifft und sich in einer offenen sozialen Kommunikation als „wahr“ erweisen kann. Ich weiß, dass dies möglicherweise verunsichernd wirkt: Wenn schon dem BKA nicht zu glauben ist, wem dann noch?

Aber so schlimm ist es nicht. Das BKA lügt nicht. Wer verstanden hat, wie die Polizeiliche Kriminalstatistik zustande kommt und was sie wirklich erfasst, wird mit kritischer Vorsicht auf Alarmmeldungen blicken und sich vielleicht überlegen, welche soziale Wirklichkeit hinter den Zahlen steckt.

Denn bedauerlicherweise können viele Millionen Bürger zwar mit den Statistiken und den sich daraus ableitenden Schlussfolgerungen über die dritte, zweite und erste Fußball-Bundesliga souverän umgehen, fallen aber auf jede hanebüchene Behauptung über die Kriminalitätsstatistik herein wie Schulkinder. Das kann man verbessern.

Die Multiplikatoren der Presse sind aufgerufen, nicht länger auf desinformative Scheinargumente hereinzufallen oder solche selbst zu produzieren. Würden die Redaktionen das Thema so ernst nehmen, wie es ihre Schlagzeilen vortäuschen, müssten sie erkennen, dass die PKS nicht „das“ Bild der Kriminalität zeigt, sondern nur ein Bild – aus einem ganz bestimmten Blickwinkel, mit vielerlei Verzerrungen und noch mehr Voraussetzungen, die man kennen muss, will man ein seriöses Ergebnis vermitteln oder gar Politik daraus machen.

Erste Aufgabe und Voraussetzung einer kritischen Presse ist es, die Dinge zu verstehen. Nur dann kann man Interessen, Tendenzen und Meinungen von Tatsachen trennen und bewerten. Unsere Journalisten haben sich stattdessen angewöhnt, sich wie Politiker zu gebärden. Sie schwimmen im Kielwasser der Macht und bemühen sich, deren Eingebungen vorzuformulieren – als ob sie dadurch Ruhm erringen könnten. Wann ist in der deutschen Presse der letzte Bericht erschienen, der die Zahlen und Ergebnisse der PKS unter methodenkritischem, kriminologischem Blickwinkel infrage stellte? Was sind das für „kritische Medien“, die nur noch nach personalisierbaren „Skandalen“ suchen, aber den Skandal im Gewöhnlichen nicht bemerken?

Meine Empfehlung an die Leser: Fragen Sie die Damen und Herren „Experten“, was es mit der Kriminalitätsstatistik im Detail auf sich hat, und lassen Sie es sich erklären. Bis dahin gilt leider, dass für Leser und Zuschauer alles in einem matschigen Gefühl stecken bleibt. Einerseits wird alles irgendwie immer schlimmer, andererseits aber auch nicht: Egal PKS. Wenn Sie sich da mal nicht täuschen!