Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!
Elf Jahre lang hat der Bundestag über ein Gesetz gegen politische Korruption nachgedacht. Jetzt endlich hat es das Parlament beschlossen. Aber es ist wie schlechter Käse – viel Luft, wenig Substanz. Nur ein Abgeordneter, der sich extrem dumm anstellt, kann überhaupt bestraft werden
Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer
26. Juni 2014, 8:00 Uhr / Editiert am 10. Juli 2014, 2:57 Uhr DIE ZEIT Nr. 27/2014
Mitbürgerinnen und Mitbürger! Bitte unterlassen Sie es zukünftig, Abgeordnete des Deutschen Bundestags, eines deutschen Landtags oder eines Gemeinderats zu bestechen! Abgeordnete aller Parlamente! Bitte achten Sie darauf, sich ab 1. September 2014 nicht mehr bestechen zu lassen!
Der Grund hierfür ist einfach: Die Sache wird demnächst vielleicht ein bisschen strafbarer. Dann könnte es – wenn man sich sehr dumm angestellt hat und alles schiefgeht – sogar bitter werden. Deutschland ist nämlich kürzlich (mit knappem Vorsprung vor dem Sudan) als 162. Staat den Forderungen aus dem Antikorruptionsübereinkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2003 nachgekommen.
Darin war den Mitgliedsstaaten auferlegt worden, rechtliche Sanktionen gegen die Korruption im politischen Bereich einzuführen. Deutschland – oder sagen wir: sein höchstes Haus, der Bundestag – hat seither lange, ernsthaft und gründlich darüber nachgedacht, ob es wohl sein könne, dass es überhaupt gemeint sei.
Denn mochte es zwischen Rottach-Egern und Timmendorf, Aachen und Zittau in 65 Jahren auch mancherlei Lustiges und Spannendes gegeben haben, so doch wohl nicht einen Korruptionsfall oder zwei, an denen leibhaftige Abgeordnete beteiligt waren!
Notfalls ließen der König von Tonga, ein Prinz von den Caymans oder der Seniorchef des wahlkreisbeherrschenden Zulieferbetriebs ausrichten, die Sache sei aber so etwas von in Ordnung gewesen! So blieben Phantom-Flugzeuge und HS-30-Panzer, Lkw-Subventionen und prachtvolle Umgehungsstraßen auf ewig Rätsel oder nebelhafte Gerüchte aus den Bonner Partykellern und Berliner Hintergründen: Rollen für Mario Adorf und Sky du Mont.
Alles was schmerzt, blieb straflos
Da dies dem gemeinen Bürger nicht weiter aufgefallen ist – oder er es aus Furcht hinnahm, weil „die da oben“ oft auch im Sturz noch die Kraft zur Vernichtung haben –, war es den Abgeordneten, die über die Voraussetzungen ihrer eigenen Strafbarkeit entscheiden mussten, lange nicht wirklich peinlich, dass dem in Sonntagsreden beschworenen Strafbedürfnis für politische Korruption in Deutschland – nach Streichung eines Tatbestands „Stimmenkauf“ im Jahr 1954 – zunächst substanziell gar nichts und von 1994 an bloß eine Art gesetzlicher Scherzartikel gegenüberstand.
Da nämlich ermannte sich das Parlament und fügte in Gestalt des Paragrafen 108 e Strafgesetzbuch wieder eine Vorschrift gegen die Abgeordnetenbestechung ins Gesetz ein. Sie vollbrachte das rührende Kunststück, erneut nur den klassischen Stimmenkauf zu verbieten (verboten also: D-Mark gegen Stimme; nicht verboten: erst Stimme, dann Steuerbefreiung) – eine Verhaltensweise, die zwar auf dunklen Kontinenten üblich, in Deutschland aber schon seit den Zeiten des Kgl. Bayer. Abgeordneten Josef Filser aus der Mode gekommen ist.
Die tatsächlich kriminogenen Bereiche hingegen klammerte man vollständig aus: Vom Straftatbestand waren weder nachträgliche „Belohnungen“ (für nützliche Anträge und erfreuliches Stimmverhalten) erfasst noch immaterielle Vorteile (schöne Damen), noch Zuwendungen an Dritte (sprich: an Ehegatten, Freunde, Tennisvereine oder Parteien): All das blieb straflos.
Verurteilungen nach dem Paragrafen 108 e gab es daher allenfalls vereinzelt; sie wirkten wie Versehen. Unter Strafrechtlern gilt die Vorschrift als Beispiel für Strafnormen, die ihren praktischen Sinn dadurch entfalten, dass sie durch martialische Bedrohung fernliegenden Verhaltens den wichtigen Teil des Strafwürdigen straffrei stellen und privilegieren, indem sie ihn weglassen. Denn was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt, so sagt es mit guten Gründen das Grundgesetz.
Von 1949 bis heute musste man sich als deutscher Abgeordneter im Ergebnis schon wirklich außergewöhnlich dumm anstellen, um wegen Bestechlichkeit bestraft zu werden. Zur Befriedung der Volksseele blieben die üblichen Skandälchen: Logenplätze beim Fußballspiel! Fraktionssprecher in der VIP-Lounge! Stadträte on tour mit dem heimischen Abfallentsorger! Drohend werden solche Hinterhof-Geschichten vorrätig gehalten von medialen Investigations-Trupps aller Couleur – und hämisch hochgezogen, wenn es passt. Stoff für drei Tage; es folgt ein sogenannter Rücktritt, und weiter geht’s.
Was politische Korruption tatsächlich ist und anrichtet, wird damit eher verschleiert als offenbart. Auch über korruptionsanfällige Strukturen in der Verzahnung von Politik, Verwaltung und Wirtschaft wird kaum noch nachgedacht, ebenso wenig über die Selbstverständlichkeit, mit welcher die politischen Parteien den Staat, an dessen Gestaltung sie nach Wortlaut und Sinn des Grundgesetzes nur „mitwirken“ sollen, inzwischen als ihr Eigentum betrachten.
Fast so schnell wie im Krieg
Durch Gesetz vom 23. April 2014 ist nun der Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung neu gefasst worden. In einem wahrhaft bemerkenswerten Verfahren: Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen stammt vom 11. Februar 2014. Die erste Lesung im Bundestag fand am 14. Februar statt, der Rechtsausschuss führte schon am 17. Februar eine Anhörung von Sachverständigen durch; heraus kamen am 19. Februar ein paar kleine Ergänzungsvorschläge, die der Bundestag gern übernahm; zweite und dritte Lesung sowie der Gesetzesbeschluss folgten am 21. Februar.
Ein Jahrzehnt-Projekt erledigt in einer Woche!
So schnell kann es gehen! Normalerweise klappt das nur, wenn es um Krieg und Frieden oder Terrorismus geht. Drängte hier am Ende ein ähnliches Maß an Bedrohung zur Eile? Ein Blick in die Plenarprotokolle klärt auf: In den Aussprachen entfielen drei Viertel der Zeit auf die zugleich beratene Erhöhung der Abgeordnetenbezüge. Da ließ sich die Korruptionsbekämpfung schnell und lautlos miterledigen.
Nun also: Nach der neuen Vorschrift wird bestraft, wer als Mitglied einer Volksvertretung mittels konkreter Vereinbarung „einen ungerechtfertigten Vorteil für sich oder einen Dritten“ dafür fordert, vereinbart oder annimmt, dass er in Ausübung seines Mandats eine Handlung „im Auftrag oder auf Weisung“ vornehme oder unterlasse, spiegelbildlich, wer einem Mandatsträger einen solchen Vorteil anbietet oder gewährt.
Das klingt zunächst ganz gut. Dass es in der Substanz gut sei, wird man aber kaum behaupten können. Dazu verbergen sich im Wortlaut zu viel offenkundig abgründige Vorbehalte, turmhohe Strafbarkeitsschwellen und geradezu planmäßig wirkende Beweisschwierigkeiten. Die nachdrücklichen Einwände, die mehrere der Sachverständigen gegen die Wirksamkeit der neuen Regelung erhoben hatten, blieben sämtlich unberücksichtigt. Die beiden wichtigsten betreffen die Fragen, was denn wohl unter „ungerechtfertigt“ zu verstehen und was mit einem Handeln nach „Auftrag oder Weisung“ gemeint ist.
Zu Ersterem erklärt uns das Gesetz: Der Vorteil sei in keinem Fall ungerechtfertigt, wenn seine Annahme entweder den Vorschriften über die Rechtsstellung von Abgeordneten oder den „parlamentarischen Gepflogenheiten“ entspreche. Merke: Rechtmäßig ist, was irgendwie erlaubt und was schon heute üblich ist. Von solchen Korruptionsgesetzen können die Baubranche und die Exportwirtschaft nur träumen. Danke, Gesetzgeber!
Zur weiteren Absicherung gegen allzu ungezügelten Strafverfolgungswillen hat der Gesetzgeber ein paar Beispiele eingefügt. Die machen die Abgründe plastisch: Ausdrücklich ist im Gesetz angeordnet, dass „ein Mandat“, eine „politische Funktion“ sowie eine „zulässige Spende“ in keinem Fall rechtswidrige Bestechungs-Vorteile seien.
Da diese Vorteile also schon von Gesetzes wegen niemals „unrechtmäßig“ sein können, darf ein Abgeordneter – beispielsweise – straffrei für sich oder eine andere Person einen Posten als Staatssekretär oder Minister fordern (oder annehmen) als Gegenleistung für seine Zusage, bei der Wahrnehmung seines Mandats Handlungen (zum Beispiel Abstimmungen) nach Weisung des Vorteilsgebers vorzunehmen. Was würde das deutsche Parlament wohl sagen, wenn ein solcher Tatbestand von der Türkei oder von Russland präsentiert würde – als Beleg für vorbildliche Korruptionsbekämpfung?
Nachträgliche „Belohnungen“, also Vorteile, die erst nach der Vornahme der Handlungen zugewandt werden, sind vom Wortlaut nur dann erfasst, wenn sie schon vor der Handlung vereinbart worden sind. Wer das jemals beweisen kann, dürfte zum Ermittler des Jahres gewählt werden. In allen anderen Fällen, wenn also die Vereinbarung – sagen wir: zufällig – erst später zustande kommt, sind die eigentlich ungerechtfertigten Vorteile vollständig straflos.
„Auftrag“ und „Weisung“ schließlich sind Begriffe, hinter denen sich Führung und Kontrolle durch den Auftrag- oder Weisungsgeber verbergen. Umgekehrt heißt das: Wo ernst zu nehmende Reste von Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit bleiben oder auch nur unwiderlegbar behauptet werden, erfolgt die Handlung nicht „auf Weisung“. Eine Bestrafung für Mandatsträger dürfte daher auch hier in Zukunft allenfalls einige Dumme treffen, die es versäumten, lauthals zu versichern, auf Weisung des Vorteilsgebers noch einmal ganz unabhängig über dessen Argumente nachdenken zu wollen. Denn gehören nicht Perspektivenschärfung und wohlbegründeter Meinungswechsel zum Wesen des Abgeordnetenamts? Und wer kennt schon die Wege und Qualen des Gewissens, wenn es um die vierzigste Änderungsverordnung zur Außenwirtschaftsverordnung oder um die zwanzigste Novelle der Anlage zum Arzneimittelgesetz geht?
Am Ende bleibt: Der neue Tatbestand ist nicht der behauptete große Wurf geworden, sondern Käse minderer Qualität – viel Luft, wenig Substanz. Die Löcher machen 95 Prozent des Volumens aus. So endet auch diesmal der Sprung in die weite Welt in den üblichen engen Tälern.
Die Lobbyisten werden jubeln
Das ist eine gute Nachricht für die Marionettenspieler: Sichergestellt ist, dass Bereiche der „Lobby-Arbeit“, der Zuwendungen für „gutes Klima“, für „erfreuliche“ politische Meinungen, der nachträglichen Belohnung, der „Posten“-Korruption und so weiter von vornherein vom Gesetz nicht erfasst werden. Das alles bleibt strafrechtlich erlaubt.
Zum Abschluss des Gesetzeswerks erwartet uns noch eine Überraschung: Zuständig für alle Verfahren nach dem neuen Paragrafen 108 e sind allein die Oberlandesgerichte und die Generalstaatsanwaltschaften. Strafverfahren gegen Gemeinderäte, die zwei Kisten Wein als Gegenleistung dafür angenommen haben, dass sie demnächst für die Verlängerung einer den Winzer begünstigenden Satzung stimmen, werden so den Verfahren gegen Hochverräter, Kriegsverbrecher und Terroristen gleichgestellt.
Man darf wohl sagen: Gewiss nicht, weil sie so schwierig wären. Die Begründung, sämtliche etwa 200.000 Mandatsträger in den deutschen Parlamenten seien selbst in den Niederungen von Hostessen-Clubs, Schmiergeld-Kuverts und Posten-Geschacher dermaßen bedeutend, dass ihre gelegentlichen Erbärmlichkeiten die Aufmerksamkeit nur der allerhöchsten Gerichte verdienten, ist so großspurig wie albern. Und doch gibt es einen Grund, der sich aus dem Effekt erschließt: Die exklusive Zuständigkeit haucht den Taten vom Ende her den Atem des Extraordinären, Staatserschütternden, „sensibel“ zu Handhabenden ein. Die Sorge der Abgeordneten, es könne von einer ganz normalen deutschen Staatsanwaltschaft einmal die Unschuldsvermutung ein bisschen zu früh außer Acht gelassen werden, muss sehr groß gewesen sein.
Brave Bürger und ihr „gutes Recht“
Die Bürger wollen von all diesen komplizierten Einzelheiten leider nichts Genaues wissen. Sie lesen das Gesetz nicht, das für sie und in ihrem Namen gemacht ist. Sie finden es zu schwierig, obgleich sie zugleich bereitwillig mit hohem Aufwand jede Art von Wissen aufsaugen, dessen Beherrschung ihnen Teilhabe an der gerade herrschenden Meinung oder Subkultur suggeriert. Sie jammern gern über diese (selbst verschuldete) Unwissenheit und sind doch auch irgendwie stolz darauf, als offenbare sich in ihr eine Art von praktischer Lebensklugheit. Und streiten, zur Belustigung der Juristen, unablässig mit sich und der ganzen Welt um ihr angeblich „gutes Recht“.
Vielfach gelten Bemühungen um ein Verständnis unseres Rechtssystems dem common sense als „überflüssig“, als vergeudete Lebenskraft, als Bestätigung der Nutzlosigkeit des eigenen Lebens vor den Toren der Gerechtigkeit. In Franz Kafkas Text Vor dem Gesetz wartet ein Mensch ewig vor dem Eingang zur Gerechtigkeit. In ihm erblickt der deutsche Bürger einen Bruder – freilich nur vom TV-Sessel aus, also nicht in Verzweiflung, sondern in einer selbst zugemessenen Gnade der Vergeblichkeit. Der erträumte Tag der Freiheit wird daher nicht als Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit imaginiert, sondern eher als siegreicher Gewaltausbruch. Hierfür freilich fehlen notorisch Talent, Mut und Anlass. Daher lässt sich unterdessen recht bequem regieren.
Deutschland ist ein hoch entwickeltes Land mit einer gebildeten Bevölkerung, zahllosen Möglichkeiten der Teilhabe und einer beeindruckenden Rechtstreue der großen Mehrheit. Zwar werden unsere Ärzte weiterhin straflos von der Pharmaindustrie geschmiert, aber noch muss niemand Fakelaki bezahlen, um behandelt zu werden. Baugenehmigungen werden zu 99 Prozent nach Recht und Gesetz erteilt, auch wenn bei öffentlichen Bauvorhaben 5 Prozent der Bausumme korruptiv versickern. Korruption in der Justiz kommt praktisch gar nicht vor. Wir befinden uns also wahrlich nicht auf einem Niveau, auf dem Korruption den Staat und die Gesellschaft so durchdrungen hat, dass nichts mehr geht. Staaten, in denen dies der Fall ist, gibt es genug. Sie sind Beispiel dafür, wohin man es keinesfalls kommen lassen darf.
Sollte ein Land wie die Bundesrepublik nicht eine Strafvorschrift gegen die Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten haben, die ihren Namen verdient? Sie müsste sich bemühen, statt symbolischer Randbereiche, in denen sich nur außergewöhnlich einfältige Täter jemals strafbar machen können, die wirklichen Gefahrenbereiche und die schlauen Täter zu erfassen. Das gelingt dem Gesetzgeber, wenn es um andere Tätergruppen geht, häufig sehr gut. Das neue Gesetz hingegen ist für die intelligenten und gefährlichen Täter, die es ohne jeden Zweifel gibt, nicht mehr als ein Witz. Es bestätigt eine alte Regel: Wenn die Wölfe Gesetze gegen die Wilderei machen, haben die Schafe nichts zu lachen.