OLG Karlsruhe, Beschluss vom 03. August 2017 – 2 Ws 225/17 –, juris

Orientierungssatz

Unterlässt die Strafvollstreckungskammer vor der Entscheidung nach § 57 StGB dem Verurteilten die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt bekannt zu geben und zum Gegenstand der mündlichen Anhörung zu machen, ist der ergehende Beschluss grundsätzlich aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen; hierbei ist unerheblich, ob die Stellungnahme für den Verurteilten nachteilig oder vorteilhaft ist.

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Freiburg – Strafvollstreckungskammer – vom 12.07.2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Landgericht Freiburg – Strafvollstreckungskammer – zurückverwiesen.

Gründe

I.

1

Der heute 22-jährige Verurteilte wurde durch Urteil des Amtsgerichts F vom 14.07.2016, rechtskräftig seit dem 22.07.2017, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (hier: Kleinmengen von Marihuana) in vier Fällen, begangen in der Zeit vom 28.02. bis zum 19.04.2016 im Bereich des X-Kirchplatzes in F, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde. In dieser Sache hatte sich der Verurteilte im Anschluss an seine am 19.04.2016 erfolgte Festnahme bis zur Urteilsverkündung am 14.07.2017 in Untersuchungshaft befunden.

2

Bereits wenige Monate nach seiner Haftentlassung bzw. nach Beginn der Bewährungszeit wurde der Verurteilte erneut straffällig und deshalb durch Urteil des Amtsgerichts F vom 13.03.2017, rechtskräftig seit dem 21.03.2017, wegen „gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln sowie unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln“ (hier: erneut Kleinmengen von Marihuana), begangen am 29.10.2016 in der Y-Straße in F (d. h. in unmittelbarer Nähe seiner damaligen Unterkunft in der von der Z betreuten Container-Siedlung in der A-straße) und am 10.12.2016 erneut auf dem X-Kirchplatz in F, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten und zwei Wochen verurteilt.

3

In der zuletzt genannten Sache hatte sich der Verurteilte zunächst seit dem 10.12.2016 in Untersuchungshaft befunden, seit dem 21.03.2017 (also mit Urteilsrechtskraft) befindet er sich in Strafhaft. Eine Reststrafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe aus dem Urteil vom 13.03.2017 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts F mit Beschluss vom 16.05.2017, rechtskräftig seit dem 26.05.2017, abgelehnt. Damals waren sowohl die Justizvollzugsanstalt F in ihren Stellungnahmen vom 27.04. und vom 04.05.2017 als auch die Staatsanwaltschaft F mit Verfügung vom 20.04.2017 einer bedingten Entlassung entgegen getreten.

4

Bereits mit Beschluss vom 02.05.2017, rechtskräftig seit dem 13.05.2017, hatte die inzwischen auch insoweit zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts F die dem Verurteilten bewilligte Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts F vom 14.07.2016 widerrufen und bezüglich der vom Verurteilten erfüllten Arbeitsauflage eine Anrechnungsentscheidung im Umfang von einer Woche getroffen, so dass im weiteren Verlauf des Vollstreckungsverfahrens rückwirkend zum ersten Zwei-Drittel-Termin die Strafvollstreckung unterbrochen wurde und nunmehr seit dem 10.05.2017 die widerrufene Strafe vollstreckt wird.

5

Der gemeinsame Zwei-Drittel-Termin war – unter Berücksichtigung der jeweils verbüßten Untersuchungshaft sowie der im Widerrufsbeschluss getroffenen Anrechnungsentscheidung – am 18.07.2017. Das Strafende ist auf den 27.12.2017 notiert.

6

Die Justizvollzugsanstalt F hat in ihrer Stellungnahme vom 20.06.2017 im Hinblick auf die – eine bedingte Entlassung befürwortende – Stellungnahme der zuständigen Sozialarbeiterin erklärt, dass sie die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts stelle. Die Staatsanwaltschaft F hat mit Verfügung vom 27.06.2017 beantragt, eine Reststrafaussetzung zur Bewährung abzulehnen.

7

Die Strafvollstreckungskammer hat den Verurteilten am 12.07.2017 mündlich angehört und mit Beschluss vom gleichen Tage, dem Verurteilten zugestellt am 17.07.2017, eine Reststrafaussetzung zur Bewährung abgelehnt. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 14.07.2017.

II.

8

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist gemäß §§ 463 Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässig und hat auch in der Sache – vorläufigen – Erfolg. Der angefochtene Beschluss kann keinen Bestand haben, weil die Strafvollstreckungskammer bei ihrer Entscheidung von einer unvollständigen bzw. teilweise unzutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist und infolgedessen auch das Anhörungsrecht des Verurteilten verkürzt hat.

9

Die Strafvollstreckungskammer hat die – im Vergleich zur ersten Stellungnahme vom 27.04.2017 (ergänzt mit Schreiben vom 04.05.2017) deutlich positivere – Stellungnahme der Vollzugsanstalt vom 20.06.2017 bei ihrer Entscheidung offensichtlich übersehen und daher nicht berücksichtigt. Anders ist es nicht zu erklären, dass diese Stellungnahme weder mit der entsprechenden Verfügung vom 04.07.2017 dem Verteidiger zur Vorbereitung des Anhörungstermins übersandt noch im Rahmen der mündlichen Anhörung am 12.07.2017 dem Verurteilten bekannt gegeben wurde. Vielmehr beschränkte sich die mündliche Anhörung ausweislich des Anhörungsprotokolls darauf, lediglich die Stellungnahmen der Vollzugsanstalt vom 27.04. und vom 04.05.2017 zu erörtern. Dazu passt im Übrigen, dass die Strafvollstreckungskammer ausweislich der Gründe des angefochtenen Beschlusses davon ausgegangen ist, die Vollzugsanstalt sei einer vorzeitigen bedingten Entlassung entgegen getreten, obwohl sie diese in ihrer Stellungnahme vom 20.06.2017 in das gerichtliche Ermessen gestellt hat.

10

Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Strafvollstreckungskammer bei Berücksichtigung der aktuellen Stellungnahme der Vollzugsanstalt, zu welcher der Verurteilte (nunmehr) gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO angehört werden muss, zu einer abweichenden Entscheidung gelangen würde. Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Freiburg zurückzuverweisen.

11

Eine eigene Entscheidung des Senats scheidet aus. Dabei wird nicht verkannt, dass nach der gesetzlichen Regelung des § 309 Abs. 2 StPO das Beschwerdegericht die in der Sache erforderliche Entscheidung im Regelfall selbst zu treffen hat und dabei ggf. alle für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen prüfen und aufklären muss, auch soweit das bisher nicht geschehen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 309 Rn. 3 mwN). Anders ist es jedoch wenn – wie hier – ein Verfahrensmangel vorliegt, den das Beschwerdegericht nicht selbst beheben kann (Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 309 Rn. 8 mwN).

12

Ein solcher nicht heilbarer Verfahrensfehler ist hier dadurch begründet, dass sich die nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend vorgeschriebene mündliche Anhörung des Verurteilten nicht auf die aktuelle Stellungnahme der Vollzugsanstalt vom 20.06.2017 erstreckt hat, was dem Zweck der mündlichen Anhörung zuwiderläuft.

13

Deren Sinn erschöpft sich nicht in der persönlichen Kontaktaufnahme des Gerichts mit dem Verurteilten, sondern ihre Bedeutung verdeutlicht sich erst darin, dass es von ihrem Ergebnis abhängt, ob der Verurteilte eine Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung erreicht oder weiter inhaftiert bleibt. Dementsprechend ist das Thema der mündlichen Anhörung die umfassende Erörterung aller der im Rahmen einer Entscheidung zur Strafaussetzung zur Bewährung maßgeblichen Umstände (BVerfG NStZ 1993, 355 ff., 357). Die mündliche Anhörung ist daher nicht als bloßes Verfahren zur Anhörung mündlicher Äußerungen des Verurteilten, sondern als sachbezogene Erörterung der Voraussetzungen einer Strafrestaussetzung mit zusammenfassender Würdigung der abgegebenen Stellungnahmen und der Persönlichkeit des Verurteilten zu sehen (OLG Karlsruhe NJW 2005, 3013 f.; Bringewat NStZ 1996, 17 ff., 20). Die Regelung des § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO konkretisiert die Pflicht des Gerichts zur umfassenden Sachverhaltsermittlung und gewährleistet ferner, dass der Gefangene bestmöglich auf das Ergebnis dieser Aufklärung Einfluss nehmen kann (OLG Frankfurt, Beschluss vom 19.09.2006 – 3 Ws 905-906/06 – juris).

14

Zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und – darin enthalten – auf vollständige Information über den Verfahrensstoff müssen dem Verurteilten spätestens bei seiner mündlichen Anhörung die nach § 454 Abs. 1 Satz 2 StPO eingeholten Stellungnahmen der Vollzugsanstalt und der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis gebracht werden (Esser NStZ 2003, 464 ff., 468), und zwar nicht nur für ihn nachteilige Stellungnahmen.

15

Soweit eine solche Einschränkung in älteren Entscheidungen (BVerfGE 19, 198 ff.; OLG Hamburg NJW 1964, 2315 f.) anklingt und – auf diese gestützt – teilweise auch heute noch in der Literatur vertreten wird (Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 454 Rn. 18; Esser, aaO), kann dieser Auffassung schon deshalb nicht (mehr) gefolgt werden, weil die genannten Entscheidungen zu einer Zeit ergangen sind, als § 454 Abs. 1 StPO in der bis zum 31.12.1974 geltenden Fassung eine Anhörung des Verurteilten – anders als heute grundsätzlich zwingend vorgeschrieben – nicht vorsah. Damals wurde lediglich allgemein aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) gefolgert, dass eine Reststrafaussetzung nicht aufgrund einer ungünstigen Stellungnahme der Vollzugsanstalt abgelehnt werden dürfe, ohne dass zuvor dem Verurteilten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben war (LR-Graalman-Scheerer, StPO, 26. Aufl. 2010, § 454 Rn. 20).

16

Abgesehen davon ist zu berücksichtigen, dass die Strafvollstreckungskammer eine eigene Ermessensentscheidung nach § 57 StGB zu treffen hat, ohne dabei an Anträge und Stellungnahmen von Staatsanwaltschaft und Vollzugsanstalt (seien diese ablehnend oder befürwortend) gebunden zu sein. Es macht für einen Verurteilten letztlich keinen Unterschied, ob seine bedingte Entlassung abgelehnt wird, weil sich das Gericht entsprechenden kritischen Stellungnahmen anschließt oder weil es positiven Stellungnahmen nicht zu folgen vermag. Insbesondere bei gegenläufigen Stellungnahmen von Staatsanwaltschaft und Vollzugsanstalt kann es daher durchaus im Interesse eines Verurteilten liegen, seine mündliche Anhörung nicht nur dazu zu nutzen, für ihn nachteilige Umstände zu entkräften, sondern auch für ihn günstige Umstände, die bereits von einem der Verfahrensbeteiligten angeführt wurden, näher zu erläutern, um diesen mehr Überzeugungskraft zu verleihen.

17

Im Beschwerdeverfahren findet eine mündliche Anhörung nicht statt; § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO gilt – verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG NJW 1988, 1715 f.) – nur im ersten Rechtszug. Auch wenn eine mündliche Anhörung im Beschwerdeverfahren gleichwohl zulässig ist (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24.01.2005 – 1 Ws 425/04 – juris; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 454 Rn. 46), kann eine solche im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommen, da sie im Ergebnis auf eine Kompetenzverlagerung im Verfahren nach §§ 57 StGB, 454 StPO dergestalt hinauslaufen würde, dass der Senat praktisch in erster Instanz tätig werden und entscheiden müsste; zudem wäre eine solche Verfahrensweise mit dem Verlust einer Instanz für die Verfahrensbeteiligten verbunden (vgl. Senat, NStZ-RR 2011, 325 f. für den Fall einer unzureichend begründeten Zwei-Drittel-Entscheidung).