Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Heilberufe und ihre Zulieferer haben im Kampf um ihre eigene Existenz manches Kavaliersdelikt ersonnen. Das Bundeskabinett hat beschlossen: Ab jetzt wird durchgegriffen.

4. August 2015, 15:47 Uhr

Gesundheit!

Liebe Hüftgelenksprothesen-Träger! Liebe von der Sommergrippe Befallene! Liebe Stent-Empfänger! Liebe Freunde des Herzschrittmachers und der Magnetresonanztomografie! Verehrte Anhänger der vegetativen Dystonie! Kurzum: Liebe Patientin, lieber Patient!

Bitte vergessen Sie kurz Ihre Störungen, Unbilden und Schmerzen. Lassen Sie die Traumatisierung beiseite, die Sie täglich beim Anblick Ihrer Adipositas erleiden. Speichern Sie die Diskussion Ihrer Diabetes-Typ-Zwo-Prognose mit dem Hausarzt Ihres Vertrauens ab unter To-do. Das wird eine „ausführliche Beratung unter erschwerten Umständen, komplexes Bild“ werden (ca. zehn Minuten, 25 €). Sie können natürlich auch zu Hause bleiben, weil: Dass Sie 15 Kilo abnehmen sollten und weniger Alkohol trinken, können Sie sich auch selbst denken. Und dass niemand als Sie selbst dafür verantwortlich ist, dass Ihnen die Füße abfaulen und Ihre Bauchspeicheldrüse entzündet ist, wissen Sie auch. Auch das Rauchen ist übrigens schädlich (20 €)! Sport ist gesund (5,79 €). Viel Gemüse essen (7,80 €)!

Dem Arzt ist es egal: Auf Ihre Frage, ob man ewig lebt, wenn man Knoblauch frisst, gibt er Ihnen täglich – gern auch mittels Fernsprecher – für 15 € eine Antwort. Privatpatienten: Faktor 2,3.

Ihnen kann es auch egal sein: Wofür zahlt man schließlich diese Versicherung? Wenn die Uniklinik 22 Intensivbetten bereithält, dann ist eines für Sie. Das haben Sie sich verdient.

Sogar den Gesetzlichen Krankenkassen kann es letztlich egal sein. Sie beziehen den Stoff, von dem sie leben, aus langen Schläuchen, mit denen sie rote Blutkörperchen, genannt „Euro“, aus einem gewaltigen See saugen. Dreihundert Milliarden – das sind dreihunderttausend Millionen – fließen in jedem Jahr durch dieses System, wie die Fernwärme durch die Rohrleitungen des deutschen Ostens vor der „Wende“. Erinnern Sie sich? Mal tropfte es, mal klumpte es. Unter dem Granitpflaster blühten Biotope von bizarrer Schönheit und aus purer Säure. Im Westen sind natürlich nicht nur die Rohrleitungen, sondern auch die Lecks schöner, und die Biotope ihrer Profiteure – sagen wir beispielhaft: Radiologen, Dermatologen, Heinzelmann-Pharmavertreter.

Wachstum!

Stellen Sie sich vor, Sie seien Eigentümer eines mittelständischen Unternehmens, das Edelstahl-Hüftgelenksprothesen herstellt oder eine grüne Tablette, die eventuell gegen Harndrang hilft, vielleicht aber auch nicht. Das ist Ihnen, unternehmerisch gesehen, letzten Endes einerlei, weil: Entweder kaufen die Leute das Zeug oder sie lassen es bleiben. Sie könnten natürlich auch Elektrokabel herstellen oder Autofelgen oder Badezimmer-Armaturen, müssten dann aber die Produktion umstellen. Was also geben Sie Ihren Vertriebsagenten mit auf den Weg? Welche „Philosophie“ darf der am Prostata-Karzinom Erkrankte von Ihnen erwarten?

Wenn Sie, liebe Patienten, einmal kurz Ihren Blick über den Rand Ihres eigenen Leidens und das Röcheln der Mitpatienten, die mit Ihnen durchschnittlich 24-mal im Jahr das Wartezimmer teilen, erheben wollten, so würden Sie erkennen, dass das System unserer Krankheitsindustrie (erstaunlicherweise „Gesundheitssystem“ genannt) eine vertrackte Doppelnatur hat.

Das System der Vollversorgung ist, was Sie selbst, also die Nachfrageseite betrifft, ein sozialistisches System. Sie dürfen sich das so ungefähr vorstellen wie in der DDR (selig), mit Abweichungen in Annäherung an das kaiserliche Eisenbahnwesen: 85 Prozent sitzen in der zweiten Klasse, 15 Prozent zum Faktor 1,8 bis 3,6 in der ersten. Die dritte Klasse besteht aus einer Art Mindest-Naturalversorgung für Asylbewerber, Obdachlose und sonstige Verlierer.

Die Angebotsseite ist dagegen rein kapitalistisch organisiert, in aufsteigendem Maß von den öffentlichen Krankenhäusern über die niedergelassenen Ärzte bis hin zu den Pharma- und Medizinprodukte-Herstellern. Gewinne sind privat, Verluste werden dem Solidarsystem aufgelastet. Das Geld, mit dem das alles finanziert wird, entsteht nicht durch das „Arbeiten von Geld“ oder durch das werbende Flehen der Medizinindustrie an den Gott der ewigen Verdopplung, sondern stammt aus Ihrer eigenen Tasche, verehrte Patienten. Mit dreihunderttausend Millionen Euro jährlich kann man ja schon was anfangen.

Das vorrangige Ziel eines solchen Systems kann unmöglich „Gesundheit“ oder Versorgung sein. Es muss vielmehr ohne Zweifel der Gewinn sein. Ihre Gesundheit ist dabei allenfalls ein erfreuliches Nebenprodukt: wünschenswert, aber nicht entscheidend. So ist das halt im Kapitalismus: Was nicht wächst, stirbt. Und ob er Mundausspülbecken für Zahnarztstühle herstellt oder wandhängende Toilettenschüsseln, ist dem Keramikfabrikanten letztlich einerlei.

Wo der Kuchen groß ist, ist auch die Konkurrenz groß

Das gilt, wenn auch mit Abstrichen, selbst für die zentrale Lichtgestalt dieses Systems: Unseren Arzt, unsere Ärztin. Oder warum, meinen Sie, studieren Tausendschaften von Einser-Abiturienten Medizin? Glauben Sie ernsthaft, die Jungs und Mädels können nicht erwarten, Ihre eingewachsenen Zehennägel zu kurieren oder das unangenehm schilfernde Ekzem in Ihrem Ohr? Meinen Sie, man müsse besonders gut im Auswendiglernen sein, um Sie zu verstehen, Ihr Leben und Ihren Tod?

Machen Sie sich bitte keine romantisch-aufrührerischen Gedanken über gierige Pharmakonzerne und glitzernde Ärztehäuser. Denn Sie selbst wollen es ja so. Wenn die Frauenärztinnen bei uns daherkämen wie Mitarbeiterinnen von russischen Wurstküchen und die Praxis Ihres Vertrauens aussähe wie der Keller des Stadtkrankenhauses von Saloniki, wäre es Ihnen auch nicht recht. Versetzen Sie sich hinein in das Produktmanagement von Pfizer, Hoffmann la Roche, Hoechst und anderen, also an die Stelle, an der Ihre Kinder demnächst Karriere machen sollen. Oder in die Träume Ihres Facharztes für Augenheilkunde, dem nichts auf den Weg gegeben wurde als ein Abitur mit Einskommanull, also der garantierten Erbanlage zum Heilen, Trösten und Versorgen. Was macht so einer, 45 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder aus zwei Ehen, in der 200-Quadratmeter-Praxis in der Innenstadt von Bensheim an der Bergstraße oder anderswo? Wie viele fesche Helferinnen darf er Ihnen anbieten? Wie viele Zimmerspringbrunnen sollten plätschern, damit Sie sich rundum betreut fühlen? Wie soll er das Equipment jemals abbezahlen?

Gewinn ist der Sauerstoff des kapitalistischen Systems. Das kommt daher, dass das System auf dem Zins beruht. Der Zins muss verdient werden, koste es, was es wolle. Stillstand ist Niedergang; Leben ist Wachstum. Klingt kompliziert, ist einfach. Und der Zins entsteht nicht, indem Geld irgendwo „arbeitet“, sondern indem Sie arbeiten, verehrte Frührentner in spe. Oder Näherinnen in Bangladesch und Minenarbeiter im Kongo.

Das Schöne an der Krankheitsindustrie ist, aus der Sicht der Anbieter, dass jegliche Erfolgskontrolle im großen Maßstab praktisch ausgeschlossen ist. Oder wissen Sie, ob die deutsche Bevölkerung im letzten Jahr gesünder oder kränker geworden ist? Niemand weiß das. Die extrem gut unterrichtete Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat vor einigen Tagen die Fachdiskussion um folgende Analyse bereichert: „Die heute gesunden Siebzigjährigen sind so leistungsfähig wie vor zwanzig Jahren die Fünfzigjährigen.“ Da stutzt selbst der verschlafene Frühstücksleser: Kann es sein, dass ein nimmermüder Medizinprofessor den Stillstand der Zeit erfunden hat? Darf der heute Sechzigjährige damit rechnen, in zwanzig Jahren so fit zu sein wie der heute Sechzigjährige? Sie sehen: Selbst der größte Schwachsinn fällt nicht weiter auf, wenn es um den Kampf gegen unseren unvermeidlichen Tod geht. Wir wissen nur, dass jedes Jahr weitere Geldströme in das System gepumpt werden.

Korruption

Hier kommt die Korruption ins Spiel. Wie überall, wo richtig viel Geld auf und unter dem Tisch liegt, das von einer sogenannten „Solidargemeinschaft“ bezahlt wird – genauer gesagt: einer möglichst großen Masse von individuell unverbundenen Menschen, die in eine gemeinsame Kasse einzahlen. Denn dann fällt ein bisschen Schwund nicht weiter auf, da jeder Einzelne denkt, durch pure Schlauheit komme er ein bisschen besser weg als der Durchschnitt. Erinnern Sie sich an Ihre Glasbruch-Versicherung: Statt sich über zehn Jahre Schadensfreiheit zu freuen, stiftet ein Drittel der Versicherten den Schwager an, Omas alte Kristallvase auf abenteuerliche Weise zu zerdeppern. Ein bisschen Schwund ist überall, sagt der Buchhalter und stopft sich in der Firma die Utensilien fürs Heimbüro in den Rucksack. Im Baugewerbe rechnet der Fachmann mit 5 Prozent, im Anlagenbau mit 4 Prozent Bestechungsleistungen. Bei Rüstungsprojekten im mittleren Osten dürfen es auch einmal 150 Prozent sein. Bei Laborleistungen für große Blutbilder darf man raten.

Wo große Mengen Geld in Solidarsystemen bewegt werden, bedarf es eines großen bürokratischen Apparats, um das System in Bewegung zu halten und die Ströme zu verteilen. Das ist bei uns das System der gesetzlichen Krankenkassen, flankiert von sogenannten „privaten“ Versicherungen für Bessergestellte und einer „Selbstverwaltung“ genannten Spezialbürokratie (sogenannten „Kassenärztliche Vereinigungen“), die zwischen Teilen der Anbieterseite (Ärzten), den Finanzierungssystemen (Krankenkassen) und den Nachfragern (Patienten) angesiedelt sind. Alles und alle sind – und das ist die Hauptsache! – extrem wichtig, überdies vollständig unabdingbar und selbsttragend. AOK-Vorstand: 250.000 € per anno, damit er auf Augenhöhe ist. Da schmunzelt der Chefarzt für Radiologie, denn das hat er im Monat.

Wo der Kuchen groß ist, ist auch die Konkurrenz groß. Wie viele Apotheken pro Hektar ernährt eine deutsche Kleinstadt? Wie viele Dermatologen können vom alljährlichen Check der zarten Membran zwischen Ihrem Ich und der Außenwelt leben? Wie viele Medikamente gegen Bluthochdruck schluckt der Markt? Wo die heiligen Grundsätze des freien Marktes im Dämmerlicht verblassen, beginnt das geheime Leben der Korruption; das ist beim Tiefbau so und beim Flughafen, beim Teststreifen für Urinproben und beim Herzkatheter.

Seit einhundert Jahren gilt: Pharmaunternehmen bestechen Ärzte, damit diese bestimmte Medikamente verschreiben. Medizinprodukte-Hersteller bestechen Ärzte, damit sie ihre Maschinen leasen. Krankenhäuser bestechen Ärzte, damit sie ihre Patienten einweisen. Apotheker bestechen Ärzte, damit diese die Patienten mit den Rezepten vorbeischicken. Physiotherapeuten bestechen Orthopäden. Radiologen bestechen Kardiologen. Endokrinologen bestechen Internisten. Internisten bestechen Hausärzte. Arzneimittelhersteller bestechen Hausärzte, Fachärzte, Krankenhäuser, alle. Krückenhersteller und Heilpraktiker bestechen Orthopäden. Orthopäden bestechen Skihotels. Und das ist nur der Anfang. Sie wissen vielleicht, wer Marktführer in Autofelgen ist, oder in Kajalstiften. Wissen Sie auch, wer führend in Krankenhausbetten ist? Und wie man die Dinger verkauft? Apotheken vermieten inzwischen nicht mehr nur ihre Wände, sondern sogar ihren Fußboden an Pharmaunternehmen. Diese legen werbebedruckte Fußmatten auf einen für 2.000 € im Jahr gemieteten Quadratmeter, auf dass der Kopfschmerz und die Verstopfung bekämpft werden mit den Präparaten im Regal gleich hinter der Kasse, vertrauensvolle Beratung inklusive.

Die Formen der Korruption sind so vielgestaltig wie die Fantasie. Es wurden fast alle denkbaren Strategien ersonnen, um aus dem unermesslich scheinenden Ozean des gemeinschaftlich eingesammelten Geldes und der individuellen Dummheit Sondervorteile für Minderheiten des Wir-sind-was Besseres herauszuschöpfen. Für die Marktbeherrscher, die Hersteller von Pharmazeutika und Medizinprodukten, sind das Peanuts. Sie investieren große Summen in die Entwicklung einzelner Produkte. Anschließend muss das Geld verdient werden, das die Umsatzrendite und das Überleben des Vorstands sichert.

Vor 60 Jahren, als mein Vater Landarzt im Sauerland war, fuhren die Pharma-Referenten über Land und verteilten Kugelschreiber, Schreibunterlagen und den einen oder andern Hunderter an die Herren Doktoren – plus Schaumwein für die verehrte Gattin. Für Großabnehmer durfte es auch damals schon etwas mehr sein: Ein Kongress in Bingen am Rhein vielleicht, eine erste Reise nach Nizza.

Kündigen Sie das Vertrauensverhältnis

Etwas später bekam das Ganze den Drive der Moderne: Mach mit, Hausarzt, bei der „Anwendungsstudie“ zum Präparat X. Kreuz an, wie oft Du es verordnet hast und wie viele Deiner Patienten es vertrugen. Schick jährlich 500 Fragebögen an den Hersteller, und Du kriegst 5.000 Euro Forschungshonorar. Die Fragebögen werden oft schon bei Eingang geschreddert; das Ergebnis interessiert nicht oder steht längst fest. „Forschung“ solcher Art ist bloß eine Legende für die verdeckte Zuwendung fürs Verschreiben.

Fortbildung für Ärzte? 95 Prozent aller Fortbildungsveranstaltungen werden von Pharmaunternehmen und Medizinprodukte-Herstellern bezahlt oder jedenfalls gesponsert. Bis vor Kurzem fanden sie gern auf Kreta statt, in Florida, in Spitzen-Ressorts der Karibik. Auch in Kenia kann man übrigens durchaus gut essen. Eine Stunde Vortrag pro Tag, der Rest des Tags für Fachgespräche zur freien Verfügung. Für die gnädige Frau („hilft in der Praxis mit“) eine Anwendung pro Tag im Beauty-Bereich. Gut, dass medizinischer Fortschritt nur noch im internationalen Maßstab gedeiht! Für das Geld, das ein einziger Kongress kostet, könnte eine Million Afrikaner gegen die tödlichsten Seuchen geimpft werden.

Die Beispiele sind unendlich, da auch die kriminelle Fantasie unendlich ist. So unendlich wie der Mensch, also Sie selbst. Erinnern Sie sich: Lauter Einser-Abiturienten! Plus Einser-Steuerberater! Plus Harvard-Betriebswirtschaftler! Plus der unbedingte Wille zum kriminellen Erfolg! Da hat die Staatsanwaltschaft schlechte Karten.

Im Zeitalter der Tugend- und „Compliance“-Schwüre geht das eine oder andere nicht mehr problemlos. Aber vieles geht doch. Es gibt „Kooperationen“, „Gemeinschaften“, Vereine. Es gibt angemietete „Lager“ von Orthopädie-Geräte-Händlern in Praxen von niedergelassenen Orthopäden. Es gibt beim Internisten Sofort-Termine in einer „kooperierenden“ Praxis für Radiologie. Es gibt Hausgemeinschaften von Apothekern und Ärzten, Überweisungskartells von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern; es gibt versteckte „Überweisungsprämien“, Auslagerung von bestechlichen Abrechnungseinheiten. Es gibt Kick-Back-Leistungen. Es gibt Pseudo-gemeinnützige Vereine, die nichts zu tun haben außer „Spenden“ einzusammeln von Anbietern für Anwender, die diese Anwendung wiederum privat abrechnen dürfen. Kurz: Es gibt jede Art und jede Menge von krimineller Aktivität zu Lasten der Patienten und der „Solidargemeinschaften“.

Arztpatientarzt

Wer so redet, meinen die Chefs der Organisationen und Lobbygruppen der Krankheitsindustrie, der rührt ans Fundament der Zivilisation: Er stört, schädigt, verunsichert das „Arzt-Patienten-Verhältnis“ – noch schlimmer: er untergräbt das Vertrauen zwischen Arzt und Patient.

Das Arzt-Patientenverhältnis! Es ist ein Wunder der Evolution. Ludwig XIV, Sonnenkönig, ließ sich von seinen Ärzten sämtliche Zähne samt einiger Teile des Kiefers entfernen, vorsorglich gegen Karies. Er saß dank steter Hilfe seiner Mediziner auf dem Thron in seinen Exkrementen, stank und litt wie ein Tier, formvollendet, zum Ruhme der Medizin, bis zum Ende. Hätte es die AOK gegeben, sie wäre stolz auf ihn.

Heute sitzt der Heiler halb verdeckt hinter einem Bildschirm, auf dem er die Formulare der heilenden Software-Industrie ausfüllt, während er mit uns Kranken ein vertrauensvolles Gespräche von Mensch zu Mensch führt: Geht’s Ihnen besser? Nein? Da probieren wir doch einmal ein anderes Mittel aus. Cholesterin ganz schlecht? Hatten wir bisher „Inegy“ oder „Sortis“? Dann probieren wir jetzt das andere. Sicherheitshalber vielleicht noch eine Akupunktur (IGeL).

Ja, das Vertrauensverhältnis! Dieses menschliche Miteinander! Zweiundzwanzig Jahre lang haben Sie sich, lieber Patient, in dieses beige-tapezierte Wartezimmer geschleppt, das Ihnen vertraut ist wie Ihr eigenes Kinderzimmer. Sie haben in den Illustrierten geblättert, die Vorsorge-Plakate angestarrt und die Protest-Noten gegen die kurz bevorstehende sozialistische Vernichtung des freien Berufs. Sie sahen drei Sprechstundenhilfen kommen und gehen, die alle einen Vornamen hatten. Sie haben Ihrem Arzt alles erzählt, und der Sprechstundenhilfe gleich noch einmal. Er hat in Ihre Seele geschaut und in Ihre Vagina, in Ihren Kehlkopf und in Ihren Enddarm. Sie haben ihm erzählt, was in Ihrer Ehe nicht mehr läuft. Am Ende des gemeinsamen Wegs rufen Sie an, um ein neues vertrauensvolles Treffen zu vereinbaren, und jemand sagt Ihnen, dass der Herr Doktor seit vier Monaten im Ruhestand ist. Er hat alle Ihre Geheimnisse an den Nachfolger verkauft und Ihnen zum Abschied nicht einmal eine Postkarte geschickt.

Kurz gesagt: Das von den Lobbyisten beschworene Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt scheint mir doch recht einseitig. Die weitaus meisten Ärzte, die ich kennengelernt habe, vertrauen ihren Patienten nämlich nicht die Bohne. Sie machen Witze über deren Einfalt. Sie nennen sie „Patientengut“. Manche verkaufen ihre Daten an die Pharmaindustrie.

Grämen Sie sich nicht, sondern lernen Sie dazu! Vertraut Ihnen Ihr örtlicher Reisebürokaufmann? Hat Ihr Müllwerker eine emotionale Beziehung zu Ihnen? Würde sich Ihr Buchhändler für Sie aufopfern? Ärzte sind, ob Sie es glauben oder nicht, als Menschen nicht besser als Fernsehtechniker, Steuerberater, Rechtsanwälte, Tiefbauingenieure, Gartenbau-Unternehmer oder Richter. Das sogenannte „Vertrauen“, das Sie ihnen entgegenbringen, gründet auf bloßer Angst, nicht auf Kenntnis. Sie wissen doch, dass „Doktor“ keine Berufsbezeichnung ist, sondern eine akademische Würde, die man bei Medizinern für ein absolutes Minimum an wissenschaftlicher Kompetenz nachgeschmissen kriegt, sagen wir: für eine 30 Seiten lange Arbeit über die Unerweislichkeit eines Zusammenhangs zwischen Fußpilz und Nierenversagen.

Mein Rat: Kündigen Sie das Vertrauensverhältnis, das die Bundesärztekammer von Ihnen fordert. Vertrauen Sie zumindest vorerst niemandem, der an Ihnen herumschneidet, sticht, nörgelt, ausprobiert, mal guckt, wie es wird, und, vor allem, verdient. Das Vertrauen, das die Bundesärztekammer postuliert wie eine geschuldete Vorleistung auf Heilung, unterscheidet sich in Nichts von dem Vertrauen, das Priester von Ihnen fordern, bevor sie Ihnen eine Befreiung von der „Erbsünde“ in Aussicht und Rechnung stellen. Im Krankheitssystem, liebe Patienten, besteht die Erbsünde in der bloßen Tatsache, dass Sie leben, vergehen und sterben.

Also wie wär’s: Fordern Sie Ihren Arzt auf, zunächst einmal Ihnen zu vertrauen. Fragen Sie ihn mal, wie viel er selbst trinkt, wie es um seine eigenen Cholesterin-Werte bestellt ist und – für ganz Vertrauensvolle – um seine erektile Dysfunktion. Fragen Sie Ihre Ärztin, ob sie privat jemanden kennt, der Alzheimer hat oder ein Darmkarzinom, und wie sich das anfühlt. Laden Sie sie zum Grillen ein, und achten Sie auf die Begründung der Absage. Das wäre mal ein Anfang für ein Vertrauensverhältnis.

Wenn Sie – verständlicherweise – so weit nicht gehen wollen, machen Sie es doch einfach ähnlich wie Ihr Lebensberater von der Stadtsparkasse mit Ihnen: Lassen Sie den Arzt Ihres zukünftigen Vertrauens eine kleine Erklärung unterschreiben, in der er versichert, im Zusammenhang mit Ihrer Behandlung von keiner Stelle oder Person zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwelche geldwerten Vorteile erhalten oder fordern zu wollen, die mit den Regeln des Sozialgesetzbuchs V (Gesetzliche Krankenversicherung) nicht vereinbar sind. Das wäre ein ähnlich starkes Zeichen des Vertrauens wie die Formulare, die Ihr Arzt Sie selbst unterschreiben lässt. Vertrauen gegen Vertrauen. Wenn er nicht will: Der nächste ist um die Ecke.

Korruptionsverfolgung

2006, also vor neun Jahren, machte eine Hamburger Dissertation darauf aufmerksam, dass sich im Bereich der Ärzte-Korruption ein vorgeblich unerkannter, jedenfalls bislang unbearbeiteter Abgrund auftue. Der Autor der vorzüglichen Arbeit, Oliver Pragal, vertrat die These, die Bestechung von niedergelassenen Ärzten des Vertragsarzt-Systems (früher: Kassenarzt-System) sei ein Fall der „Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr“ (Paragraf 299 Strafgesetzbuch). Und damit strafbar. Das war schon damals plausibel.

Ein paar Milliarden jährliches Bestechungsgeld

Es begann eine lange, lange, lange Phase der wissenschaftlichen Diskussion. Der Kolumnist schloss sich – als Kommentator des Strafgesetzbuchs – der Meinung des Autors jener Dissertation an. In den Fachzeitschriften des Pharma- und Medizinrechts erhoben berühmte Rechtsanwälte ihre gutachterliche Stimme; sie behaupteten das Gegenteil. Die Lobby-Verbände der Krankheitsindustrie zeigten sich ernsthaft besorgt über die „Ausuferung“ des Strafrechts. Die universitäre Strafrechtswissenschaft löste derweil weiterhin die Weltprobleme der Zurechnung und klöppelte zarte Gespinste aus Spinnenfäden.

Dann, 2011 – fünf Jahre später also – ein Donnerschlag aus den Kulissen: Revision beim Bundesgerichtshof! Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen! Der Große Senat ist das oberste Gremium des Obersten Gerichtshofs für Strafsachen. Er entscheidet, wenn einer der fünf Strafsenate von der Rechtsmeinung eines anderen Senats abweichen will, oder bei Fragen von „grundsätzlicher Bedeutung“. Dies war hier der Fall: Zwei Senate (der Dritte und der Fünfte) hielten es für möglich, ein niedergelassener Vertragsarzt könne Amtsträger (in dem staatlichen System der Gesundheitsfürsorge) sein oder jedenfalls „Beauftragter eines geschäftlichen Betriebs“ (da er im Auftrag der Krankenkassen die Zuweisung von Leistungen und daher von Geld letztverantwortlich vornimmt). Es beriet und kreißte der Große Senat anno domini 2012. Heraus kam ein Mäuschen: Weder ist ein Vertragsarzt ein Amtsträger noch ist er ein Beauftragter (Beschluss vom 29. März 2012, Aktenzeichen GSSt 2/11).

Der Kolumnist war dabei, denn er ist Mitglied dieses Gremiums. Daher kann er nicht „aus dem Nähkästchen“ jener Entscheidung plaudern, sondern nur auf ihre Begründung verweisen: Zwar mag alles möglich sein, aber der Vertragsarzt ist kein Amtsträger, sei er auch noch so eingebunden in das staatlich-sozialistische System, und er ist auch kein Beauftragter, sei er auch noch so eingebunden in das privat-kapitalistische System. Denn über allem steht das Mysterium des Leidens und der Heilung und jene einzigartige Beziehung: Das „Arzt-Patienten-Verhältnis“. Dieses Verhältnis ist, nach Ansicht des Hartmannbundes und des Großen Senats, derart bestimmt von innig-einseitigem Vertrauen, dass jede Analogie zu schnöden Marktverhältnissen abwegig sei. Mag sie gelten für Ingenieure, den TÜV, Seilbahnunternehmen und Luftverkehrsgesellschaften, für wen auch immer –nicht aber für leibhaftige Vertragsärzte! Der Unterschied zwischen einem Rechtsanwalt und einem Kassenarzt ist, dass der Kunde den Arzt notgedrungen liebt, den Rechtsanwalt naturgesetzlich hasst. Und sind wir nicht alle in der Hand des Hippokrates?

Der Vizepräsident des Bundesgerichtshofs hielt kurz vor (!) der Entscheidung des Großen Senats eine seiner gewohnt humorvollen Reden: Der vollständige Schwachsinn der Rechtsansicht, Kassenärzte könnten als Amtsträger anzusehen sein, so führte er aus, ergebe sich schon daraus, dass für diesen Fall sein eigener Senat für Revisionen zuständig werden würde. Applaus, Applaus! Selten so gelacht!

Jetzt aber!

Ganz am Ende seiner Begründung erinnerte der Große Strafsenat daran, dass zwar jegliche vergangene Korruption von Vertragsärzten straffrei, aber „der Gesetzgeber gefordert“ sei, diesen Missstand für die Zukunft zu beheben. Hei, da knallten die Korken in den Vertriebsabteilungen gleich halb so laut!

Seit der Entscheidung des Großen Senats sind drei Jahre vergangen. Ein paar Milliarden jährliches Bestechungsgeld waren vor 2012, erst recht aber seither legale Einnahmen auf der Empfängerseite, legale Betriebsausgaben auf der Seite der Zahlenden. Mich würde interessieren, wie viele niedergelassene Ärzte seit 2012 in ihrer Steuererklärung „Bestechungsleistungen“ angegeben und versteuert haben. Das wäre ein Zeichen dafür, dass sie selbst dem Gerede ihrer Funktionäre glauben, man könne das Ganze eigentlich nicht wirklich „Korruption“ nennen und solle sich nicht so anstellen. Ich befürchte, das Ergebnis der Erhebung, wenn es denn verraten würde, wäre erschütternd. Wenn aber das ganze schöne Schmiergeld unversteuert geblieben sein sollte, oder auch nur ein Teil davon: Wäre das nicht ein krimineller Sumpf der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche? Müsste da draußen nicht irgendjemand von Amts wegen ermitteln?

Nach dreijährigem Nachdenken – für ein Banken-Hilfspaket benötigt unsere Gesetzgebung eine Woche – hat nun das Bundeskabinett in der vergangenen Woche einen Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums gebilligt, der eine Strafbarkeit der Korruption im Bereich der Heilberufe vorsieht. Er soll nach der Sommerpause eingebracht werden. Das Gesetz könnte Anfang 2016 in Kraft treten. Die Presse ist außer sich! Wäre nicht Netzorg dazwischen gekommen, man hätte zehn Tage schwadronieren können: „Freiheitsstrafen für Ärzte!“, „Geldbußen für korrupte Ärzte, bis fünf Jahre Gefängnis!“

Eine Einzelheit: Es soll sich bei der geplanten Vorschrift um ein Antragsdelikt handeln. Sie, lieber Patient, werden allerdings nur ausnahmsweise antragsberechtigt sein. Das erledigen die Verbände und Institutionen für Sie, also all jene, die schon bisher so schonungslos durchgegriffen haben, dass den Kiefernorthopäden und ihren befreundetes Zahntechnik-Labors die Zähne klapperten vor Angst! 1.000 Verfahren, so lesen wir, haben die Ärztekammern geführt in einer nicht genannten Zahl von Jahren. Bei 360.000 Ärzten (davon 130.000 niedergelassenen) ist die Verfolgungsdichte also etwa so furchterregend wie beim Doping im Profifußball. Und leider haben die Ärztekammern auch vergessen uns mitzuteilen, was die Ergebnisse jener berufsrechtlichen Verfahren waren. Stattdessen fordert der Präsident der Bundesärztekammer „mehr polizeiliche Befugnisse“ für seine Behörde. Das ist wahrscheinlich ein Arzt-Witz, den wir aber nicht verstehen.

Nun quillt wieder Empörung aus allen Fugen des Internets: Hartmannbund und Bundesärztekammer, Verband der XX-Hersteller und der YY-Vermarkter, warnen vor der Unbestimmtheit des geplanten Gesetzes und der „unerträglichen“ Belastung großen gemeinsamen Ziels: Ihrer Gesundheit. Verbände der Mullbinden-Hersteller, der Röntgen-Geräte-Hersteller, der Laborbedarfs-Großhändler, der Brandsalben-Mixer und Stethoskop-Designer weisen darauf hin, dass ihre Mitgliedsunternehmen reihenweise in tiefe Depressionen verfallen ob der die unverantwortlichen Verdächtigung, zu den wie immer „einzelnen schwarzen Schafen“ zu zählen … Schon werden erste Gutachten über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes gehandelt.

Ja, liebe Reflux-Patienten, dem Kolumnisten geht es angesichts dieses Rechtsenthusiasmus ähnlich wie Ihnen: Es stößt ihm sauer auf. Erheiternd sind dagegen die ersten Anzeigen marktorientierter Rechtsanwälte: „Strafverfolgung droht! Installieren Sie mit unserer Hilfe ein nachhaltiges Compliance-System!“ Man sieht: Die Wüste lebt, die Nahrungskette funktioniert.

Schluss

Unter allen Branchen unserer Wirtschaftsordnung schwitzt die Gesundheitsindustrie, einschließlich all ihrer Wurmfortsätze, die wohl salbungsvollste und penetranteste „Philosophie“ des sogenannten Vertrauens aus. Übertroffen wird sie allenfalls von der Atom- und der Bestattungsindustrie. Sachlich gerechtfertigt ist das hier wie dort nicht.

Das alles soll Ihnen, verehrte Zirrhosen und Herzinsuffizienzen, liebe Offene Beine, Bypässe und Depressionen, Nierensteine und Raucherhusten, den Spaß am nächsten Arztbesuch keinesfalls nehmen. Lassen Sie sich heilen, wann und von was immer Sie wollen!

Sie sollten aber wissen, dass das Spektakel, das jetzt um die Strafdrohung für korrupte Angehörige von Heilberufen gemacht wird, vorerst nicht mehr ist als eine vage Absichtserklärung. Mag auch die Stimme des Regierungssprechers beben vor Begeisterung, so müsste er doch eigentlich 30 Jahre Versäumnis entschuldigen oder auch nur zu begründen versuchen. Des Ärztekammerpräsidenten-Stimme dagegen warnt schon wieder vor „Überziehen“ und vor „Störung des Vertrauensverhältnisses“. Als ob die Strafbarkeit von Amtsträgerbestechung zum Verlust des Vertrauens in die Verwaltung führte!

15 Milliarden Euro jährlicher Schaden durch Korruption im Gesundheitswesen: Wir hätten vom Gesetzgeber gern gewusst, wo dieser Gewinn der letzten zwanzig Jahre verblieben ist. Und wie viel davon ab demnächst aufgedeckt und eingezogen werden wird.