Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!
Ist „Du Schwuler“ eine Beleidigung? Sind „Ehrenmorde“ verständlich? Was die Justiz tun kann, um den Ehrvorstellungen sehr unterschiedlicher Menschen gerecht zu werden.
21. April 2015, 13:19 Uhr
Einleitung
Manche Kommentare, die Leserinnen und Leser zu dem in der vergangenen Woche erschienenen ersten Teil Beleidigung geschrieben haben, überraschten mich. Besonders erstaunlich fand ich, dass die „Ehre“ als Rechtsgut fast durchweg schlecht wegkam. Dabei hatte ich mich bemüht, sie als menschenspezifisches, geradezu zwingendes Gut zu erläutern: „Ehre“ ist eine Kategorie der Zuweisung von Verdienst und Macht in einer Gesellschaft, und ohne solche Zuweisungen gibt es weder die Gesellschaft selbst noch Orientierung und Sicherheit. Zwar leben wir nicht in Wolfsrudeln oder Schimpansenhorden – andererseits sind wir von ihnen nicht so weit entfernt, wie uns unsere Fähigkeit, Goethe zu zitieren, vorgaukelt.
Mit anderen Worten: „Ehre“ ist, neben (nicht nach) dem Überleben, der Ernährung, der Reproduktion und dem Schutz vor Feinden, so ziemlich das erste „Rechtsgut“, das dem Menschen als sozialem Wesen auf dieser Welt eingefallen ist: Seine Macht, seine Chancen (und die seiner Nachkommen), seine Position in der Gemeinschaft sind jedem so wichtig, dass er/sie viel dafür riskiert – nicht nur auf dem tatsächlichen oder erträumten „Feld der Ehre“, also der Gewalt, sondern auch in der Kommunikation mit allen anderen. Um unsere „Ehre“ geht es uns, ob wir wollen oder nicht, jeden Tag. Ihre Bestandteile sind über die Jahrtausende strukturell gleich geblieben, obgleich sie unentwegt andere soziale Formen angenommen haben. „Ehre“ entscheidet über Macht, über Heiratschancen, Berufskarrieren, Glück und Unglück.
Obwohl diese soziologisch begründete Definition kaum bestritten werden kann, folgen viele Menschen einer Diskussion über Ehre nur ungern auf diesen Grad der Abstraktion. Die meisten wollen über Ehre ganz konkret verhandeln: Entweder darüber, wer – in ihrem jeweiligen Horizont – wohl mehr oder weniger davon habe, als ihm zusteht. Oder darüber, ob und warum es falsch, anachronistisch, überholt sei, dass sich diese oder jene Person oder Gruppe Ehre zuschreibe und deren Anerkennung von anderen erwarte.
Solche Diskussionen drehen sich ziemlich oft im Kreis. Ihre antreibende Kraft kommt nicht einfach aus (angeblichen oder tatsächlichen) „Ungerechtigkeiten“ dieser oder jener „Ehr“-Zuweisung in unserer Gesellschaft. Sondern aus dem ganz normalen Gerangel unseres Wesens, das uns nicht wie Ameisen funktionieren lässt, sondern von vielfältiger sozialer Mobilität abhängig macht. Daher wird ein Endzustand der „gerechten“ Ehrverteilung oft erstrebt, aber nie erreicht.
Eine Testfrage
Bitte stellen Sie sich folgenden Sachverhalt vor: Sie sind Jude. Nehmen Sie weiter an, Sie halten sich an einem schönen Aprilabend auf öffentlichen Straßen in einer deutschen „Elbmetropole“ auf. Dort ruft Ihnen ein Bürger auf einem Abendspaziergang nach: „Du Jude!“, ein zweiter: „Sie Jude!“, ein dritter „Du verfluchter Araber!“
Und nehmen wir einmal an, dasselbe widerfährt Ihnen, obwohl Sie tatsächlich sind:
a) Katholik aus Passau
b) Islamist aus Bielefeld
c) Mitglied einer freien Kameradschaft aus Zittau.
Frage: Sind sie beleidigt? Hat man Ihnen übel nachgeredet, oder Sie verleumdet?
Lassen Sie sich Zeit mit der Antwort! Spielen Sie es einfach durch! Und seien Sie gewiss: Es gibt in Sachen „Ehre“ eine Vielzahl weiterer Fragen, die keineswegs einfacher sind.
Ehre und Wahrheit
Es geht hier nicht primär um die Form der Beleidigung, sondern allein um deren Grundlage. Wer meint, das Rechtsgut der Ehre könne ihm/ihr gestohlen bleiben, möge sich einmal nur die oberflächlichsten Varianten einer harten Verletzung seiner/ihrer eigenen gesellschaftlichen Reputation vorstellen. Ich vermute, die spontane Überheblichkeit wird rasch einer differenzierteren Betrachtung weichen.
Behauptungen über eine Person, die gegenüber einer, mehreren, vielen, unüberschaubar vielen Menschen geäußert werden (denken Sie an Shitstorms und Hämeattacken im Internet) und die der betroffenen Person in ihrem Ansehen, ihrer wirtschaftlichen oder sozialen Existenz schaden, dürfen nicht einer beliebigen Freiheit der Diffamierung und Vernichtung anheim gegeben sein. Meinungsfreiheit, so meinen wir zu Recht, kann nicht das Recht umfassen, andere Menschen ohne berechtigten Grund in der Achtung der Allgemeinheit zu beschädigen und sie sozial auszugrenzen oder zu ruinieren.
Die Gedankenwelt des Täters
Damit sind wir am Grundsatz angelangt. Ehre ist „verdienter Achtungsanspruch“. Ein Unternehmer, der wegen Betrugs vorbestraft ist, muss es sich unter Umständen gefallen lassen, als „vorbestrafter Betrüger“ bezeichnet zu werden. Ein Bürger, der sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen, wird sich durch eine solche Bezeichnung zu Recht beleidigt oder verleumdet fühlen.
Das Gesetz – das oft nicht so dumm ist, wie viele meinen – hat dies schon im Jahr 1871 (dem Jahr der Gesetzentstehung) bedacht und die Strukturbedingungen der sozialen Kommunikation in den Tatbestand der „üblen Nachrede“ eingebaut: Paragraf 186 des Strafgesetzbuchs sagt, vereinfacht: Wer über eine andere Person eine Tatsache behauptet, die für diese Person sozial schädlich ist, trägt das gesamte Risiko der Unwahrheit – er wird bestraft, wenn er nicht beweisen kann, dass die Tatsache stimmt. Das ist eine in unserem Strafgesetzbuch einmalige, aber ziemlich intelligente Regelung.
Sie dreht damit eine – in diesem Fall materiell-rechtliche – „Unschuldsvermutung“ förmlich um. Normalerweise funktionieren Straftatbestände so (am Beispiel des Diebstahls): Wird bei einer Person eine Sache gefunden, die möglicherweise ihr selbst gehört, möglicherweise aber einem anderen, dann ist sie nicht wegen „Diebstahls“ strafbar, auch wenn sie nicht beweisen kann, Eigentümer der Sache zu sein. Strafbarkeit setzt vielmehr voraus, dass das Gegenteil (also die unberechtigte Wegnahme) sicher bewiesen wird.
Anders ist es beim Paragrafen 186: Wer ehrverletzende Tatsachen behauptet, trägt das Risiko der sogenannten Nicht-Erweislichkeit. Dadurch sind nachträgliche Beteuerungen ausgeschlossen, man habe sich wohl geirrt, sei aber guten Glaubens gewesen: Ein sogenannter „Tatbestandsirrtum“, der bei anderen Delikten zum Wegfall des Vorsatzes und damit zur Straflosigkeit führt, nützt dem Täter des Paragrafen 186 Strafgesetzbuch nichts, wenn er sich auf die Wahrheit der behaupteten Tatsache bezieht. Die Regelung führt in ihrer präventiven Auswirkung seit 140 Jahren dazu, dass die üble Nachrede – die bekanntlich ganz außerordentlich verbreitet ist! – in den allermeisten Fällen im engen Vertrautenkreis bleibt und ihre schädliche Wirkung nur eingeschränkt entfalten kann.
Anders steht es bei der Beleidigung (§ 185). Hier enthält die Äußerung keine echte Tatsachen-Behauptung. Wenn A zu B sagt: „Du Sau!“, kommt es ersichtlich nicht auf die „Wahrheit“ des Wortlauts an. Hier geht es allein um die soziale Bedeutung der Wertung und um ihre „Verdientheit“. Die Anrede „Verbrecher“ gilt als nicht ehrverletzend gegenüber einem wegen eines Verbrechens Verurteilten, wohl aber gegenüber einem Unbescholtenen.
Auf der Grenze stehen (absichtliche) Ehrverletzungen, die Tatsachen einen ehrverletzenden Inhalt zuschreiben, den diese nach vernünftiger Ansicht gar nicht haben. Hier gibt es eine Vielzahl von Beispielen, die mit Ressentiments, Vorbehalten, Vorurteilen und gruppen- oder schichtspezifischen Verständnissen „spielen“. Die menschliche Kommunikation ist auf diesem Gebiet unglaublich einfalls- und facettenreich. In den meisten Fällen ist das harmlos und führt auch kaum zu Konflikten. In anderen Fällen wird es vertrackt: Die Bezeichnung „Schwuler“ oder „Lesbe“ etwa hat objektiv keinen beleidigenden Inhalt, weil Homosexualität in der modernen westlichen Gesellschaft keine ehrenrührige Eigenschaft sein soll. Tatsächlich ist sie das aber in den Augen eines (relativ großen) Teils der Bevölkerung immer noch. Was tun?
Dieselbe Frage stellt sich beim obigen Test: Jude zu sein ist offenkundig nichts Ehrenrühriges. Wenn ein Neonazi aber eine andere Person so anredet, ist das ehrverletzend gemeint, denn in der Gedankenwelt des Täters unterliegt das Wort „Jude“ einer erheblichen Abwertung. (Noch deutlicher wird das Beispiel, wenn das Wort „Jude“, in Nachahmung früherer Pogromhetze, an die Tür von Juden geschrieben würde).
Obgleich dem subjektiven Beleidigungsempfinden verdrehter und rechtsfeindlicher Personen damit scheinbar nachgegeben wird, darf der Rechtsstaat solche „Beleidigungen mit der Wahrheit“ nicht (oder nur sehr ausnahmsweise) bestrafen. Täte er es nämlich, müsste er sich die Sichtweise der Täter zu eigen machen. Gerichte und Staatsanwaltschaften müssten begründen, dass die Bezeichnung eines Menschen als „Jude“ oder „Schwuler“ eine Beleidigung, also eine unverdiente Herabsetzung seines Ehr-Anspruchs sei. Solche Begründungen würden genau jene verheerende Wirkung entfalten, die der Täter erzielen will. Trotz der Niedertracht der Äußerung und des gefühlten Triumphs des Täters werden solche „Beleidigungen“ deshalb nicht bestraft. Es handelt sich konstruktiv um „versuchte Beleidigungen“; die sind aber vom Gesetz nicht mit Strafe bedroht.
Daraus ergibt sich auch die Lösung der Testfrage: Die Anrede „Sie Jude“ ist gewiss keine Beleidigung, selbst wenn sie so gemeint ist; erst recht nicht die (verleumderisch gemeinte) Behauptung über eine Dritte Person, diese sei jüdisch, schwul, schwarz, ausländisch, usw. Grenzfälle gibt es, wenn neutrale Bezeichnungen sich in einer konkreten Situation negativ auswirken können: Dass jemand „Hartz-IV-Empfänger“ sei, ist sicher nicht beleidigend; es kann aber eine strafbare Tatsachenbehauptung nach Paragraf 186 Strafgesetzbuch sein, wenn es dazu dient, die Kreditwürdigkeit des Betroffenen zu schädigen.
Die Anrede „Du Jude“ oder „Verfluchter Araber“ ist beleidigend: Im ersten Fall wegen der Herabwürdigung, die im Duzen liegt, im zweiten Fall wegen der Verbindung eines herabwürdigenden Attributs mit einer neutralen Bezeichnung (entsprechend: „Ausländerpack“, und so weiter).
Ehre und Staatsschutz
Ehrverletzend können übrigens auch Sammelbezeichnungen sein, also Äußerungen, die sich auf Personenmehrheiten oder sogar auf ganze Bevölkerungsgruppen beziehen. Dann ist jeder einzelne Angehörige dieser Gruppe verletzt, vorausgesetzt, dass die Gruppenbezeichnung hinreichend konkret ist: „Die Polizei“ reicht nicht aus, wohl aber „die Mitglieder der Hundertschaft“, „die Angehörigen der Dienststelle“. Die Leugnung des Holocaust hat die Rechtsprechung, bevor die Sondervorschrift des Paragrafen 130 Absatz 3 eingeführt wurde, regelmäßig als „Kollektivbeleidigung“ der in Deutschland lebenden Juden angesehen. Hier ist also die Grenze zur Volksverhetzung (oder Religionsbeschimpfung) berührt.
An den Rändern hat die Strafbarkeit von Ehrverletzungen Bezüge zum Staatsschutzrecht.
Das erkennt man an Sondervorschriften wie Paragraf 90 („Verunglimpfung des Bundespräsidenten“), Paragraf 90a („Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“), Paragraf 90b („Verunglimpfung von Verfassungsorganen“), Paragraf 103 (Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“) und Paragraf 188 („Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens“). Dahinter steckt nicht etwa die Vorstellung einer besonderen, herausgehobenen Ehre der jeweiligen individuellen Personen (wie bei der früheren „Majestätsbeleidigung“), sondern der Schutz der Funktion als Repräsentant des Staats.
Importierte Ehrvorstellungen
Einzelfälle
Ehrvorstellungen einzelner, aus fremden Kulturkreisen eingewanderter Personen können sich gravierend von den hierzulande gängigen Vorstellungen unterscheiden. Straftaten, die auf der Grundlage solcher Ehrvorstellungen begangen und durch sie motiviert werden, bedürfen einer differenzierten Betrachtung. Was tun mit einem pakistanischen Vater aus Köln oder Augsburg, der die „Ehre“ seiner Tochter mittels Gewalttat rächt:
a) an ihrem Verführer
b) an ihrem Vergewaltiger
c) an ihr selbst?
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sagt: Wer in Deutschland lebt und Gelegenheit hatte, sich mit den hier geltenden Moral- und Ehrvorstellungen vertraut zu machen, der muss sich an diese halten, selbst wenn sie von den Vorstellungen seines heimatlichen Kulturkreises abweichen und es ihm schwerfällt. Dieser Grundsatz ist richtig, selbst wenn er im Einzelfall hart sein mag. Multi-Kultur bedeutet nicht: Parallel-Kulturen. Es wäre nicht hinnehmbar, wenn sich in Deutschland eine Vielzahl von ethnisch geprägten Sonder-Kulturen entwickelten, die von der „offiziellen“ Moral der Mehrheit nicht mehr durchdrungen, sondern nur mehr überwölbt würden.
Trotzdem ist die Beurteilung im Einzelfall schwierig. „Ehrenstrafen“, Ehrenmord“ und „Ehrenhändel“ gelten in Deutschland nicht nur als „altmodisch“, sondern sogar als besonders verwerflich. Ob das richtig im Sinne von „gerecht“ ist, kann man bezweifeln. Wer keinerlei Zweifel hat, möge darüber nachdenken, wie viel aus der deutschen Kultur und den deutschen Vorstellungen von Ehre und Moral die Millionen deutscher Auswanderer einst in die ganze Welt mitgenommen und in der neuen Heimat generationenlang hartnäckig beibehalten haben. Solche „Auswanderer-Kulturen“ sind sogar oft – insbesondere wenn sie in der neuen Heimat eine verachtete Minderheit sind – nach innen besonders rigide und koppeln sich im Festhalten an den alten Vorstellungen auch von den Veränderungen in der ursprünglichen Heimat ganz ab. Das wird deutlich, wenn beide nach langer Zeit wieder zusammentreffen (Beispiele: Russland-Deutsche aus der Ukraine oder aus Kasachstan, „Donauschwaben“, Buren im südlichen Afrika): Dann erscheinen die isolierten „Ehren“-Kulturen wie Abziehbilder aus längst vergangenen Zeiten.
Nur nebenbei sei angemerkt: „Ehren“- oder „Blutrache“-Delikte werden in vielen Staaten, in denen sie besonders häufig vorkommen, besonders hart bestraft! Und in Deutschland (wie anderswo) schwadronieren oft diejenigen, die sich besonders über die Auswüchse der einwandernden rückständigen „Sippenehre“ und Privatjustiz empören, selbst am lautesten über die eigene Sympathie für Lynchjustiz.
Ehren-Welten
Gravierende Probleme treten auf, wenn in Gesellschaften große Gruppen von Menschen jeweils eigene Kommunikations-, Moral- und Ehren-Maßstäbe haben, sich also unter dem Dach einer Rechtsordnung erhebliche gesellschaftliche Desintegrationen entwickeln. Das kann verschiedene Gründe haben. Die wichtigsten sind, neben dem Phänomen sogenannter „gescheiterter Staaten“, hohe soziale Ungleichheit und Einwanderung.
Extreme soziale Ungleichheit führt zur Entwicklung von Subkulturen und Parallelgesellschaften mit sehr spezifischen Regeln zur Herstellung, Verteilung und Anerkennung von „Ehre“. Die sizilianische Mafia zur Zeit ihrer Entstehung als „Ordnungsmacht“ ist dafür ein (veraltetes, aber sehr gutes) Beispiel.
Wichtig für Deutschland ist vor allem die Desintegration durch Einwanderung. Insoweit muss wiederum zwischen mindestens zwei Problemen unterschieden sein: auf der Mikro-Ebene dem Import individueller Ehrvorstellungen aus anderen Kulturkreisen, auf der Makro-Ebene die Auseinandersetzung und Vermischung verschiedener Ehren-Kulturen. Beides hängt eng zusammen, muss aber unterschieden werden, um den praktischen Problemen näherzukommen.
Große Gruppen „Fremder“ in einer Gesellschaft führen zu Angst und Abwertung. Da ich selbst Flüchtlingskind aus Prag bin, weiß ich aus eigenem Erleben, dass jedenfalls noch in den Fünfziger Jahren die Bezeichnung „Flüchtling“ in vielen Teilen Deutschlands als Beleidigung gemeint war, ganz ähnlich dem heutigen Wort „Asylant“. In den Familien der Erbauer des Ruhrgebiets, bei all den Kowalskis und Kasulskis, weiß man bis heute, wie es ist, als „Pollack“ beschimpft zu werden, und noch Nachfahren der 1945 aus Böhmen und Mähren vertriebenen „Sudetendeutschen“ benutzen das abwertende österreichische Wort „Tschusch“, wenn sie von Osteuropäern reden.
Pegida gab es, so oder so, zu jeder Zeit. Sie demonstrierte schon gegen die ehrverletzende Einführung der amerikanischen Kartoffel und des balkanesischen Walzers, gegen den Juden Einstein und den Preußen Friedrich, das indische Curry und die Westfälische Wurst und die französischen Pommes obendrein. Den Rettern des Abendlandes aus Blasewitz und Coswig, die Ihr Euch im Namen des jungfräulichen Quarkkeulchens gegen gesottene Schafsköpfe stemmt und das ostdeutsche Brötchen gegen das türkische Fladenbrot verteidigt, rufe ich zu: Lasst uns die Ehre (und die Sorgen) der Menschen einmal ernst nehmen! Würde und Anspruch auf Achtung sind Menschenrechte, nicht Einwohnerrechte. Denken Sie an die Ehre deutscher Bauern oder Handwerker, die vor 150 oder vor 80 Jahren als Hafenarbeiter in New York auf die Kulturen der Griechen, der Iren und der Italiener trafen wie heutzutage der Libanese in Berlin auf die Kulturen der Albaner, Türken und Friedrichshainer.
Die (einwanderungsbedingte) Entstehung von „Ehr“-Kulturen, die – teilweise anders als früher – nicht auf rasche und unauffällige Integration aus sind, sondern in starken gesellschaftlichen Gruppen auf die Gültigkeit ihrer spezifischen „Ehren“-Ansprüche pochen, ist für jede Gesellschaft eine echte Provokation und Herausforderung – euphemistisch ausgedrückt. Allerdings keine sensationell neue: Andere europäische Länder haben seit Jahrzehnten Erfahrungen damit, Deutschland, ewig selbsternanntes Opfer der Weltgeschichte, ächzt und stöhnt schon wieder unter einer ungleich geringeren Last.
Ehre und Grundrechte
Man kann über die Ehre und die Beleidigung selbstverständlich nicht sprechen, ohne die Bedeutung der Grundrechte zu erwähnen. Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes garantiert die Freiheit der Meinungsäußerung gegenüber Eingriffen des Staats, hat aber auch weit darüber hinaus Bedeutung für die Auslegung und Anwendung von Gesetzen, etwa der Strafbestimmungen zur Beleidigung. Und Artikel 1 Satz 1 des Grundgesetzes stellt fest, dass die „Würde des Menschen“, also auch der einzelnen Person, oberster Leitsatz staatlichen Handelns sei.
Das Recht kann nur wenig Heilsames tun
Das Bundesverfassungsgericht, aus guten und manchmal weniger guten Gründen oberste Instanz für praktisch alles, hat sich zur „Ehre“ und zu den Bedingungen, Voraussetzungen, Folgen der Ehrverletzung so oft geäußert wie zu kaum einem anderen Thema. Das ist kein Zufall. In einer sehr langen Reihe von berühmten Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht eine richterrechtliche Ausdifferenzierung der dürren Gesetzestexte entwickelt, die in ihrer Genauigkeit und Verschwommenheit, ihrem guten Willen, ihrer hochfliegenden Theoriebildung und kleinrahmigen Einzelfallsverhaftetheit gewiss auf der ganzen Welt ihresgleichen sucht. Allein die zusammenfassende Wiedergabe dieser Rechtsprechung nimmt in den einschlägigen Gesetzeskommentaren Hunderte von Seiten in Anspruch. Mit sehr viel Verdichtungswillen lässt sie sich in diesem Satz komprimieren: Es kommt darauf an, auf was es ankommt.
Das klingt ein bisschen ironisch und soll es auch sein, ist aber trotzdem wahr. Denn wer die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ehre und deren Verletzung in extenso ausbreitet, wird finden, dass sie einfach die Gesamtheit der gesellschaftlichen Diskussion des Themas widerspiegelt: Sie selbst ist Teil dieser Diskussion. Sie hangelt sich durch und tut ihr Bestes, um uns Bürgerinnen und Bürger im Boot einer gemeinsamen, an Rationalität und Regeln des friedlichen Diskurses orientierten Auseinandersetzung zu halten. Jedenfalls aus diesem Grund gebührt dem Bundesverfassungsgericht hohes Lob. Es kommt nicht darauf an, ob die eine oder andere Entscheidung „richtig“ oder „falsch“ ist. Es kommt darauf an, ob wir uns in einer gemeinsamen Sprache darüber streiten, was Ehre bedeuten soll.
Viele, insbesondere konservativ eingestellte Menschen bemängeln, das Bundesverfassungsgericht messe der Ehre zu wenig Bedeutung bei und weite den Spielraum der Meinungsfreiheit zu sehr aus. In der Tat geht die Großzügigkeit des Gerichts gelegentlich an die Grenze des der Mehrheit der Bevölkerung Vermittelbaren. Daraus entstehen Überspitzungen wie die polemische Behauptung, das Rechtsgut Ehre sei in Deutschland praktisch nur noch für Politiker geschützt. Das trifft natürlich nicht zu, hat aber einen wahren Kern: In einer Kultur, die sich häufig nurmehr in schrillen Bildern, Schlagzeilen und Parolen verständigt oder „postings“ von 140 Zeichen reduziert, verflüchtigt sich vielfach auch jede Achtung vor der Person des anderen, weil jeder jeden nur noch als „Hindernis“ auf irgendeiner Überholspur wahrnimmt.
Einer solchen, pessimistischen Sicht setzt das Bundesverfassungsgericht in erstaunlicher Stringenz das Bild einer Meinungs- und Kommunikationsfreiheit entgegen, die „schlechthin konstituierend“ für einen Rechtsstaat ist. Das Gericht verfolgt insoweit weiterhin die Spur eines liberalen, aufgeklärten Gemeinwesens, das sich in einer möglichst offenen, nur an den äußersten Grenzen staatlich gemaßregelten Kommunikation fortentwickelt. Das mag man – etwa im Blick auf die USA – für zu optimistisch halten. Dass es ein äußerst ehrenwertes und reizvolles Konzept ist, steht aber außer Frage.
Schluss
In dieser Kolumne geht es um Recht, nach Ansicht des Kolumnisten nicht um bloße Gesetzeskunde, sondern die Erklärung von Recht in seiner Wirklichkeit. Viele Fragen können nur angedeutet und gewiss nicht geklärt werden. Dass man über „Ehre“ nicht sprechen kann auf der Ebene von: „Beleidigung ist, wenn…“, dürfte aber inzwischen klar sein.
Das Recht – vor allem: das Strafrecht – kann nur wenig Heilsames tun. Es kann (und muss) immer behaupten: Jawohl, es gibt eine Gemeinsamkeit der Ehre, der Anerkennung, des Respekts. Sie muss gegen alle Dummheit, Verbohrtheit, Rückständigkeit durchgehalten und verteidigt werden. Ihre Quellen dürfen nicht die Vorurteile und Beschränktheiten einer vorgeblichen „Leitkultur“ sein, die sich durch nichts als ihre Herrschaft definieren kann. Die Maßstäbe der „Ehrenhaftigkeit“, die in geschlossenen Gesellschaften funktionieren, versagen in offenen, sozial mobilen Gemeinwesen. Selbst für die Verinnerlichung solch banaler Erkenntnisse benötigen Gesellschaften mehrere Jahrzehnte. Dieser Prozess ist von erheblichen emotionalen Aufwallungen begleitet.
Manche sehnen sich nach einem absoluten „Ehr“-Gefühl, das sie in einer Sekunde emporhebt über alle und alles und in der nächsten versinken lässt in einer Auflösung in allem. Das ist die Sehnsucht der Kinder, der Süchtigen und der armen Schweine. Es ist die Welt von Gandalf, dem Weisen. Sie ähnelt der Welt der Geheimbünde, der Erweckungskirchen, der rassistischen Gewalt- und Vernichtungsfantasien. Die „Ehre“ in der heute bis zur Raserei imaginierten „Fantasy“, der Elben und blonden Jungmädchen, ist so rein wie die der Heiligen oder der Kinder unserer wirklichen Welt, die wir angeblich vor den heranbrandenden Wellen grunzender Orks verteidigen müssen. Das Schöne an dieser Art von Ehre ist, dass man sie gar nicht durch individuelle Verdienste erwerben muss, sie aber gleichwohl mit aller Gewalt geltend machen darf: Weil sie einem von Natur aus zukommt.
Wer so denkt, ist vielleicht nicht unintelligent, aber ziemlich dumm, vielleicht auch beides. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gehört er/sie einer gesellschaftlichen Gruppe an, die man nicht als „privilegiert“ bezeichnet. Schlichter: Arme rosafarbene Schweine behaupten, es sei eine Ehre, ein armes rosafarbenes Schwein zu sein. Ein armes schwarzes Schwein zu sein, sei dagegen Kennzeichen größtmöglicher Unehre. Diese Theorie ist nicht intelligent, aber folgerichtig. Wer sich darüber erhaben fühlt, möge seine Eltern oder Großeltern nach dem Grund befragen, der sie vor 70 Jahren zu der Erkenntnis brachte, „Ehre der Deutschen“ und „Ehre der Juden“ seien zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun hätten.
Was bleibt? Die Ehre ist ein rätselhaftes und vertracktes Gut. Vertieftes Nachdenken bringt uns auf grundlegende Fragen unserer sozialen Existenz. Eine wichtige Erkenntnis ist: „Ehre“ ist nichts Endgültiges und kann es nicht sein. Sie wird permanent verhandelt, von allen und auf allen Ebenen. Das ist anders als in statischen, über lange Zeit unveränderten Strukturen. Es kann Angst machen. Dass Maß und die Bedingungen, unter denen solche Angst empfunden wird, werden in den gesellschaftlichen Gruppen sehr unterschiedlich sein: Was die einen als „ruhig“ empfinden, fühlen die anderen als bedrückend; was den einen als „innovativ“ erscheint, ist für die anderen existenziell bedrohlich. Lassen Sie uns also, wann immer es geht, einen Schritt zurücktreten und die Sache aus der Halbdistanz betrachten. Dann werden wir vielleicht Mitleid haben mit den Entehrten, und auch mit den Ehrpussligen. Sogar mit den Einfaltspinseln, die von einer „Ehre“ träumen, die sich nach der Stärke von Angst und Hass bemisst.
Die (Straf)Justiz erfasst und vermittelt von dem allen nur ein unscharfes Bild. Sie ist, in jedem ihrer Mitglieder, selbst betroffen und selbst beschränkt, und kann niemals die ganze Wirklichkeit der feinsinnigen sozialen Kommunikation erkennen und abbilden. Aber genau das ist vielleicht tröstlich: Solange wir in halbwegs zivilisierten Formen über unsere „Ehre“ streiten, sind wir vielleicht töricht, aber immerhin Menschen.
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