Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Einen „unerträglichen Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz“ stellte Generalbundesanwalt Range fest, und wurde vom Bundesjustizminister Maas in den Ruhestand versetzt. Was soll man davon halten?

11. August 2015, 15:31 Uhr

Drei Rundfunkbeiträge

Erstens. Dass einmal mehr Großes vor sich gehe in Deutschland, erfuhr der Kolumnist auf der morgendlichen Fahrt nach Karlsruhe aus dem Autoradio: „Generalbundesanwalt Range“, so hörte er, „hat ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Journalisten wegen Landesverrats eröffnet“. Näheres folge „im Anschluss an diese Nachrichten“. Was folgte, war nichts „Näheres“, sondern einander überstürzende Eruptionen knallharter Investigation auf allen Kanälen. Sie lautete: „Wer ist für diesen Skandal verantwortlich?“ und „Wer hat davon gewusst?“.

Die Fragen, deren Beantwortung das Vibrato der Moderatoren stündlich in Aussicht stellte, sind zwei Wochen später weder geklärt noch intelligenter geworden. Möglicherweise hängt das eine mit dem anderen zusammen.

Zwischenzeitlich erfuhren wir, dass „ein erster Rücktritt“ (ganz wichtig das Ordinalwort – wir kennen es aus „erste Tote“, „erste Opfer“) erfolgt sei und dass auf irgendwelche Personen „der Druck weiter zunehme“. Diese „Druckzunahme“ ergibt sich, wie der erfahrene Leser/Hörer/Zuschauer weiß, dadurch, dass die Nachricht fünfmal hintereinander gesendet und anschließend ein angetrunkener Landtagsabgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern aufgetrieben wird, der in ein Mikrofon die goldenen Worte spricht von der „rückhaltlosen Aufklärung“ und den „personellen Konsequenzen“.

Zu diesem Zeitpunkt liegen alle Politiker mit Überlebenswillen bereits in den Straßengräben in Deckung, über dem Kopf eine Tarn-Mütze aus dem Gras der Ahnungslosigkeit (Achtung: Ich meine hier selbstverständlich das gemeine Wiesengras, nicht etwa cannabinoide Gedächtnisbereiniger!). Auf freiem Feld – immerhin noch in den Ackerfurchen – ducken sich die Staatssekretäre und Ministerialdirektoren. Nur die Referatsleiter radeln pfeifend zum Dienst, wie jeden Tag, das Lederrucksäckchen umgeschnallt.

Zweitens. 6. August, 07.40 Uhr. Der Deutschlandfunk interviewt den Vorsitzenden des NSA-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags, Patrick Sensburg, zur Beurteilung des „Netzpolitik.org-Skandals“. Herr Sensburg müht sich redlich, eine Art von Struktur in den Schwall halbgarer Unkenntnis zu bringen, der ihm entgegenschlägt. Er hat gegen die Vernehmerin am Schaltpult keine Chance. Denn dort sitzt – wir sprechen, liebe Hörer, von „Qualitätsrundfunk“! – eine Spezialistin für kritische Befragung, die, wie es ihr Beruf mit sich bringt, nicht nur alle Fragen kennt, sondern vor allem die richtigen Antworten. Jeglicher Versuch ihres Interviewpartners, diesem usurpatorischen Verhörkonzept zu entkommen, wird unterbunden und alsbald „hinterfragt“ – oder: mit der Attitüde der Herablassung und Besserwisserei beiseite gewischt. Fällt eine Antwort nicht nach dem Skript der Moderatorin aus, wird sie wiederholt. Widersetzt sich der Vernommene hartnäckig, wird die nächste geschlossene Frage vom Blatt gelesen, die – das ist das Ziel der geschlossenen Frage – wiederum eine erwünschte Antwort erzwingen soll. Das nennt man dann wohl: „auf den Zahn fühlen“. Es gibt Momente, in denen man sich für die Redakteure solcher Sendungen schämt.

Drittens. 6. August 2015. Der Kolumnist wird in einer Live-Sendung des SWR interviewt. Die erste Frage lautet: „War die Entlassung von Generalbundesanwalt Range richtig?“ Nachdenken, abwägen, formulieren: Ob sie „richtig“ gewesen sei, wolle oder könne er, der Kolumnist, nicht sagen – sie sei aber „berechtigt“ gewesen, da der Bundesminister der Justiz das Recht habe, den Generalbundesanwalt jederzeit in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Kurzer Gedanke blitzt auf: Man hätte statt „berechtigt“ eventuell vielleicht „rechtmäßig“ sagen sollen, um noch deutlicher neutral zu bleiben. Egal, live ist live. In der nächsten Nachrichtensendung des SWR wird verlesen: „Der Vorsitzende Richter am BGH, Fischer, hält die Entlassung von Generalbundesanwalt Range für berechtigt.“

So, liebe Rezipienten, geht „Journalismus“. Das ist interessant, denn in diesen Tagen geht es um die medienrelevante und die Öffentlichkeit aufwühlende Frage, was Journalismus darf. Dabei erfährt man voller Erstaunen: Gerade der Qualitätsjournalist arbeitet an der untersten denkbaren Grenze seiner intellektuellen Möglichkeiten. Weil der Leser, Hörer und auch Sie, lieber Zuschauer, von einer solch deprimierenden Einfalt sind: Sie verstehen praktisch nichts, was sich nicht in kurzen Hauptsätzen mit sechs Worten sagen lässt. Deshalb ist es für den Qualitätsjournalismus auch erforderlich, in solch einfachen Sätzen zu denken. Gedankengebäude, in denen eine Folge von zwei verschiedenen Bedingungen abhängt, die ihrerseits untereinander in Abhängigkeit stehen, setzen nämlich ein Hochschulstudium voraus. Zum Beispiel: A haut B aufs Maul, wenn C entweder D anbaggert oder E, aber nur für den Fall dass D nicht mit A Schluss gemacht hat und B das gut fand. Oder: Eine Intervention der Nato im Nordirak hätte nur dann einen Sinn, wenn die USA sich mit Russland über eine gemeinsame Haltung im Syrien-Konflikt einigen könnten.

Unsere Presse

Die Meinung ist frei. Unsere Pressefreiheit vor allem! Na gut, sagen wir: ziemlich frei. Vielleicht nicht ganz so frei wie im Paradies der Washington Post, wo John Wayne und Clint Eastwood, Hand in Hand und Whiskey für Whiskey, vor 44 Jahren gegen einen Stein schlugen (worauf Wasser hervorsprudelte) und zu einem Korb sprachen (worauf dieser von käseüberbackenen Laugenbaguettes und buchenholzgeräucherten Bioforellen überquoll). Heutzutage muss man, verehrte YouTube-Generation, schon ganz andere Sachen aufklären, bevor ein Präsident zurücktritt.

Die Freiheit der Presse ist eine von Schranken begrenzte Freiheit

Also noch einmal: Pressefreiheit meint, dass die Presse frei ist. Wer was anderes sagt, ist raus. Denn er könnte es ja lediglich in der freien Presse sagen, und wenn die nicht will, dass es gesagt wird, erfährt es keiner. Die deutsche freie (Print)Presse gehört 20 Milliardärsfamilien: Auch deshalb ist sie bekanntlich so frei.

Ganz wichtig daher: Der Blogger! Er ist der Freieste unter den freien Pressevertretern überhaupt. Blogger „haben ja schließlich auch einen Presseausweis“, beteuert der Moderator im Qualitätsfernsehen. Presse ist also, wenn man einen Presseausweis hat. Presseausweise sind überhaupt eine gute Sache. Man kriegt damit an jeder Ecke geldwerte Vergünstigungen, sogenannte Journalistenrabatte, von denen der etwas weniger freie Bürger nur träumen kann, von Abenteuerurlaub bis Zahnersatz. Das Internet hält beides bereit: Onlineverkäufer für Presseausweise und Dateien mit „1.062 Journalisten-Rabatten“, alphabetisch geordnet.

Freiheit ist, wenn alles geht. Man muss nichts verstehen, nichts können, nichts wollen, einfach nur irgendetwas schreiben oder, noch besser, „abdrucken“. Je originaler das Abgedruckte ist, desto freier die Presse.

Sie, liebe Leser, die Sie seit zwei Wochen darüber nachsinnen, wer für den unglaublichen Skandal verantwortlich ist, dass doch tatsächlich einmal ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Journalisten geführt wird, und wer alles davon gewusst haben könnte, haben gewiss als erstes einmal Artikel 5 unserer Verfassung nachgelesen (falls dies überhaupt noch erforderlich sein sollte!). Ich erlaube mir trotzdem die kleine Gedächtnisstütze:

Grundgesetz Artikel 5:

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Die „Presse“ kommt also vor allem in Absatz 1 Satz zwei und Absatz 2 vor: Pressefreiheit ist gewährleistet; sie findet ihre Schranke in den allgemeinen Gesetzen. Ist Ihnen etwas aufgefallen? „Sie findet ihre Schranke“! Hieraus können wir schließen, dass es eine solche gibt. Mit anderen Worten: Die Freiheit der Presse ist eine von Schranken begrenzte Freiheit.

„Allgemeine Gesetze“ sind solche, die nicht für spezielle Gruppen gelten, sondern für alle. Man darf zum Beispiel andere Personen nicht verleumden. Man darf ihre Persönlichkeitsrechte nicht willkürlich verletzen. Man darf nicht zu Straftaten aufrufen. Man darf Völkermord nicht freudig begrüßen und den Holocaust nicht leugnen. Und: Man darf auch keine Staatsgeheimnisse verraten.

Eine Strafanzeige wurde vom Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz erstattet wegen „Landesverrats“. Paragraf 94 Absatz 1 Strafgesetzbuch lautet:

§ 94 Landesverrat

(1) Wer ein Staatsgeheimnis

1. einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner mitteilt oder

2. sonst an einen Unbefugten gelangen lässt oder öffentlich bekanntmacht, um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt,

wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.

Die nachfolgende Vorschrift, Paragraf 95 Strafgesetzbuch, lautet:

§ 95 Offenbaren von Staatsgeheimnissen

(1) Wer ein Staatsgeheimnis, das von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheim gehalten wird, an einen Unbefugten gelangen lässt oder öffentlich bekannt macht und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wenn die Tat nicht in § 94 mit Strafe bedroht ist.

(…)

Gewiss haben Sie gleich bemerkt, wo der Unterschied liegt: Im sogenannten subjektiven Tatbestand, auch genannt: Vorsatz. Und in der speziellen Absicht, dem „um zu…“ des Paragraf 94. Das Zauberwort ist in beiden Fällen das „Staatsgeheimnis“. Was das ist, erklärt uns das Gesetz in abstrakten Worten in Paragraf 93 so:

§ 93 Begriff des Staatsgeheimnisses

(1) Staatsgeheimnisse sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheim gehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden.

(2) Tatsachen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (…) verstoßen, sind keine Staatsgeheimnisse.

Das ist eine nicht ganz unkomplizierte, aber doch noch übersichtliche Regelung. Gemeinsam mit den Moderatoren sämtlicher Kanäle und den Kommentatoren sämtlicher Leitmedien haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, diese gesetzlichen Textpassagen – sie bestehen aus insgesamt vier Sätzen in deutscher Sprache – in den vergangenen Wochen gewiss analysiert und sich ein Urteil gebildet: Ist ein Organisationsplan des Bundesamts für Verfassungsschutz über Aufbau und Besetzung einer Ermittlungsabteilung gegen Angriffe im Internet ein „Staatsgeheimnis“ oder nicht?

Höchste Würdenträger beschuldigen sich gegenseitig

Für den Fall, dass Sie noch schwanken, eine kleine Gegenprobe: Meinen Sie, der Bundesnachrichtendienst würde sich freuen, wenn ihm ein chinesischer Blogger oder ein syrischer Oppositioneller die entsprechenden Organisationspläne der Nachrichtendienste Chinas oder Syriens übermittelte? Es spricht vielleicht nicht alles, aber doch ein bisschen was dafür, dass es so sein könnte. Und dass die Organisationsplanung des Verfassungsschutzes gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung verstoße (§ 93 Abs. 2 StGB), wird man auch kaum sagen können.

Kommen wir also auf die Pressefreiheit zurück: Sind die Paragrafen 94 und 95 Strafgesetzbuch „allgemeine Gesetz“ im Sinne von Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz? Unzweifelhaft ja: Niemand hat je bestritten, dass auch Mitarbeiter von Presseorganen sich wegen Landesverrats strafbar machen können. Und wenn Netzpolitik.org ein Organ der freien Presse ist: auch diese.

Hier könnte man nun freilich einwenden: Hat der Verfassungsschutz – während gerade vor dem OLG München und im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags über sein Komplettversagen bei der Aufklärung einer rechtsextremen Mordserie verhandelt wird – nichts Besseres zu tun, als Strafanzeigen gegen Bekannt (zwei Tugendwächter aus der Internetgemeinde) und Unbekannt (anonyme korrupte Beamte aus den eigenen Reihen) zu erheben, weil er den Geheimnisverrat der eigenen Mitarbeiter nicht unter Kontrolle kriegt? Diese Frage wäre, so interessant sie politisch sein mag, rechtlich gänzlich ohne Bedeutung. Denn die eine Pflicht schließt die andere gewiss nicht aus, und es wäre recht verwunderlich, wollte man vom Präsidenten des Verfassungsschutzes erwarten, aus lauter Scham über das NSU-Desaster in den nächsten Jahren beim Landesverrat einmal etwas großzügiger zu sein.

Unerträgliche Eingriffe

Der Generalbundesanwalt Harald Range verlas öffentlich eine Erklärung des Inhalts, er habe von seinem Dienstvorgesetzten (genannt Bundesjustizminister Heiko Maas) die Weisung erhalten, ein von ihm angefordertes Beweismittel nicht zu beachten, sondern durch ein anderes Beweismittel zu ersetzen. Dies sei „ein unerträglicher Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz“ gewesen. Er hätte auch – langsam und prononciert – das bei solchen Gelegenheiten übliche Zitat des Götz von Berlichingen in die Kameras sprechen können: Inhalt und Ergebnis wären identisch gewesen.

Warum tat er dies? In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erläuterte er alsbald – neben der Abhandlung einiger unmaßgeblicher Vordertür- und Hintertür-Eitelkeiten –, er habe auch deshalb so handeln müssen, um sich nicht strafbar zu machen. Das war eine vornehme, aber ungemein vertrackte Erläuterung. Denn wodurch könnte sich der Generalbundesanwalt Range wohl strafbar gemacht haben? Und welche Strafbarkeit war gemeint? Da fällt einem nur die (versuchte) Strafvereitelung im Amt ein, zum Beispiel durch Unterdrückung eines belastenden Beweismittels in der Absicht, aus sachwidrigen Gründen zur Verfahrenseinstellung gegen die Beschuldigten zu gelangen.

Die Beweismittel, um die es in unserem Fall geht, sind die sagenumwobenen „Gutachten“, welche angeblich die Frage behandeln, ob die durch Netzpolitik.org veröffentlichten Informationen „Staatsgeheimnisse“ im Sinn von Paragraf 93 Strafgesetzbuch waren. Das ist überwiegend eine Rechtsfrage, teilweise aber auch eine Tatsachenfrage. Es gibt, wie wir hören, drei (oder zweieinhalb) Gutachten: Ein „internes“ des Bundesamts für Verfassungsschutz (Verfasser, laut Süddeutscher Zeitung: „Herr Müller“, Länge: zehn Seiten), ein „kurzes“, unvollendetes eines im Urlaub befindlichen „jungen Wissenschaftlers“ im Auftrag des Generalbundesanwalts; und nun auch ein „eigenes“ des Bundesministeriums der Justiz (Ob es vom Leiter eines Staatsschutzreferats dieses Ministeriums verfasst wurde, den man zwecks Anfertigung eines nunmehr total neutralen Gutachtens kurzfristig von anderen Aufgaben freistellte, oder ebenfalls von einem „externen Gutachter“, der zufällig aus dem Urlaub schon wieder zurück war, ist natürlich streng geheim.). Wie alle Gutachten über den Geheimnischarakter des bekannten Organisationsplans übrigens auch inhaltlich total geheim sind, sodass niemand sie lesen darf, außer den höchsten Würdenträgern.

Die Situation ist also Folgende: Die Offenbarung ist da. Die Tatsachen sind bekannt. Höchste und sogar ziemlich höchste Würdenträger beschuldigen sich gegenseitig, Lügner und/oder Verbrecher zu sein. Die Gutachten über die bekannten Geheimnisse, mit denen sie sich aus der Ferne bewerfen, sind aber auf jeden Fall SUPER-geheim! Wenn deren extrem geheimnisvollen Inhalt jemand erführe, hätte der Feind gewonnen.

Die Ergebnisse jedenfalls von zwei der drei Gutachten liegen allerdings auf der Hand: Das Innengutachten der Verfassungsschützer bejaht die Eigenschaft als Staatsgeheimnis (sonst wäre ja nicht Strafanzeige erstattet worden); das BMJ-Gutachten verneint sie (sonst wäre ja die Empörung über die Unbotmäßigkeit des Staatsanwalts Range dort nicht so groß). Bleibt das Gutachten des vorübergehend im Urlaub weilenden geheimen Geheimwissenschaftlers der Bundesanwaltschaft. Range teilte am 4. August mit, das „vorläufige Ergebnis“ liege ihm seit 3. August vor: danach habe es sich um Staatsgeheimnisse gehandelt.

Bleibt vor allem die Frage, warum dieser Auftrag unbedingt zurückgezogen werden sollte: Weil das vorläufige Ergebnis dem Ministerium nicht passte, oder weil der Sachverständige zu jung und/oder zu lange im Urlaub war? Diese Frage wird, so dürfen wir vermuten, Gegenstand eines langen Hornberger Schießens werden.

Denn die Tathandlung, welche der Generalbundesanwalt keinesfalls begehen wollte (weil strafbar), kann ja nur gewesen sein, der „Weisung“ des Ministeriums nachzukommen, den eigenen Gutachtensauftrag nicht weiter zu verfolgen. Nun besteht, wie wir wissen, Streit über den genauen Inhalt jener Gespräche, in denen von Weisung vielleicht die Rede war, vielleicht aber auch bloß von einem Wunsch oder einer Anregung. Ausgeschlossen werden kann jedenfalls, dass der Generalbundesanwalt in diesen Gesprächen die ihm vorliegende kurze Einschätzung des beauftragten (jungen) Sachverständigen gar nicht erwähnte (denn darum ging es ja gerade). Range teilte am 4. August mit, er habe das Ministerium am 3. August informiert. Alles andere wäre gänzlich lebensfern.

Im Zusammenklang mit der Behauptung, eben eine solche „Weisung“ vom Dienstvorgesetzten erhalten zu haben, war die Erklärung des Generalbundesanwalts somit die fast unverhüllte Unterstellung, der Bundesminister der Justiz habe den Generalbundesanwalt mittels „Weisung“ dazu zwingen wollen, eine schwere Straftat im Amt zu begehen. Da muss man erst mal drauf kommen.

Der Verein der Bundesrichter und Bundesanwälte beim Bundesgerichtshof legte noch einmal nach: Das Weisungsrecht des Ministers, hieß es, ende dort, wo der Anweisende eine Straftat der Strafvereitelung im Amt begehe. Hierfür bestünden „Anhaltspunkte“. Daher bestünden nun „schwerwiegende Gefahren für den Rechtsstaat“.

Staatsanwälte und Generalbundesanwälte „haben Anweisungen nachzukommen“

Holla! Das ist aber mal ein Wort, Kollegen! Ein Anfangsverdacht wegen Strafvereitelung im Amt, plus „schwerwiegender Gefährdung des Rechtsstaats“, begangen vom Bundesjustizminister höchstselbst, seiner Staatssekretärin und den ungenannten Helfern und Helfershelfern des Verbrechens in den Fachabteilungen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland! Das alles per Pressemitteilung öffentlich gemacht vom Verein der Bundesrichter und Bundesanwälte!

Wurde im BGH heimlich Cannabis ausgegeben? Hat Chefkoch Udo Zwernemann, Herr des höchstrichterlichen Hackbratens im Kasino des BGH, eine Prise Lysergsäurediäthylamid unter die Pfifferlinge gemischt? Hat, ohne dass es die Frankfurter Rundschau mitbekommen hätte, eine radikale Minderheit sogenannter „Rebellen“ die Macht übernommen, die auf dem Weg des „Zehnaugenprinzips“ infrage stellen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf?

Oder sollte da am Ende doch nur ein Club von Sancho Pansas in den Kampf gezogen sein, die gemeinhin bei jedem obrigkeitlichen Windhauch den Kopf zwischen die Ohren ziehen? Der Kolumnist ist Mitglied des genannten Vereins. Er ist nicht befragt worden, ob die historisch einmalige Verlautbarung auch in seinem Namen erfolgen könne. Er wird seinen Austritt aus dem Verein erklären.

Wie auch immer: In den vergangenen 70 Jahren hat es etwas Vergleichbares nicht gegeben. Darf man es „Staatskrise“ nennen, wenn der Generalbundesanwalt und der Verein der Bundesrichter öffentlich den Justizminister der versuchten Nötigung und versuchten Strafvereitelung beschuldigen? Ich denke schon.

Das Weisungsrecht

Nun muss man zunächst konstatieren: Der Bundesminister der Justiz hat ein Weisungsrecht gegenüber dem Generalbundesanwalt. Die Landesjustizminister haben ein Weisungsrecht gegenüber den Generalstaatsanwälten der Länder; diese haben ein Weisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften, deren Leiter haben eines gegenüber allen Staatsanwälten. Mit anderen Worten: Die Staatsanwaltschaft ist eine hierarchische staatliche Verwaltungsbehörde mit klarer Weisungsstruktur von ganz oben bis ganz unten. So steht es seit 1877 im Gesetz. Alles andere ist Festtagsgesäusel.

Ein Generalbundesanwalt, der öffentlich behauptet, eine an ihn ergangene Weisung sei daher „unerträglich“, weil sie in „die Unabhängigkeit der Justiz“ eingreife, bringt entweder absichtlich oder zufällig alles durcheinander: Weder ist er „die Justiz“, noch hat er eine „Unabhängigkeit“, noch ist der Eingriff deshalb „unerträglich“.

Da kann der Deutsche Richterbund in Gestalt des Vereins der Bundesrichter und Bundesanwälte noch so laut den Mond anbellen: Recht hat er nicht. Nicht die Staatsanwälte sind unabhängig, sondern allein die Richter, so steht es in Artikel 97 Abs. 1 Grundgesetz. Dagegen heißt es in Paragraf 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Staatsanwälte lapidar: „Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten nachzukommen.“ Es gibt – vielleicht aber auch nicht! – Gründe, das zukünftig zu ändern. Man hätte es oft genug ändern können. In anderen Ländern der EU ist es anders. In Deutschland ist es so geregelt, wie es das Bundesjustizministerium sagt.

Das alles weiß natürlich auch Harald Range. Deshalb fragt man sich: Wieso geißelte er öffentlich einen „unerträglichen Eingriff“ in seine (niemals bestehende) „Unabhängigkeit“, wenn er doch eigentlich einen (strafbaren) Eingriff in die Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Strafverfolgung, also den sogenannten Legalitätsgrundsatz meinte? Nehmen wir einmal an: Eine kriminelle Vereinigung aus Berlin sendet dem Generalbundesanwalt verschlüsselte E-mails, in denen sie ihm für den Fall, dass er die Ermittlungen gegen einen der ihren nicht sofort einstellt, damit droht, er werde die längste Zeit Generalbundesanwalt gewesen sein. Was meinen Sie, würde der GBA jetzt tun? Würde er eine Pressekonferenz anberaumen und darüber weinen, dass man seine „Unabhängigkeit“ verletze?

Könnte es also vielleicht sein, dass der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen (zumindest beim selbst für richtig gehaltenen Namen), hier sehr langsam wuchs und sich erst Bahn brach, als die Koffer schon vor die Tür gestellt waren? Anders gefragt: Wie viel von den Strafbarkeitserwägungen (gegen den Minister und die Staatssekretärin) hat der Herr GBA in jenen Gesprächen mit dem BMJ wohl vorgetragen, in denen er angeblich genötigt wurde? Und warum hatte er sie bei seiner Presseerklärung plötzlich wieder vergessen? Ich rieche, ich rieche, ich rieche Menschenfleisch, sprach der Riese im Märchen. Er meinte: Angstschweiß.

Staatsanwälte und Generalbundesanwälte „haben Anweisungen nachzukommen“. Punkt. Nun wird in der Praxis der Justiz – ebenso wie überall sonst im Arbeitsleben – nicht jede „Anweisung“ ausdrücklich so genannt. Und im Verhältnis zwischen den Justizministerien und den Staatsanwaltschaften werden ausdrückliche „Weisungen“ möglichst vermieden. Unter den – dem Bürger kaum vorstellbar – vielen Vorgängen, die bei den Staatsanwaltschaften und den Generalstaatsanwaltschaften zusammenlaufen, sind nur ganz wenige, die das Zeug zur „Berichtssache“ haben (also „nach oben“ durchberichtet werden müssen). Und darunter sind wiederum nur ganz wenige, in denen von oben nach unten „Absichtsberichte“ angefordert werden, also „Ankündigungen/Vorschläge“, wie verfahren werden soll (im Gegensatz zu „Ergebnisberichten“ nach Abschluss der Sache). In diesen seltenen Fällen gibt es oft – aber mitnichten immer – „Empfehlungen“, „Überlegungen“ und „Anregungen“. Das ist nicht ansatzweise so anrüchig, wie es klingt und in Veröffentlichungen angedeutet wird. Die Entscheidungen in Einzelfällen sollen möglichst weit unten, nicht in Leitungsebenen und schon gar nicht „politisch“ getroffen werden. Die Entscheidungen bleiben regelmäßig auf der entsprechenden „Ebene“, und die Fachebene endet spätestens beim (beamteten) Staatssekretär. Ein (Bundes)Ministerium funktioniert nicht wie die Schwarzwaldklinik.

Was will ich damit sagen? Die Staatsverwaltung ist nicht so schwierig, wie gerne erzählt wird. Sie ist rational, hierarchisch, nachvollziehbar. Erst recht ist sie nicht so fehlerhaft und dumm, wie manche Journalisten behaupten, die oft nur zu einfältig oder zu faul sind, sich kundig zu machen. Ich kenne Redakteure angeblich bedeutender Medien, die eindeutig zu unintelligent oder zu ungebildet sind, um über halbwegs schwierige Rechtsfragen korrekt zu berichten, geschweige denn, sie fachkundig zu beurteilen, dies aber dennoch tagein, tagaus tun. Und bei dieser Aussage habe ich die Eitelkeiten des Richter- und Juristenberufs bereits abgezogen.

Ein erträglicher Mut…

Wer hat wann wovon gewusst? Nimmt der Druck weiter zu? Was hat wer wann gesagt? Wer muss als nächster gehen? Dies sind die Fragen, die seit zwei Wochen ventiliert werden. Und jede Redaktion verfügt, wer hätte es gedacht, über Spezialisten für Staatsschutzfragen.

Schon tauchen in den Morgeninterviews der Nachrichtensender erste schlaflose Gewerkschafterinnen und Kleriker auf, die behaupten, es müsse nunmehr „Ruhe einkehren“. Die zurückgetretene Politikerin Herta Däubler-Gmelin soll geäußert haben, es sei nun alles wieder gut; die Abgeordnete Eva Högel, gewesene Ministerialrätin im Bundesarbeitsministerium, fügte hinzu, es sei jetzt genug geredet und geschrieben. Danke, Politikerinnen, auch im Namen des Vereins der Bundesrichter!

„Unerträglich“ ist das Wegducken der Verantwortlichen

Verschiedenste weitere Abgeordnete, für und gegen und wo auch immer, teilten verschiedenen Sendern mit, all die erstatteten Strafanzeigen gegen den Bundesjustizminister Maas seien „lächerlich“, „abwegig“, „haltlos“ und also – der reine Witz. Auch dort geht die Zahl der Strafrechtsspezialisten aus dem Stand ins Unendliche. Die FAZ tritt eine ganze Seite lang gegen den Verfassungsschutzpräsidenten nach. Dann steigt wieder Sommerhitze empor.

Was ist Pressefreiheit? Haben Sie, liebe Redakteure und Redakteurinnen, schon einmal wirklich darüber nachgedacht, jenseits der im Halbstunden-Rhythmus upgedateten Alles-Wisserei? Haben Sie nicht bemerkt, dass Ihnen, je schneller Sie werden, desto weniger Menschen glauben? Bemerken Sie nicht, liebe Absolventen der Springer- und der Nannen-Schule, liebe Medienkunst-Sportreporter, „Quereinsteiger“, Lebenskünstler und Alles-schreiben-Könner, dass Sie mit all Ihren Träumen vom Journalismus in einem Spiel mitwirken, das mitunter ein übles ist?

Wer hat über die „Schranken“ der Pressefreiheit im Sinn von Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz zu bestimmen? Wo hätte die Presse selbst gern ihre Grenze? Meinen Journalisten ernsthaft, dass gerade sie darüber zu befinden hätten, wo die Grenze der Legalität verläuft, für die eigene und die fremde Meinung?

„Politik“: Was ist damit gemeint? „Beruf“ im Sinne Max Webers? Ein Listenplatz für verdiente Gremien-Sitzer? Oder die glitzernde Macht des Herrn Ministers, der einherschreitet zwischen gepanzertem Audi A8 und „Leitungsbereich“. Der Sprechzettel auswendig lernt und um Gottes willen keine Fehler machen darf, obwohl Fehler das notwendige Element jedes inhaltlich bedeutenden Verhaltens sind?

„Unerträglich“ ist das Wegducken der Verantwortlichen nach außen unter gleichzeitiger Demonstration ihrer Großmächtigkeit nach innen. Das Kasperle-Theater um drei verschiedene „Gutachten“, welche die Jahrhundert-Frage klären sollen, ob es sich beim (Teil)Organisationsplan des Bundesamts für Verfassungsschutz um ein Staatsgeheimnis im Sinne von Paragraf 93 StGB handelt, ist von kaum zu überbietender Absurdität. Denn 100 Prozent der Sachverständigen, die sich zu diesen Gutachten öffentlich äußern, kennen deren Inhalt nicht. Und das Bundesministerium weiß nicht genau, ob es das Ergebnis des vom zuständigen (!) Staatsanwalt eingeholten Gutachtens kannte oder erahnte (!), welches es zurückzuziehen befahl oder (!) anregte, um es durch ein selbst in Auftrag gegebenes zu ersetzen.

Können all diese Augen lügen? Wir meinen: Ja.

Wenn der Generalbundesanwalt eine nach seiner Ansicht rechtswidrige und fachlich falsche „Weisung“ erhielt, deren Befolgung ihn gar in die Gefahr der Strafbarkeit bringen konnte: Wann und wie hat er von seinem Recht und seiner Pflicht zur Remonstration Gebrauch gemacht?

Ein weisungsabhängiger Beamter ist gemäß Paragraf 63 Absatz 2 Bundesbeamtengesetz verpflichtet, Anweisungen seines Vorgesetzten auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Wenn er diese für nicht gegeben hält, muss (!) er (möglichst förmlich) eine Gegenvorstellung erheben. Erst wenn die oberste Dienstbehörde auf ihrer Weisung besteht, muss der Beamte sie ausführen, es sei denn, die Ausführung wäre eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Der Beamte muss also seine Rechtsansicht deutlich machen. Auf sein Verlangen müssen (!) die Anordnung und die Bestätigung der Anordnung schriftlich verfasst werden (Paragraf 63 Abs. 2 Satz 3 Bundesbeamtengesetz).

Wie ist der Generalbundesanwalt dieser Pflicht nachgekommen? Und wenn nicht: Warum nicht? Nachträgliche Pressekonferenzen und Wichtig-wichtig-Verlautbarungen zählen nicht zum Repertoire der Remonstration.

Der Generalbundesanwalt Range hat öffentlich bekundet, er habe eine rechtswidrige, „unerträgliche“ Weisung erhalten. Er hat sie offenbar gleichwohl – und obwohl er dies für strafbar hielt (Range, in der FAZ am 6. August: „Ich wollte aufrecht durchs Tor gehen, um mich nicht strafbar zu machen“!) – befolgt und entgegen Paragraf 63 Bundesbeamtengesetz pflichtwidrig nicht auf Klärung der Frage bestanden, ob eine „Weisung“ überhaupt vorliege. Schon das ist nicht nachzuvollziehen.

Der angebliche Weisungsgeber (das zuständige Ministerium) bestreitet überdies alles: Man habe sich im Gespräch auf eine bestimmte Verfahrensweise geeinigt, von einer „Weisung“ könne keine Rede sein. Was soll das? Lügt ein Generalbundesanwalt die Bürger offen an? Lügt der Bundesjustizminister in sinnlosen Einzelheiten, aus purer Angst vor der öffentlichen Meinung ? Das kann, verehrte höchste Repräsentanten der Staatsmacht, nicht Ihr Ernst sein.

Wenn es aber die eine Behauptung gibt und die andere, oder beides gleichermaßen, dann muss (!) es für beide Nachweise und schriftliche Spuren geben. Wenn es die nicht gäbe, wäre allein dies ein Skandal: Denn warum, außer aus rechtsstaatsfernen Gründen, sollten der Generalbundesanwalt und sein Minister es vermeiden, Vorgänge, die beide für evident bedeutend halten, auf einer Ebene der „Unbeweisbarkeit“ zu halten?

Bevor wir es vergessen: Wie war das bei der neulich auf unerklärliche Weise beim Generalbundesanwalt versickerten Frage, ob ausländische Mächte gegen die und auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland mit geheimdienstlichen Methoden Staats- und Wirtschaftsgeheimnisse ausspähen? War diese Frage – zugegeben: Sie war nicht ansatzweise so wichtig wie die Frage, ob gegen zwei Internetblogger bei Anfangsverdacht ein Ermittlungsverfahren erlaubt sein darf – eigentlich auch einmal eine Besprechung wert zwischen dem Generalbundesanwalt und seiner vorgesetzten Dienstbehörde? Meine Prognose geht gegen 100 Prozent: Denn vieles ist möglich, nicht aber, dass die blitzschnellen Erklärungen des Generalbundesanwalts Range bezüglich der vollständigen Unbeweisbarkeit aller Vorwürfe ohne „Abstimmung“ zustande kamen.

Danach tut sich bei mir allerdings eine Gedächtnislücke auf: Die Pressekonferenz des GBA Range über die „unerträglichen Einmischungen“ der Politik in seine Vorprüfungsverfahren gegen Unbekannt wegen Agententätigkeit habe ich scheinbar verpasst – oder? Auch Forderungen des Vereins der Bundesrichter und Bundesanwälte, gefälligst sorgfältiger gegen die Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik durch vorgebliche „Freunde“ aus den USA zu ermitteln, einschließlich denkbarer Strafanzeigen, habe ich möglicherweise übersehen.

Im Gegenteil: Wann immer, so mein Eindruck, an den Tischen der bundesgerichtshöflichen Kollegenschaft das Akronym „NSA“ fiel und das Wort „Generalbundesanwalt“ und der Begriff „Legalität“, senkten sich die Köpfe rasch über die Salatsauce und die Fusilli siciliana. Und wenn drei Richter aus einem Strafsenat (also eine Minderheit von einem Zwölftel der allerobersten Rechtsstaatsfreunde) öffentlich meinen, die Praxis der Revision sei unverantwortlich geworden, weil die Politik seit 25 Jahren die notwendigen Ressourcen verweigere, ist ein Hinweis auf die ewig unüberwindliche Macht das bei Weitem Freundlichste, was man erleben darf.

Helden, wohin man blickt
… und eine unerträgliche Feigheit

Der Herr Bundesminister der Justiz hat, da möchte der Kolumnist wetten, in der Sache Netzpolitik.org mit dem Herrn Generalbundesanwalt a.D. nie direkt gesprochen. Es sprachen eine Staatssekretärin – die deshalb inzwischen von der höchsten Strafverfolgungsbehörde der Republik der Nötigung beschuldigt wird, dies aber abstreitet –; es sprachen Referate mit Referaten, und Referatsleiter legten Vermerke vor, welche von Unterabteilungsleitern zu Abteilungsleitern und von dort ins Vorzimmer des Allerhöchsten getragen wurden. Von ferne grüßen die „Spiegelreferate“ im Kanzleramt. Dort sitzt für jeden guten Fach-Ministerialen ein noch besserer Oberfach-Ministerialer, der nicht nur vieles, sondern alles weiß.

Der erfahrene Spitzenbeamte achtet darauf, dass sich in jedem seiner Vermerke ein Abschnitt „andererseits“ findet: Für den Fall, dass die Sache in die Hose geht. Je nach Temperament und Stallgeruch wird das „Andererseits“ nach oben weitergereicht. Wer als Staatssekretär zweimal das falsche Andererseits durchlässt oder das richtige nicht erkennt, darf gehen: Es fehlt das notwendige politische Gespür.

Vor wem fürchten sich all diese Menschen? Was könnte Ihnen eigentlich passieren? Das sind komplizierte Fragen, die teilweise mit dem Staatsrecht, teilweise aber auch bloß mit dem persönlichen Standing zu tun haben. Am Ende sind sie eingebettet in die „Verfassung“ unseres Staats: Damit meine ich nicht dessen gesetzliche Grundlage, sondern seine soziale, seine „Verfassung in Aktion“.

Das führt mich an den Anfang zurück: Was ist „Staatsmacht“, was ist „Pressefreiheit“, was „Verhältnismäßigkeit“? Mit kommt es vor, als ob „die Presse“, in welcher Form auch immer, eine absurde Macht über die Definition der Wirklichkeit und Wahrheit erlangt habe, in demselben Maß, in welchem ihre Glaubwürdigkeit und soziale Verbundenheit mit dem Bürger schwindet. Das Bild der Wirklichkeit ist eine wichtigere Nachricht als die Wirklichkeit selbst. Journalisten, deren intellektuelle Fähigkeiten und Fachkenntnisse gerade eben zum Zubinden der Schuhe und zum Auftragen von Mascara ausreichen, erklären Hunderttausenden von Medien-Konsumenten die Welt (wie sie ihnen oder ihren Marionettenspielern gefällt). Jede Kritik daran gilt als Angriff auf die Wahrheit. Jeder Bild-Reporter ist ein Freiheitskämpfer, und jeder Schnösel aus dem „Vermischten“ ein legitimer Nachfolger von Karl Kraus. Vom Recht und seinen Darstellungen wollen wir gar nicht sprechen.

Was bleibt

Der Generalbundesanwalt hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet gegen Unbekannt wegen Landesverrats (oder Geheimnisverrats). Grundlage ist eine Strafanzeige einer obersten Bundesbehörde. Diese hat eine gutachtliche Stellungnahme beigefügt zur Beurteilung eines (schwierigen) Tatbestandsmerkmals. Darf man fragen, was daran „skandalös“ sein soll? Darf man die Frage, „wer davon wann gewusst hat“, als eine unverschämte, wichtigtuerische Einmischung bezeichnen? Darf man die aus den Kulissen hervorschießenden Rechtsexperten der Parteien – meist irgendwelche früher Rechtsanwalt gewesenen Spezialisten für das ganz Allgemeine beim Amtsgericht Irgendwo – einmal fragen, wo und wann sie ihre Spezialkenntnisse des Staatsschutzrechts erworben haben? Oder des Dienstrechts? Oder des Presserechts?

Die Sache selbst wird, da habe ich keinen Zweifel, zu einem richtigen Ende geführt werden. Das Ermittlungsverfahren wurde am 10. August eingestellt, da der Tatverdacht sich nicht bestätigt habe (Paragraf 170 Abs. 2 Strafprozessordnung). Der Bürger ist begeistert: Freiheit für die Presse!

Diese Sache wird dennoch vieles beschädigt zurücklassen: Ein Bundesministerium, das beim Feldgeschrei einer abgedreht hysterisierten Presse einknickte wie ein welker Halm, aus lauter Angst, es sich mit der „öffentlichen Meinung“ zu verderben. Einen obersten Strafverfolger der Republik, der dahinschwankte und im Nebel verschwand. Einen Verein der Bundesrichter, der das Maul aufreißt, wo es nichts (mehr) kostet, und untertänig klatscht, wenn ihm befohlen wird, das Recht für 80 Millionen Bürger mit derselben Personalstärke zu vollziehen wie für 60 Millionen Bürger – und halt einfach ein bisschen oberflächlicher zu arbeiten. Helden, wohin man blickt.