Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Skandale wie der um Gustl Mollath sind nützlich, weil sie uns zwingen, immer wieder über die Fundamente des Strafrechts nachzudenken

Von Thomas Fischer
22. August 2013, 8:00 Uhr / Editiert am 29. August 2013, 3:31 Uhr DIE ZEIT Nr. 35/2013

Das Gegenteil von Sicherheit ist Gefahr. Unsere Welt ist voll von Gefahren, nicht nur für Leib und Leben, sondern auch für Eigentum, Vermögen, Selbstbestimmung. Je unermesslicher die Großgefahren für den Planeten, desto sensibler werden wir für die Bedrohungen unserer Rechtsgüter. Ihnen drohen Gefahren vor allem vom Mitbürger. Wir verstehen ihn, denn er will, was wir wollen. Strafe ist daher Korrektur: Ausgrenzung, Vergeltung, Abschreckung. Aber auch Absolution.

Zwischen dem Wahnsinn und der Straftat hat man lange nicht unterschieden. Vom 17. Jahrhundert an entstanden „Zucht- und Tollhäuser“, in welche man Verbrecher und Irre, Bettler, Dirnen und Außenseiter sperrte, auf dass sie zur Vernunft kämen: durch Arbeit, Einsamkeit und allerlei Therapie, die sich von Folter nicht unterschied. Wer nicht vernünftig werden wollte, blieb eben bis zum Tode.

Dass Wahnsinn und Schuld nicht dasselbe seien, ist eine Idee vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie setzt ein Bild des Menschen voraus, das wesentlich auf das Postulat der Entscheidungsfreiheit gestützt ist: Straftäter entscheiden sich frei für oder gegen ihre Tat. „Wahnsinnige“ können dies nicht: Sie begehen Taten, weil sie „verrückt“ sind. Den Menschen in seiner Würde anzuerkennen setzt voraus, ihn für vernünftig zu halten. In diesem Konzept sind die Ursachen der Regelabweichung streng geschieden, deshalb müssen es auch die Folgen sein.

Schuld muss man bestrafen. Wahnsinn kann man nicht bestrafen, seine Folgen sind Schicksal. Die Gefährlichkeit des Schuldigen bekämpft man, indem man seine Handlungsmotive korrigiert, die des Wahnsinnigen, indem man ihm die Möglichkeit selbstbestimmter Handlungsmotivation verschafft. Dies ist der Grundgedanke der sogenannten Zweispurigkeit des Strafrechts, deren aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee in Deutschland 1933 im Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher umgesetzt wurde.

Dem totalitären Staatsverständnis dieser Jahre kam die Vorstellung einer von bestimmbarer „Schuld“ freien Gefahrenbekämpfung durch „Besserung und/oder Sicherung“ sehr entgegen. Denn Therapie kennt – wie die Krankheit, die sie heilen soll – aus sich selbst heraus keine Grenzen. Sie ist angewandte Naturwissenschaft, daher von Natur aus totalitär. Sie will – wenn man sie lässt – den Menschen stets ganz und gar: verstehen, rationalisieren, heilen. Soll sie begrenzt werden, kann dies nur von außen, durch rechtliche Regeln und Kontrolle, geschehen.

Dies ist, vereinfacht, der Hintergrund der Anordnung von „Maßregeln“, namentlich solchen, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, in einem psychiatrischen Krankenhaus und in der Sicherungsverwahrung. Maßregeln sind konzeptionell das Gegenteil von Strafe: Sie setzen nicht Schuld voraus, sondern (nur) Gefahr. Wer vom rechtsstaatlich-strafrechtlichen Denken herkommt – Strafrichter, Staatsanwälte und Strafverteidiger –, tut sich schwer damit, das Übel solcher Maßnahmen zu erkennen: Wo keine „Schuld“ ist, beginnt in diesem Denken der blaue Himmel der puren Wohltat.

Ein Sonderfall ist die Sicherungsverwahrung. Über sie ist in den letzten Jahren viel diskutiert, geschrieben, entschieden worden. Kürzlich hat der Gesetzgeber sie wiederum neu konzipiert. Sie ist der dunkle Keller des rechtsstaatlichen Strafrechts. Sie gründet auf der Idee, dem Menschen könne ein „Hang“ zu Straftaten innewohnen wie eine Krankheit. Man muss nicht schuldig sein, um in die (grundsätzlich lebenslange) Sicherungsverwahrung eingewiesen zu werden – bloß gefährlich. Als unter der Gürtner/Freisler-Kommission im Jahre 1935 das zukünftige NS-Strafrecht konzipiert wurde, war man sich einig, dass es – schon immer – Menschen gebe, die einen solchen Hang haben. Die deutschen Richter aber, so meinte man damals, würden sich (leider) nicht bewegen lassen, wegen Bagatelltaten endlose Strafen zu verhängen. Deshalb (!) erfand man den „Hang“ als angeblich schuldunabhängige Persönlichkeitskonstellation. Von nun an wurden die Gewohnheitstäter nicht mehr bestraft, sondern im Interesse der allgemeinen Sicherheit verwahrt, bis sich ihr „Hang“ durch Abstumpfung und Alter „besserte“. Oder bis sie starben.

Anders, so die Theorie, geht es im psychiatrischen Krankenhaus zu. Hier wird Krankheit geheilt, Therapie betrieben, Leiden gemindert und die Gefährlichkeit bekämpft, die aus jener Krankheit der Seele entstanden ist. Wer einmal mit einem Fall zu tun hatte, in dem ein wahnkranker, jeder Ansprache unzugänglicher Mensch einen anderen massakrierte, weil er ihn für den Teufel hielt, wird an der Notwendigkeit keinen Zweifel haben. Wer aber die Akte über einen Dieb liest, der seit 15 Jahren „geheilt“ wird, obgleich seine gesunden Mittäter nach zwei Jahren Freiheitsstrafe aus dem Gefängnis entlassen wurden, wird erhebliche Zweifel haben. Dazwischen spannt sich der Bogen der gerechten und ungerechten Entscheidungen, des Elends und der Verantwortung.

Strafrichter und Staatsanwälte erfahren vom Wahn und von der Persönlichkeitsstörung während ihrer gesamten, acht Jahre dauernden Ausbildung: nichts. Man erklärt ihnen im ersten Semester, Schuld sei Voraussetzung der Strafe. Jenseits dessen beginnt die Finsternis, der Wahnsinn bleibt hinter einem Vorhang des Unverständnisses verborgen wie King Kongs Urwald hinter dem hölzernen Wall.

Seit hundert Jahren streitet man darüber, wo Schuld endet und Unvernunft beginnt. Einfach scheint es zu sein, wo der Augenschein waltet: Drei Komma null Promille Alkohol können, so weiß unsere Alkoholikergesellschaft, aus dem Bürger ein Tier machen. Und wer sich lauthals über Strahlen und Stimmen beschwert, die ihm das Handeln vorschreiben, löst Irritation oder Angst aus, nicht Strafbedürfnis.

Aber wo verlaufen die Grenzen, wenn es nicht ums Offenkundige geht? Richter lesen „Diagnose-Manuals“ und „vereinfachte“ Übersichten von Fachleuten der Psycho-Wissenschaft. Die wichtigsten Fragen kommen darin nicht vor, denn die Antworten auf sie sind Geschäftsgrundlage: die nach Fragwürdigkeit, Durchlässigkeit und Veränderlichkeit der normativen Grenzen. Trotzdem wird man kaum so viel Selbstgewissheit finden wie bei Strafrichtern im Hinblick auf die fremden Wissensgebiete der Psychiatrie und Psychologie. Schon dem 35-jährigen Amtsrichter gehen Diagnosen flott von den Lippen: Borderliner, Persönlichkeitsakzentuierter, Histrioniker! Beim Schwurgericht weiß man viel über das „Vorgestalten“ des Affekttäters und seinen „rechtwinkligen“ Tatimpuls. So viel Selbstgewissheit hat oft keine Grundlage, sie ist vermutlich auch Angst vor der Selbstentlarvung. Von hundert Strafrichtern hat – vielleicht – einer einmal eine psychiatrische Klinik von innen gesehen. Sie wissen nichts über Medikamente und Therapieformen oder über Techniken psychiatrischer Exploration.

Es ist wahr, man kann nicht alles wissen. Für die Erkundung des dunklen Urwalds haben wir die Sachverständigen. Sie sagen uns, was Wahnsinn ist und was Vernunft, wer „schuldfähig“ ist oder nicht oder nur ein bisschen. Sie bieten diese Differenzierungen an und evaluieren sie selbst. Auf der Grundlage ihrer Diagnosen erstellen sie – im Auftrag der Gerichte – Gefährlichkeitsprognosen: Was wird dieser Mensch in fünf Jahren tun oder in zehn? Ehrlicherweise müsste man sagen: Das kann niemand wissen. Jede Gefahrenprognose ist nicht allein eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines Schadens, sondern zugleich und vor allem eine Aussage über die Schwelle unserer Angst. Diese verändert sich laufend. Die Narren, die vor zweihundert Jahren hinter den Kutschen herliefen oder in den Gassen lärmten, sind heute allesamt sicher verwahrt.

Die Strafjustiz hat die Sachverständigen, die sie braucht. Wem sich die Welt nicht teilt in Schuld und Unschuld, in Krankheit und Gesundheit, ist für die Strafjustiz nicht brauchbar. Er gilt als fremd und inkompatibel, oder als Befürworter einer Aufweichung des Strafrechts: Wenn sich alle entschuldigen könnten mit den Traumata ihrer Kindheit oder den Unzulänglichkeiten ihrer Gehirnareale, wären sie doch am Ende wie wir selbst. Oder wir wie sie! Dann müssten wir vielleicht Gefahrenprognosen über uns selbst anstellen, auf der Basis von Internetverhalten oder Arztberichten.

Strafgerichte sind in hohem Maß von (psychiatrischen) Sachverständigen abhängig. Das ist so unvermeidlich wie problematisch. Denn im Rechtsstaat haben Richter über den Entzug der Freiheit zu entscheiden, nicht Ärzte, Ingenieure oder Informatiker: weil allein sie dazu legitimiert sind. Darin liegt ein außerordentlich hohes Maß an Vertrauen. Richter müssen sich dieses Vertrauens würdig erweisen. Sie müssen die dunklen Ecken kennen und das schlechte Gewissen des Rechtsstaats erleiden und im Zweifel für den Menschen und für die Freiheit entscheiden. Sie müssten endlich tatsächliche Kenntnisse erwerben über die Wirklichkeit der „Maßregeln“. Und sie müssen es aushalten, die Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen. Das ist leicht gesagt, doch schwer getan. Aber wer sonst sollte es tun? Psychiatrische und psychologische Sachverständige sind: selbstgewiss, kompetenzüberschreitend, unbescheiden. Das gilt selbstverständlich nicht dem Einzelnen, sondern dem Prinzip. Wer alles weiß und darf, hat keinen Grund zur Bescheidenheit. Schon hierin könnte ein Teil der Abhilfe liegen: Gegenseitige Abhängigkeit von unsicherem Gericht und unsicherem Sachverständigen ist ein Übel, das unmittelbar und unweigerlich zulasten der Betroffenen geht. Dem Übel könnten nur gegenseitige kritische Aufmerksamkeit und Distanz abhelfen. Spektakuläre Einzelfälle wie der Fall Mollath – wie immer man sie beurteilen mag – sind nicht wegen ihres Neuigkeitswertes bedeutend, sondern weil sie den Blick auf die Grundlagen und die Regeln lenken können. Für Fehler sind Schuldige schnell gefunden. Für die Regeln sind wir alle verantwortlich.