Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Das Verfassungsgericht hat die Praxis des Geständnishandels abgesegnet. Damit geht Macht vor Gesetz

Von Thomas Fischer
27. März 2013, 7:00 Uhr DIE ZEIT Nr. 14/2013

Am 19. März 2013 ist die deutsche Strafrechtspflege leider nicht gerettet worden. An diesem Tag hat der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts sein Urteil über die gesetzliche Regelung des sogenannten Deals im Strafprozess und dessen praktische Handhabung verkündet. Furchterregend waren zuvor die Backen aufgeblasen worden: Juristen hatten Sorge, ihre Urteilsabsprachen könnten mit den Schuldsprüchen in Bananenrepubliken gleichgesetzt werden. Politiker fürchteten, der preisgünstige Deal könne wieder abgeschafft werden und die Justiz am Ende zusätzliche Mittel benötigen (sagen wir: etwa zwei Prozent der im All verstreuten Hilfen für die leidende Finanzwirtschaft), um wieder Herrin ihrer Verfahren zu werden. Die Sorgen waren unnötig: Der Deal bleibt. Nun wird aus verschiedenen Richtungen auf das Bundesverfassungsgericht geschimpft. Das ist wohlfeil und ungerecht. Das Gericht hatte eine kaum lösbare Aufgabe.

Seit August 2009 ist die Abspracheregelung in Kraft. Das vielfach kritisierte Gesetz legalisierte eine spezielle Form der Abkürzung des Strafverfahrens: Richter, Staatsanwälte und Verteidiger dürfen auch bei schweren Delikten das Ergebnis des Strafprozesses außerhalb der Öffentlichkeit absprechen. Das Gericht darf dem Angeklagten die zu erwartende Strafe vorab zusagen – vorausgesetzt, er legt ein Geständnis ab. Das spart eine Beweisaufnahme. Die Zulässigkeit dieses Verfahrens ist, damit ein Rest von Kontrollmöglichkeit bleibt, an die Einhaltung strenger Formvorschriften gebunden. So weit die Theorie. Schön – oder zumindest beruhigend – wäre, wenn die Praxis ihr entspräche. Das ist nicht der Fall.

Dem Bundesverfassungsgericht lag ein Gutachten vor, nach dessen repräsentativem (vermutlich noch viel zu optimistischem) Ergebnis sich eine große Zahl der deutschen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte weder an die alte Strafprozessordnung noch an das neue Absprachegesetz halten, sondern ihre Prozesse nach Dealregeln führen, die ihnen selbst belieben. Dass es so kommen würde, wusste man schon 2009, man wollte es aber nicht wissen. Die Beteiligten umgehen das neue Gesetz wie zuvor das alte und lachen bei sich über die »Weltfremdheit« der Kritiker. Das Bundesverfassungsgericht hat sie nun gebeten, sie möchten sich doch bitte an das Gesetz halten. Nachsatz: Dies sei jetzt aber wirklich ernst gemeint. Heiterkeit!

Johann Paul Anselm Feuerbach, einer der Begründer des modernen Strafprozesses, schrieb im Jahre 1816: »Von der Justiz wurde nur schnelle Arbeit gefordert. Mit schnellem Hudeln und Sudeln war allein Lob zu verdienen. Und als die würdigste, wichtigste Funktion der Justiz galten Stöße von Tabellen, welche sie über ihre Fabrikate anzufertigen hatte.« Er meinte damit die vornapoleonische Zeit. Die Zeiten ändern sich, das Hudeln und Sudeln hält an. Dabei sind, in den Augen der Gesellschaft, die Aufgaben der Strafjustiz ins Unermessliche gewachsen. Sie soll die Geschichte ganzer Staaten »aufarbeiten«, verhindern, dass der Kapitalismus sich so entwickelt, wie er muss, sie soll verrohte Menschen davon abhalten, Schwächere totzutreten, Opfern von Straftaten ihre Würde zurückgeben und die der Täter erhalten, sie soll die Jugend vor dem Drogenelend, die Doppelhaushälften vor Diebesbanden, die Aktionäre vor Managern und den deutschen Sport vor Doping beschützen. Und immer soll sie eines produzieren: Gerechtigkeit.

Mit der ist es, wie wir wissen, so eine Sache. Um der Gerechtigkeit willen wurde das Recht gebeugt, wurden Morde begangen, Volksgruppen massakriert, Hexen verbrannt. Was die weltweite Strafjustiz in den letzten hundert Jahren an Verbrechen begangen hat, tat sie vor allem, um der jeweiligen »Gerechtigkeit« zum Sieg zu verhelfen. All diesen Erfahrungen zum Trotz hat das Volk sich eine vertrackte Liebe zur Gerechtigkeit bewahrt, zur schnellen und anstrengungslosen allzumal. Es träumt von Tribunalen, nicht von Beweisverwertungsverboten. Vor diesem Traum hat das wirkliche Recht schlechte Karten: Es taugt meist nur für Scherze über seine angebliche Unverständlichkeit, für die zynische Daumier-Karikatur in der Rechtsanwaltskanzlei und fürs »Vermischte« auf der Lokalseite.

Weil die Hoffnung auf Wahrheit und Gerechtigkeit durch spontane Offenkundigkeit der Erkenntnis ein Irrglaube ist, der viele Menschen das Leben kostete, wollen wir keine Priester, Seher oder Zeichendeuter mehr als Richter haben. In seiner heutigen Gestalt beschreibt das Strafprozessrecht einen vom Demokratiegedanken und von der Kontradiktion getragenen Prozess der Wahrheitssuche: Ergebnis eines jahrhundertelangen Lernprozesses – ein bedeutender Erfolg unserer Kultur. Seine Formenstrenge hat die Aufgabe, den Bürger vor dem maßlosen Zugriff des Staates – um irgendwelcher, auch gut gemeinter Ziele willen – zu schützen. Wer den Prozess zerstört, zerstört das Recht.

Wer einer Straftat beschuldigt wird, darf schweigen oder die Tat bestreiten. Er hat das Recht auf einen Verteidiger, der ausschließlich seine und nicht heimlich die Interessen der Justiz vertritt. Er hat das Recht, Zeugen zu benennen und gegen ihn sprechende Beweise zu prüfen. Diese Rechte hat er unabhängig davon, ob Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht dies für »sinnvoll« halten oder für Zeitverschwendung, unabhängig davon, ob er dem Richter sympathisch ist, ob er sich reuig und unterwürfig zeigt oder als harter Hund geriert.

Erstaunlich viele Bürger denken, diese Rechte seien nur für die Guten da (also vor allem für sie selbst), nicht aber für die Bösen. Sie wissen schon beim Frühstück, ob Kachelmann schuldig und Ackermann unschuldig ist, kennen die richtige Strafe für U-Bahn-Schläger und die passende Entschädigung für Missbrauchsopfer. Wenn man so denkt, kann man am Deal nichts Schädliches finden, außer dass einem vielleicht die Strafen ein wenig zu niedrig erscheinen. Hier zählt nicht die Form, sondern allein das »passende« Ergebnis.

In den sechziger und siebziger Jahren wurde erstmals ernsthaft gefragt, warum das Strafrecht nur die Dummen und Hoffnungslosen, Randständigen und Verlierer treffe: Waren nicht Korruption und Subventionsbetrug, Umweltzerstörung und Insidergeschäfte gleichermaßen asozial und kriminell? Seither hat sich viel geändert. Wir sind heute, nicht zuletzt unter dem Einfluss internationaler Entwicklungen, bei einem Strafrecht angelangt, das manche – mit bitterem Unterton – schon wieder »postmodern« nennen. Sie verstehen als Moderne des Strafrechts das Fundament eines vergangenen liberalen Rechtsstaats, als Postmoderne seinen (aktuellen) Verfallszustand zwischen Lagern für Sicherungsverwahrte und Gute-Laune-Deals.

Der Deal im Strafprozess sei, so behaupten seine Verfechter, eine Folge der Kompliziertheit des Rechts und der Verhältnisse, die es regelt. Das ist falsch: Der Deal ist nichts anderes als das Resultat unentschiedener Machtfragen. Das Strafrecht des Derivatehandels im Jahr 2013 ist nicht schwieriger als das des Lokomotivenhandels im Jahr 1913. Die Zurechnung von Gremienentscheidungen über Kreditverträge im Jahr 2006 ist nicht schwieriger als die von Gremienentscheidungen der 1956 verbotenen KPD. Die Fragen, die sich stellen, sind nicht so neu wie behauptet, nicht so weltbewegend wie bejammert, nicht so ungeklärt wie erhofft.

Es sind nicht vor allem die besonderen Schwierigkeiten des Wirtschafts- oder Betäubungsmittelstrafrechts, die den Deal im Strafprozess hervorgebracht haben. Die Auflösung der strengen Form des Prozesses entspricht vielmehr der (angeblichen) Auflösung der Grenzen von Interessen: Die auf Globalisierung fixierte Gesellschaft kennt – wie einst Wilhelm II. – »keine Parteien mehr«; kein schichtspezifisches, sondern nur noch Bürger- oder Feindstrafrecht, also bedingungslosen Konsens oder Ausgrenzung. Gewaltenteilung, konflikthafte Prozesse, Widerspenstigkeit erscheinen dem auf totale Lösungen abzielenden Zeitgeist hinderlich.

Ein großer Teil der Strafprozesse wird heute praktisch von der Polizei »geführt«, bei den überlasteten Staatsanwaltschaften durchgewinkt und von unterbesetzten Gerichten in Schnellverfahren in die Statistik verbracht. Was sollen uns da noch die überkommenen Formen der Gewaltenteilung? Wo als Leitbild der Gerechtigkeit der Tatort- Kommissar herrscht, der am Ende, mit welchen Mitteln auch immer, den Mörder zum Geständnis bringt, wird man auf Dauer vom Richter auch nicht viel mehr erwarten.

Die Geschichte der Absprache ist, vor allen Dingen, eine Schande der Justiz. Sie ging, wie alle Bürokratien, lange den Weg des geringsten Widerstands. Die Absprache »handelt« aus, was nicht ausgehandelt werden darf: Wahrheit, Schuld, Verantwortung. Weil wir uns doch alle kennen! Weil es schneller geht! Weil doch jeder weiß, was zuletzt herauskommt!

Die (berechtigte) Kritik an der unverständlichen Überbewertung des Geständnisses geht ins Leere, denn alle Prozessbeteiligten wissen, dass die Strafe nicht wegen einer durchs bloße Zugeben gemilderten Schuld um ein Drittel gesenkt wird, sondern als Belohnung für eine erfreuliche Arbeitsersparnis.

Wer – wie ich – vor vier Jahren in den Beratungen des Verständigungsgesetzes auf die Realität des Missbrauchs der Absprache hinwies, wurde gern als Nestbeschmutzer angesehen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat mit allen Legenden aufgeräumt: Mehr als die Hälfte derjenigen, die von Berufs wegen für die Einhaltung des Rechts verantwortlich sind, halten sich nicht an das Gesetz. Sie finden es unpraktisch und hinderlich. Rechtsbeugung, formuliert es der Bundesgerichtshof, ist der vorsätzliche Rechtsbruch nur, wenn er unvertretbar ist oder mit dem Ziel eines ungerechten Ergebnisses begangen wird. Viele meinen noch immer: Was 50 Prozent tun, kann subjektiv kaum unvertretbar sein, und mit dem Ziel der Ungerechtigkeit handelt niemand. Wenn sich die professionell Verantwortlichen zum gegenseitigen Nutzen darauf einigen, das Recht einfach nicht zu beachten, ist das Recht am Ende.

In den ersten Zeitungsinterviews mit Insidern lesen wir, es werde gewiss alles weitergehen wie zuvor. Ich halte das weder für vertretbar noch für wahrscheinlich. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss und wird Anlass geben, den Missständen mit den Mitteln des Rechts – disziplinarisch und strafrechtlich – mit Nachdruck entgegenzutreten.

Dass sich Richter und Staatsanwälte an das Gesetz halten, ist das Mindeste, was von ihnen erwartet werden kann und muss. Dass das Bundesverfassungsgericht sie »ernsthaft ermahnen« muss, ihre Pflicht zu tun, ist eine beispiellose Demaskierung gravierender Missstände in der Justiz; und es zeigt ein erhebliches Maß an Hilflosigkeit unseres obersten Gerichts. Die Fachgerichte und Staatsanwaltschaften selbst haben den Schlüssel in der Hand: Niemand sollte sich mehr rühmen dürfen, das Gesetz nicht zu beachten. Aber auch Strafverteidiger machen sich strafbar, wenn sie an Rechtsbeugungen oder an Falschbeurkundungen von Protokollen mitwirken.

Die wichtigste Frage geht an die Bürger selbst: Welche Art von Prozess möchten wir in Zukunft haben? Welche Stimmung wollen wir im Strafprozess unseres Rechtsstaats: die des Deals, also der »Gerechtigkeit« nach Maßgabe von gutem Willen, guten Beziehungen, prozessualem Drohpotenzial? Der Bürger hat am Ende die Strafjustiz, die er sich gefallen lässt.