Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Herr Seehofer übt Notwehr gegen Kanzlerin und Syrer, John Wayne gegen Indianer, Radfahrer gegen Autofahrer. Aber was ist das überhaupt – Notwehr?

20. Oktober 2015, 13:55 Uhr

Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, schon einmal Notwehr geleistet? Ich meine: So richtig? Das ist gar nicht so einfach. Denn bei der Notwehr handelt es sich nicht um einen Sachverhalt, den wir da draußen in der Welt einfach vorfinden wie Steine, Wetter oder schöne Frauen. Notwehr ist eine Deutung. Ganz erstaunlich viele – um nicht zu sagen: unendlich viele – Darstellungen von Notwehr sind daher halb falsch, ein erheblicher Anteil total falsch, manche aber auch richtig.

Im Grundsatz

Um zu verstehen, was unsere Rechtsordnung mit „Notwehr“ meint, muss man zunächst akzeptieren, dass es sich um einen Rechtsbegriff handelt. Die Rechtssprache muss präzise sein; das ist die Voraussetzung dafür, dass sie halbwegs dauerhaft und allgemein verständlich ist. Was heute „Kind“ heißt, darf nicht morgen „Jugendlicher“ heißen, was heute ein „Kraftfahrzeug“ ist, sollte es auch gestern gewesen sein und übermorgen bleiben.

Deshalb sind Worte aus der Rechtssprache gelegentlich „abstrakt“ oder hölzern. Sie meinen es nicht böse. Sie haben sich in bestimmte Gegenstände verkrallt wie der Kampfhahn in sein Gegenüber oder der Deutschnationale in seinen schönsten Kindertraum und möchten aus – meist irgendwie rationalen – Gründen daran festhalten. Wer „Pommes rot/weiß“ sagt, hat eine Vorstellung davon, was er zu speisen wünscht, und wenn der Wirt ihm offenbart, dass bei ihm die Frikadellen jetzt „Pommes“ heißen und der Senf „Majo“, führt das zu Problemen, die unser Mensch auf Pommes-rot/weiß-Suche lieber vermeiden möchte, insbesondere wenn er eine intellektuelle Reaktionsverzögerung hat, wie sie bei Deutschnationalen vorkommt.

Nun also eine Definition

Der Rechtsbegriff „Notwehr“ ist verständlich, wenn wir uns das System – oder sagen wir: die Konstruktion – von Strafvorschriften vergegenwärtigen:

1) Irgendeine aktive Handlung (oder Unterlassung) führt dazu, dass irgendein „Rechtsgut“ (oder sagen wir: „Schutzgut“) verletzt oder gefährdet wird. Das nennt man „Tatbestand“. A sticht B mit einer Hohlnadel in den Arm: Körperverletzung (Paragraph 223 Abs. 1 Strafgesetzbuch), denn es liegt eine „Misshandlung“ vor (Schmerz!) oder eine „Gesundheitsbeeinträchtigung“ (Haut-Verletzung).

Dass der Tatbestand eines Strafgesetzes vollendet wurde, ist ein Indiz dafür, dass die Sache strafbar sein könnte: Der Mensch darf nicht einfach seine Mitmenschen mit Hohlnadeln stechen. Wenn dem Beschuldigten A also zu seiner Verteidigung nichts Vernünftiges einfällt, wird er wegen vorsätzlicher Körperverletzung bestraft.

2) Nehmen aber wir an: A ist Internist, B ist sein Patient und bedarf einer dringenden Überprüfung seiner Blutfettwerte und hat deshalb A gebeten, ihm Blut abzunehmen. Dann sieht die Sache anders aus. Ergebnis: Die Einwilligung des B „rechtfertigt“ die Handlung des A; dieser ist nicht strafbar.

So etwas passiert uns im Alltagsleben oft: Der Busfahrer „nötigt“ uns, bis zur nächsten Haltestelle mitzufahren (Tatbestand) obwohl wir 300 Meter vorher aussteigen müssten. Aber er ist durch unsere Zustimmung zu den Geschäftsbedingungen gerechtfertigt, wonach der Bus nur an den vorgesehenen Stellen halten muss. Das Einverständnis ist also – meistens – ein Grund, aus dem ein Tatbestand gerechtfertigt sein kann. Rechtfertigungsgründe sind Umstände, die ein an sich strafbares, also in der Regel rechtswidriges Verhalten „rechtmäßig“ machen. Sie enthalten ein „Gegenrecht“, das stärker ist als das vom Staat postulierte Recht eines (abstrakten) Rechtsguts (zum Beispiel unverletzt zu bleiben).

3) Erst wenn auch diese Ebene der Prüfung zu Ungunsten des Täters ausgeht, wenn er also keinen (allgemeinen) Rechtfertigungsgrund geltend machen kann, kommt es auf die ganz persönliche „Schuld“ an: also etwa Vermeidbarkeit, Einschränkungen der Zurechnungsfähigkeit und so weiter.

Auch staatliche Gewalt muss ein menschliches Maß einhalten
Notwehr: Gegenrecht

Es gibt viele „Rechtfertigungsgründe“. Jeder ist anders strukturiert, jeder stellt auf eine andere Konfliktsituation ab. Die „Notwehr“ ist unter ihnen ein ganz spezieller Grund, er mobilisiert sozusagen ein „naturwüchsiges“ Recht der Selbsterhaltung gegen jeden überindividuellen, staatlichen Vorwurf ein Unrecht begangen zu haben. Mit der Berufung auf Notwehr setzt der Bürger dem Staat sein schärfstes Schwert entgegen: „Es geht dich, verehrte Staatsgewalt, nichts an, dass ich die Grenzen deiner Strafvorschriften verletzt habe. Denn ich habe ein stärkeres Recht, und das kommt aus mir selbst: Aus meinem Wert, meinem Selbst.“

Nun wäre der Staat nicht, was er ist, wenn er nicht am Anspruch eines „naturrechtlichen“ – also aus dem „Wesen“ des Menschen selbst entspringenden, vor-staatlichen – Gegenrechts herumnörgeln würde. Im Rechtsstaat, widerspricht er, ist alles bezogen auf die rechtliche Verfassung dieses Gewalt-Gefüges selbst, und niemand darf Rechte geltend machen, die ihren Ursprung außerhalb des Rechtsstaats haben und zu ihrer Durchsetzung hierauf bestehen. Also: Ein Befehl der Heiligen Jungfrau oder des Propheten Mohamed mag schön und gut sein, und er mag je nach individueller Disposition auch einer Straftat ein spezifisches Gepräge geben. Aber mit Recht und Unrecht im Staat hat das – vorerst einmal jedenfalls – nichts zu tun.

Die Anerkennung der Notwehr als „stärkerem“ Recht hat verschiedene Wurzeln: Zunächst die Scheu des Rechtsstaats gegenüber den grundlegenden, vitalen Interessen seiner Bürger: Leben, Unversehrtheit, Selbstbestimmung, Menschenwürde sind derart elementare Werte, dass die staatliche Gewalt nur unter Abstreifen aller legitimatorischer Hemmungen darüber hinwegkommt. Ein Staat der behauptet, sein Staats-Bürger sei buchstäblich nichts wert vor den Begründungen der Gewalt, hat kein langes Leben. Nicht einmal in Nordkorea traut man sich das heute noch zu sagen!

Dann gibt es anthropologisch-politische Wurzeln: Auch die staatliche Gewalt muss ein menschliches Maß einhalten, aller Propaganda zum Trotz. Mit der vollständigen Auflösung des Individuums in der nationalsozialistischen Todessehnsucht korrespondierte die kitschigste Verherrlichung des angeblich Privaten: Die Fahrt ging vom Christbaum direkt in die Hölle – aber eben auch nicht ohne ihn.

Was ich damit sagen will? Der Mensch, aus Eritrea oder Niederbayern, Benin oder Mecklenburg, hat eine Sehnsucht über das hinaus, was der Staat ihm gewährt, und eine Selbstbehauptungskraft, die sich aus der Erfahrung von einer Million Jahren und fünfzigtausend Rechtsordnungen speist, von denen eine ebenso „Geltung“ hatte wie die andere: Wer unmittelbar angegriffen wird, körperlich, bedrohend, „Rechtsguts“-verletzend, der wird sich zur Wehr setzen. Gewalt gegen Gewalt – egal was die Theoretiker der Rechtsdogmatik dazu lehren oder schön finden. Im Notwehrrecht finden wir daher, jenseits aller Verzerrungen und Verkitschungen, eine Spur der Verbundenheit mit unserer „Natur“.

High Noon

Ein Super-Aufreger des Bundesgerichtshofs im Jahr 2011 (2. Strafsenat, Aktenzeichen 2 StR 375/11 [lies: 375 aus 11]). Sachverhalt: Deutschland, sechs Uhr morgens. Es ist noch düster. Die Vögel zwitschern. Durch die Grünanlage schleichen heran: ein Staatsanwalt, ein Sondereinsatzkommando. Weiträumige Absicherung des Einsatzes durch Schutzpolizei.

Einsatzziel: Festnahme des Bürgers A: „Sergeant at Arms“ beim örtlichen Unterverein eines Clubs namens „Hell’s Angels“ (Höllenengel!). Supercool. Ehrenkodex: Nie mit der Polizei kooperieren. Im Inneren: Spießigkeit in reinster Form; Männerehre: Niemand fasst meine Frau an oder meinen Zylinderkopf! Man fährt den Zweizylinder aus Milwaukee; vorne der Road Captain (Navi unterm Wehrmachtshelm), es folgen „President“, „Sergeant at Arms“ und „Vize President“. Es gibt Members, Prospects, Supporters. Prospects müssen den Members jeden Gefallen tun (Auto Waschen, auf die Karre aufpassen, Frau bewachen, Zigaretten holen), und kriegen trotzdem eins aufs Maul, damit sie später wissen, wie schön es ist, mal nicht aufs Maul zu kriegen. Die Ernennung zum Member garantiert das Schikanierungsrecht gegenüber Prospects und eine Teilhabe am Gewinn der gemeinsamen Geschäfte. Der President ist eine Mischung aus Pate, Weihbischof und Majestix. Insgesamt: Kindlich, übersichtlich, aber effektiv. Business: Security, Türsteherei, Drogenhandel und Zuhälterei. Schutzgeld geht auch, Eisdiele nicht. Super spannende Sachen also, die den Normalbürger gruseln machen.

Die Polizei steht auf Höllenengel jeder Art. Das Schöne an ihnen ist: Ihre Tarnung ist systembedingt unzureichend. Man trägt „Kutten“, also eine Uniformweste, auf der mit glitzernden Buchstaben geschrieben steht: „Panzerknacker AG, Mitglied Nr. 524“. Das ist eine klare Ansage. Solche Feinde lieben Dagobert Duck und seine Freunde: Sie sagen So oder So; sie tragen Uniform; sie sind für oder gegen die Guten. Deshalb mag die Polizei die faschistischen Kameradschaften so gern, dass sie sie mit V-Leuten vollständig durchseuchen kann, ohne aufzufallen. Das ist ein psychologisches Phänomen, das der Erforschung durch die Wissenschaft noch bedarf.

Zurück zum Fall: Unser „Sergeant at Arms“ (von Beruf Konditor) schlummert mit seiner derzeit Verlobten im Obergeschoss des umstellten Häuschens. Kürzlich hat man ihm ausgerichtet: Er solle umgebracht werden von Mitgliedern eines konkurrierenden Clubs gleicher Machart.

Die Polizei hat den Verdacht, der Sergeant könnte vor geraumer Zeit eine versuchte (!) Nötigung begangen haben. Das bietet Anlass, der Sache einmal in Mannschaftsstärke auf den Grund zu gehen. Anstatt mit dem Zugriff abzuwarten bis Herr A, wie jeden Morgen, aus seinem Haus auf die Straße tritt, oder einfach zu klingeln (Guten Morgen, Polizei) möchte man ihn mit einem Sondereinsatzkommando im Bett überrumpeln: Für was sonst hat man die Jungs? Man weiß, dass A mehrere von der Polizeibehörde genehmigte Waffen hat.

Schluss mit John Wayne und seinen albernen Regeln

A erwacht durch Geräusche an der Eingangstür. Er nimmt seine Pistole und schleicht zur Treppe. Seiner Verlobten sagt er, sie solle telefonisch Alarm schlagen, weil er überfallen werde. Er schaltet das Licht im Treppenhaus ein und ruft: „Verpisst Euch!“, denn er ist der Überzeugung, „Killer“ machten sich an seiner Tür zu schaffen. Draußen bohrt das SEK-Mitglied X an der Tür herum, hinten stehen die Kollegen mit einer Ramme, der Staatsanwalt wartet in sicherer Entfernung. Auch als im Haus das Licht angeht und ihm das mitgeteilt wird, bohrt X weiter; drei von vier Riegeln hat er schon geknackt.

A denkt: Jede Sekunde kann die Tür aufgebohrt sein, dann dringen schwerbewaffnete Banditen herein, um mich zu töten. Also schießt er. Er zielt auf die Milchglasscheibe der Eingangstür, hinter der er einen Schatten sieht; die Folgen sind ihm egal. Polizist X, der in diesem Moment den Arm hebt, wird durch den Armausschnitt seiner Schutzweste zufällig tödlich ins Herz getroffen. Jetzt (!) rufen die anderen Beamten: „Polizei! Aufhören zu schießen!“ A öffnet das Fenster, wirft seine Pistole heraus und ruft: „Seid ihr verrückt? Warum gebt ihr euch nicht zu erkennen?“

Dies – nach den Feststellungen eines deutschen Landgerichts – waren die Tatsachen. Ob sie genau so stimmen: Der Kolumnist weiß das so wenig wie alle anderen, die nicht dabei waren, aber eine „Rechtsmeinung“ zu diesem Fall haben. Das Gericht, das über die Anklage wegen Totschlags gegen A entscheiden musste, hat sie so festgestellt.

Und das Landgericht hat gemeint: A sei zwar objektiv nicht in einer Notwehrlage gewesen, habe eine solche aber irrtümlich angenommen. Allerdings hätte er sich so verhalten müssen, wie diese fälschlich angenommene Notwehrlage es von ihm verlangt hätte: Er hätte zumindest zunächst einen Warnschuss abgeben müssen. Ergebnis: Verurteilung wegen vorsätzlichen Totschlags. Der Bundesgerichtshof hat auf die Revision des Angeklagten das Urteil aufhoben und den Angeklagten wegen Notwehr freigesprochen (2 StR 375/11, Urteil vom 2. Nov. 2011). Die Entscheidung hat, nicht nur unter Polizeibeamten, für Widerspruch und Empörung gesorgt.

Die Notwehr und ihre Grenzen

Um die Probleme dieses Falles verständlich zu machen, muss man ein wenig ausholen.

Die Paragraphen 32 und 33 des Strafgesetzbuchs lauten:

§ 32 Notwehr
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

§ 33 Überschreitung der Notwehr
Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.

Eine auf den zweiten Blick komplizierte Regelung, die man wie folgt vereinfachen kann: Notwehr ist ein Rechtfertigungsgrund. Sie ist gegeben, wenn ein (gegenwärtiger, rechtswidriger) Angriff vorliegt und der Täter zum Zweck ihrer Abwehr eine rechtsgutsverletzende Verteidigungshandlung zum Schutz seines eigenen (Notwehr) oder des Rechtsguts eines Dritten (Nothilfe) begeht, die „erforderlich“ und „geboten“ ist.

Das ist nicht so schwierig, wie es klingt. Nehmen wir an: Herr A sitzt im Biergarten und trinkt eine Maß. Des Weges kommt Herr B, verspürt Durst und greift überraschend nach dem Krug. A schubst B spontan zurück, B stolpert, fällt zu Boden oder erleidet einen blauen Fleck, das hat A vorausgesehen. Lösung: A = Täter einer Körperverletzung. Er ist aber gerechtfertigt, wenn er „Notwehr geübt“ hat. Hat er das? Ja, denn Griff nach dem Krug durch B ist der Versuch eines Diebstahls. War das rechtswidrig? Das will ich meinen! Wegschubsen erforderlich? Erforderlich meint: Geeignetes und mildestes Mittel, den Angriff sofort zu beenden: Ja.

Die letzte Hürde: „Gebotenheit“ (Absatz 1): Nun kommt die Stunde der Staatsraison. Hier enden der Wilde Westen und die Autonomie. Hier sickert ein, was der Staat meint in die „Natur“ des Menschen hineinbefehlen zu dürfen. Schluss mit John Wayne und seinen albernen Regeln des „Wer zuerst zieht“!

Es naht der Moment der „umfassenden Gesamtabwägung“. Das ist eine ziemlich windelweiche Kompromissfindung zwischen allem und jedem: der Stärke des Angriffs, der Stärke des Gegenrechts, den Besonderheiten des Einzelfalls, der Verhältnismäßigkeit. Die Kriterien und Ergebnisse sind im Einzelnen seit 200 Jahren „lebhaft umstritten“, wie Sie jedem Kommentar oder Lehrbuch entnehmen können. Und im Laufe vieler intelligenter Diskussionen hat man ein paar so genannte „Fallgruppen“ herausgearbeitet, an denen man sich orientiert.

Man darf das Notwehrrecht nicht „missbrauchen“
Sonderfall 1

Da ist zum einen der uralt-unvordenkliche „Kirschbaumfall“: Rentner T sitzt im Rollstuhl und bewundert seinen Garten. Jugendliche O1 und O2 kommen herbei, steigen auf den Kirschbaum des Herrn T und essen Kirschen. T holt sein Jagdgewehr aus besseren Zeiten und schießt die Diebe von den Bäumen. Die Lösung? T hat gewiss einen Totschlag begangen. Ist er „durch Notwehr gerechtfertigt“ (Paragraf 32 Abs. 1)? Der Diebstahl ist ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff. Der Schüsse sind das mildeste (hier nämlich: einzige) Mittel (Erforderlichkeit, Paragraph 32 Abs. 2), den Angriff zu beenden. Jetzt aber! War das „angemessen“? Es streiten die Gelehrten! Sie dürfen sich, Leserinnen und Leser, etwas aussuchen. Aber glauben Sie mir: Für jede Ihrer Entscheidungen gibt es ein ziemlich gutes Gegen-Beispiel (denken Sie sich bitte selbst eines aus). Will sagen: Alles ist eine Frage der Wertung und der rechtspolitischen „Einstellung“.

In Amerika, dem Land der vorauseilenden Notwehr, schießen Polizisten gelegentlich neunmal in den Rücken eines fliehenden Autofahrers und geben anschließend gern zu Protokoll, sie hätten in „Notwehr“ gehandelt. Andere Freunde von Recht und Ordnung legen sich mit einem Scharfschützengewehr und einem Nachtsichtgerät so lange auf die Lauer, bis endlich ein Jugendlicher in ihre offenstehende Garage geht, um etwas vielleicht Stehlenswertes zu suchen. Dann zeigen Sie ihm mit ein paar schnellen Schüssen, dass das Leben kein Spaß ist. Je mehr Tötungen sie auf solche Weise vorläufig vollstrecken, desto sicherer sind sie, dass allein eine höhere Waffendichte der schrecklichen Gewalt Einhalt gebieten kann. Das kann man für ein lächerliches, verachtenswertes Dummgeschwätz von gekauften Lobbyisten der Waffenindustrie halten. Oder man kann es referieren wie eine von zahlreichen gleichermaßen vertretbaren Positionen: Nichts Genaues weiß man nicht, wie immer. Das ist die erbärmlichste aller so genannten Positionen.

Sonderfall 2

Und da sind zum anderen die Provokationsfälle: A weiß, dass sein Feind B in der Kneipe sitzt. Er steckt sich einen Revolver ein und geht hin, in der Hoffnung, dass B ihn sofort angreift. So geschieht es. A erschießt B in „Notwehr“. Oder: A reizt B so lange mit Worten, bis B ihn angreift. Darauf hat A nur gewartet. Das nennt man „Notwehr-Provokation“, und für das Urteil kommt es darauf an: Wer einen Angriff provoziert, um ihn absichtlich zur „Notwehr“ auszunutzen, ist nicht gerechtfertigt. Das betrifft, liebe Helden des Wilden Westens und liebe Nachahmer, leider die allermeisten Fälle eurer Heldentaten! Bei dieser Gelegenheit an euch daher die bittere Nachricht: Es kommt nicht darauf an, wer „zuerst zieht“! (Wenn es denn sein muss: Gran Torino des ewigen Herrn Eastwood nochmal anschauen!)

Wer den Angriff eines Opfers verursacht, das erkennbar eingeschränkt ist in seinen Fähigkeiten zum Angriff oder zur Abwehr oder zur Beurteilung der Situation (betrunken, desorientiert, minderbegabt), kann sich auch nicht herausreden. Das heißt: Man darf das Notwehrrecht nicht „missbrauchen“. Man muss einen tatsächlichen Notwehr-Willen haben und nicht nur Freude daran, fremde Rechtsgüter sanktionslos verletzen zu dürfen. Wer in freudiger Erwartung eines durstigen Einbrechers Schnaps mit tödlichem Gift hinstellt, handelt nicht in Notwehr („Bärwurzfall“); ebensowenig derjenige, der seine Garage mit einer Selbstschussanlage ausstattet.

Die Putativnotwehr

Weil die Rechtfertigungsgründe, also die Voraussetzungen des Notwehrrechts, vom Gesetz wie „Gegen-Tatbestandsmerkmale“ behandelt werden, gelten für Irrtümer dieselben Regeln wie für Merkmale des Tatbestands: Für und gegen den Täter (siehe auch die Kolumne über „Irrtümer“).

Also: Wer auf eine Schaufensterpuppe schießt und dabei denkt, es handle sich um seinen Feind, begeht einen versuchten Totschlag. Wer auf seinen Feind schießt und dabei annimmt, es handle sich um eine Schaufensterpuppe, begeht eine fahrlässige (!) Tötung, wenn (!) er seinen Irrtum vermeiden konnte – sonst allenfalls Sachbeschädigung.

Wer gar nicht bemerkt, dass er angegriffen wird, und den Angreifer trotzdem erschießt, begeht einen versuchten (sehr streitig!) Totschlag. Und wer – wie unser Hell’s Angel – irrtümlich glaubt, er werde rechtswidrig angegriffen (das ist mit dem Begriff der „Putativnotwehr“ gemeint) und habe kein milderes Mittel zu seiner Verteidigung als den Angreifer zu erschießen, hat keinen Vorsatz der rechtswidrigen Tötung. Und wenn er seinen Irrtum auch nicht fahrlässig verschuldet hat, ist er auch wegen fahrlässiger Tötung nicht strafbar. So also war es im Fall des Höllenengels, den der 2. Strafsenat entschieden hat.

Vielstimmig war die Kritik daran. Die Polizeigewerkschaft warnte, es dürften Polizeibeamte nicht „zum Abschuss freigeben werden“. In der Presse kursierte die Meldung unter dem Schlagwort „Polizistenmord“ (Berliner Morgenpost, 5. November 2011); Landesinnenminister behaupteten, das Urteil des BGH „ermutige Schwerkriminelle zu ihrem Tun“, und der Innenminister des Landes Rheinland-Pfalz teilte unisono mit dem des Landes Hessen mit, er „fühle sich nicht in der Lage, dieses Urteil zu akzeptieren“ (vgl. dazu auch den Öffentlichen Brief zweier Mainzer Strafrechtslehrer – Prof. Erb und Prof. Hettinger). Das war einmal ein Wort! Die Regierung eines Landes ist „nicht in der Lage“ ein Urteil des obersten Gerichtshofs der Bundesrepublik zu akzeptieren. Was folgte daraus? – Nichts. Denn natürlich hatten die Minister das Urteil nicht gelesen, bevor sie es verdammten. Und natürlich wurden zwei Wochen später schon wieder ganz andere Sauen durchs Dorf getrieben. Hauptsache Schlagzeile!

„Schwerkriminelle“: Der A war keiner. Er war nicht einmal vorbestraft. Der Vorwurf der versuchten Nötigung, der die ganze Hausdurchsuchung ausgelöst hatte, erwies sich als nicht tragfähig. Alle Waffen, die A besaß, besaß er erlaubterweise. „Bestärkung im Tun“: Was soll das heißen? Welches „Tun“ hat denn vorgelegen? Und noch eine Frage: Wieviel Tränen wären wohl vergossen worden, wenn der Fall sich umgekehrt ereignet hätte: Polizist erschießt Hell’s Angel, weil er sich – irrtümlich – dadurch angegriffen fühlt, dass dieser in sein Haus einbricht?

Notwehr kennt keine enge „Verhältnismäßigkeit“
Die Polizei und die Notwehr

Die breite Darstellung dieses Falles soll illustrieren: Im Notwehrrecht begegnen einander sehr häufig extrem (!) parteiliche Interessen, Sichtweisen und Definitionen. Man muss (und sollte) sie nicht teilen. Gerichte (und Staatsanwaltschaften) müssen vielmehr aus dem Gewirr von Behauptungen einen Sachverhalt herausdestillieren, der seinerseits den Anforderungen an rechtsstaatliche Neutralität genügt.

Da kann man nicht etwa behaupten: Polizeibeamte seien „stets“ in einer Notwehrlage, andersherum sei ihnen gegenüber eine solche aber von vornherein ausgeschlossen. Die Wirklichkeit zeigt, dass das Gegenteil zutrifft. Polizeibeamte fühlen (!) sich erstaunlich oft so, als handelten sie in „Notwehr“. Das ist meist unzutreffend, aber menschlich verständlich. Sie sind, insbesondere im Streifeneinsatz, besonders oft aggressivem Auftreten und Stresssituationen ausgesetzt, die sich kaum befriedigend lösen lassen. Sie sehen sich oft mit Ablehnung konfrontiert, selten mit Zustimmung oder Bewunderung. All das erzeugt Abwehr nach außen, Korpsgeist nach innen.

Wer, als Bereitschaftspolizist oder im Streifendienst, permanent mit hochaggressiven Personen konfrontiert wird, die jede Chance nutzen, „Schwierigkeiten“ zu machen, mit Überstunden und Überlastungen, dem wird einmal „die Hand“ ausrutschen (oder der Knüppel oder das Reizspray), und die „Notwehr“ wird fließend übergehen in Rache oder Demonstration von Stärke. Wir verlangen außerordentlich viel von unseren Polizisten, und haben oft wenig Verständnis für sie. Trotzdem gilt: Wer von Staats wegen bestellt und bezahlt wird, sich Angriffen auszusetzen, kann private (!), aufs Individuum bezogene Notwehrrechte in der Regel nicht geltend machen. Die Befugnisse der Polizeibehörden, auch solche der Gewaltausübung, sind in den Polizeigesetzen im Einzelnen geregelt. Wendete man daneben auch noch die allgemeinen Regeln an, würden die – aus guten Gründen bestehenden – Grenzen des Polizeirechts obsolet.

Grenzen

Für uns – die Bürger – gelten zwei verschiedene Grenzen des Notwehrrechts: Die Grenzen des Tatbestands und die der Folgen. Mit anderen Worten: Man kann sich zum einen über die Voraussetzungen der Notwehrlage irren, zum anderen über das erlaubte und erforderliche Maß von Abwehr.

Für die erste Fallgruppe gelten die Regeln über Versuch (einerseits) und Putativnotwehr (andererseits). Tatbestandsirrtum ist Tatbestandsirrtum, Rechtfertigungsirrtum ist Rechtfertigungsirrtum. Da gibt es keine Einschränkungen oder Verschärfungen oder Privilegien für Polizisten, Apotheker, Hell’s Angels oder Hamburger-Esser. Entweder der Irrtum ist bewiesen oder nicht. Wenn er vom zuständigen Gericht ohne Rechtsfehler festgestellt wurde, ist davon auszugehen, dass er vorlag. Und das ist gut so. Innenminister und sonstige Klientel-Vertreter sollten, wenn sie schon keine Ahnung vom konkreten Fall und keine Legitimation zur Stellungnahme haben, ihre Nase da heraushalten und nicht versuchen, auf Kosten der Justiz ein paar Jubel-Punkte aus einer angeblichen Volksmeinung zu ergattern, die doch nur die einer eingebildeten Mehrheit ist.

Wenn die Voraussetzungen der Notwehr vorlagen (oder irrtümlich angenommen wurden), ist das Maß der Notwehr immer noch beschränkt auf das „Erforderliche“. Paragraf 32 Strafgesetzbuch rechtfertigt also keine exzessive Gewaltausübung, die gar nicht mehr der Abwehr eines Angriffs gilt, sondern eher „Bestrafungs“charakter hat. Für Überschreitungen dieser Grenze wird der Täter nach allgemeinen Regeln bestraft. Eine Ausnahme gibt es auch hiervon wieder: „Furcht, Erregung oder Schrecken“. Diesen so genannten „intensiven Notwehr-Exzess“ regelt Paragraf 33 StGB. Wer (nur!) aus einem dieser (menschlich verständlichen) Motive mehr tut als „erforderlich“ und „geboten“ ist, kann entschuldigt sein.

Aber Obacht! „Entschuldigt“ bedeutet nicht, dass die Überschreitung „gerechtfertigt“ ist. Gegen einen intensiven Notwehr-Exzess im Sinn von Paragraf 33 darf daher der ursprüngliche Angreifer wiederum Notwehr leisten, denn nun wird ja er „rechtswidrig“ angegriffen.

Verstehen Sie das, Leserinnen und Leser? Es klingt sehr formal und kompliziert, ist aber im Grundsatz nicht schwierig, wenn man auseinanderhält: Tatbestand (zum Beispiel Körperverletzung), allgemeine Rechtswidrigkeit und individuelle Schuld. Damit hat man schon gleich das halbe Strafrecht verstanden.

Notwehr ist ein starkes Recht. Es kennt keine enge „Verhältnismäßigkeit“, sondern begnügt sich mit „Erforderlichkeit“ und „Gebotenheit“. Man darf zur Verteidigung seines Eigentums ein Menschenleben vernichten, wenn es „erforderlich“ ist. Der Angreifer auf irgendein Rechtsgut lebt also mit einem hohen Risiko: Wer mit geraubten 10 Euro flieht, könnte sein Leben verlieren oder seine Gesundheit und anschließend auch noch den Schadensersatz-Prozess.

Andererseits: Der Wilde Westen ist es nicht, was dem Deutschen Strafgesetzbuch vorschwebt. Die Notwehr wird, vom Gesetz und von der Rechtsprechung, in geregelten Bahnen zu halten versucht. Aber unter dieser Betondeckelung ist sie nach wie vor ein wilder Fluss, einer der engsten Verbindungen eines archaischen Rechtsverständnisses mit der Ruhe ewigen sozialen Friedens.

Zum Abschluss noch zwei Fragen: Was ist es, das Gary Cooper in „High Noon“ unternimmt: Notwehr, Notwehrprovokation, Notwehrexzess? Und was meinte der bayerische Ministerpräsident mit der (Staats)notwehr gegen „Berlin“?

„Well the smart money’s on harlow and the moon is in the street,
and the shadow boys are breaking all the laws.
and you’re east of east saint louis and the wind is making speeches,
and the rain sounds like a round of applause.
and napoleon is weeping in a carnival saloon
his invisible fiancee’s in the mirror…
(Tom Waits)