Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Die Persönlichkeit und Eignung ihrer Richter ist für die Gesellschaft von großer Bedeutung. Doch wie wurden sie, was sie sind? Und was wollen sie sein?

7. Juli 2015, 14:29 Uhr

Nach dem Zwischenspiel im Teil 2 fahre ich nunmehr fort mit meiner kleinen Karrierekunde und werde Ihnen, meine Leser, berichten, wie man in Deutschland Richter wird und was das bedeuten kann.

Einführung

Der lebensältere Teil der Gesellschaft kennt die Figur des Richters, wie so vieles, aus den Wildwestfilmen unserer Jugend. Der Name des Richters war dort meist „Richter“ (seltener „Richter Sowieso“). Der Richter war grauhaarig, also undefinierbar alt, trug einen Anzug mit Uhrkette und verstand aus vielerlei Gründen fast alles vom Leben, den Weibern und dem Whiskey. Er hatte – wenn auch korrumpiert vom örtlichen Viehbaron, dem frühen Tod der Gattin oder Johnnie Walker, dem Wolfsbruder in den Nächten der Wüste – einen untrüglichen Sinn für das Richtige und Gerechte: Am Ende tat er es, oder zerbrach an seiner Unfähigkeit, es zu tun. Akten lesend sah man ihn eigentlich nie. Er spazierte über die Holzgehwege seines „Stadt“ geheißenen Kaffs oder saß im Gerichtssaal. An beiden Orten gleichermaßen führte er Reden über Recht, Ordnung und Gerechtigkeit. Nicht selten hatte er mindestens eine schöne Tochter.

Exposition

Inzwischen ist die allgemeine Kenntnis der Ikonografie des amerikanischen Wildwestfilms so löcherig wie in der Generation zuvor diejenige der Ilias und der Odyssee. Ich aber will dennoch vom Richter des Wilden Westens sprechen. Die meisten Zuschauer dürften diesem Charakter nämlich nicht genügend Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt haben. Immerzu waren ihnen, aus durchsichtigen Gründen, einsame Rächer wichtiger oder siegreiche Apachen, die sehnsüchtig-weiße Tochter des Viehbarons oder die haltlos-glutäugige mexikanische Haushälterin.

Bedauerlich für den Richter. Durchschritt er doch die Stätten der Willkür und Verdammnis mit stets geputzten Stiefeln, und saß in den Versammlungen der Bürger immer in der ersten Reihe. Mal als Schurke in korrupter Verbundenheit mit der Gewalt, mal als Anker der Braven im Sturm.

Die Richterfigur im Western ist im Laufe der Zeit von so vielen miserablen Drehbuchschreibern zugrunde gerichtet worden, dass sie sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte gegen die Zombies des Unterhaltungsfernsehens, die Untoten des nachmittäglichen Grauens, genannt Richter Hold und Richterin Salesch. Für alle, die auf einsamen Inseln leben und es daher nicht wissen können: So hießen zwei Gespenster, die hinter den Bücherregalen von Spencer Tracy und Charles Laughton ihr Dasein fristeten. Sie veranstalten bis vor einigen Jahren Gerichtsshows für Fünfjährige, in denen das Recht zur Farce gemacht wurde und die Gerechtigkeit zur Diarrhö.

Das Bild des Richters in der Gesellschaft
Der Richter in uns

Unsere Gesellschaft produziert Richter wie Kronenkorken: durch Stanzen. Die Welt ist voll von Menschen, die gerne richten. Sie spüren ein Bedürfnis, etwas zu entscheiden, das sie ihnen „richterlich“ erscheint. Die Gelegenheiten, bei denen sich dieses Bedürfnis Bahn bricht, sind nur selten im Bereich des Verwaltungs- oder Zivilrechts. Da muss schon der Schwager einen Schadensersatz nicht gekriegt oder die beste Freundin der Frau mithilfe der Rechtsschutzversicherung einen Vergleich errungen haben, der jeder Beschreibung spottet … Die Einzelheiten des Zivil-, Handels-, Sozial-, Verwaltungsrechts erspart sich der Laie gern.

Der Richter im Jedermann hat seine Bühne im Strafrecht. Hier weiß er, wie’s geht; hier ist er zu Hause – immerhin sehen wir jeden Sonntag den Tatort. Der Richter in seiner professionell-fiktiven Gestalt tritt dort meist dadurch in Erscheinung, dass er irgendetwas „nicht mitmacht“, was für den Sieg der Gerechtigkeit von großer Dringlichkeit wäre. „Ich will sehen, was ich beim Richter machen kann“, sagt schulterzuckend der ermittelnde Staatsanwalt. Dann sieht man ihn mit dem Richter eine Treppe hinuntergehen. Am Fuß der Stiege kriegt er die Genehmigung zur Telefonüberwachung auch ohne Tatverdacht.

In älteren Filmen wohnt der Richter in einer Villa an der Elbe, der Seine oder dem Tiber. Seine Frau ist ein bisschen überspannt, sieht aber für ihr Alter super aus. Die Traumbesetzung: Stéphane Audran, forever. Der Richter ist dann unbedingt, je nach Sujet, Michel Piccoli, Michel Bouquet oder, bei vollem Risiko, Lino Ventura. Auf keinen Fall Michele Placido (Allein gegen die Mafia) oder Bruno Ganz. Unter der Oberfläche des Richters und seiner Familie erahnt der Cineast die Widersprüche und dramatischen Brüche des Bürgertums. Im Tatort ist das natürlich anders, denn so viel Lust auf Zwischentöne kann kein Mensch haben, der das Currywurstessen und das Kotzen danach für „Kult“ hält.

Sie sehen, meine Leser: Wir haben keinen Mangel an gefühlten Richtern, an Figuren also, denen es ein Bedürfnis ist, eine oft sehr eigenwillige, selbst-definierte Straf-Ordnung zu simulieren und sich selbst als deren Vollstrecker. Der Laienrichter Gerhard Schröder, Rechtsanwalt aus Hannover, schlug einst im Interview mit der Bild am Sonntag vor: „Wegsperren für immer“. Damit meinte er Männer, die wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt waren – wie genau und wann genau und warum genau, darauf kam es nicht an. Das war für seine Zwecke auch nicht erforderlich. Bild verstand ihn, Bild liebte ihn und er liebte Bild. So wird der kleine Rechtsanwalt ein großer Richter.

Und dann gibt es ja auch, ob man es wahrhaben will oder nicht, das große Wort unserer Frau Angela Merkel aus Anlass der live übertragenen Liquidierung von Osama bin Laden: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, Osama bin Laden zu töten.“ Die deutsche Bundeskanzlerin als beste Freundin des Henkers. Mehr Fremdschämen geht nicht.

Der ausländische Beschuldigte, um den es damals ging, war dringend verdächtig, an der Ermordung von mehr als 3.000 Amerikanern beteiligt gewesen zu sein. Seine direkte Involvierung war allerdings unaufgeklärt. Professionelle Richter waren an seiner Verurteilung und Hinrichtung meines Wissens nicht beteiligt.

Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie sich die Freude der Bundeskanzlerin wohl ausdrückte, wenn es gelänge, einen jener noch lebenden Verdächtigen zu töten, die an der Ermordung von sechs Millionen Juden beteiligt gewesen sein sollen. Gewiss könnte Sigmund Gottlieb, der Gott des Heißluftföhns, eine vibrierende Dokumentation über die entscheidenden Minuten im Kanzlerbunker anfertigen: Bundeskanzlerin und Verteidigungsministerin atemlos umschlungen vor dem Live-Stream, während ein KSK-Trupp die letzten authentischen deutschen Völkermörder liquidiert.

Der Richter an sich

Doch kommen wir zur Sache! Wenn hier von „Richtern“ die Rede ist, dann natürlich von solchen im Sinne des „juristischen Personals“, also von Berufsrichtern. Wie wurden diese Figuren, was sie sind? Im Wilden Westen wurden sie gewählt, wie der „Sheriff“ (Polizeipräsident), bloß waren sie etwas viel Besseres als er oder gar als die „Marshalls“ (Bundesbedienstete einer schwachen Zentralbehörde). Was geht uns das an? Wieso fällt uns, wenn wir das Wort „Richter“ denken, ein graumelierter Onkel ein, der mit einem Holzhammer auf einen Tresen schlägt? Warum denken wir nicht an Richter am Sondergericht, oder an alleinerziehende Halbtagsrichterinnen mit wenig Zeit und viel Ambition?

Vom Jurastudium bis zum Zweiten Staatsexamen

Am Ende des Studiums der Rechtswissenschaft steht, durch die Weisheit der deutschen Landesjustizprüfungsämter und aller Heiligen und weil „et noch immer jut jejangen is“: die „Erste Juristische Prüfung“. Diese bestehen, nachdem etwa 20 Prozent der Studienanfänger auf dem Weg dorthin schlapp gemacht haben, 75 Prozent der Prüflinge (also 60 von 100 Anfängern). Es folgt sodann die Phase, in welcher der oder die nunmehr geprüfte Rechtskundige erstmals eintaucht in die sogenannte „Praxis“: sprich die Referendarzeit.

Praxis: Man kann sich den Schauer unmöglich vorstellen, den dieses Wort bei Juristen auslöst. Es vermag alles. Es rechtfertigt alles. Es besiegt alles. Zur Praxis drängt am Ende alles. Und noch der großmächtigste Jongleur aller Theorien aller Jahrhunderte vergisst niemals – niemals! – zu erwähnen, dass er Mitglied irgendeiner Kommission zur Reform von irgendwas gewesen sei, in der es vor allem auch um „die Belange der Praxis“ ging, oder dass er mit einem Zehntel seiner Arbeitskraft an einem wirklichen Oberlandesgericht echte Akten über lebende Menschen liest.

Das ist verständlich, aber seltsam. Selbst Medizinstudenten erleben nach Bestehen des Physikums während ihres Hauptstudiums den einen oder anderen leibhaftigen Menschen, genannt „Patient“. Sie müssen sich also, nachdem sie die Namen aller Nerven im Unterarm auswendig gelernt haben, ein zerstörtes Ellenbogengelenk gelegentlich anschauen, selbst auf die Gefahr hin, dass noch ein Mensch dranhängt, der irgendwelche störenden Probleme macht, die neurologisch nicht wirklich spannend und für die Prüfung ohne Belang sind (Schmerzen, Sorgen, dumme Fragen).

Anders die Juristen: Ein Fall ist ein Fall ist ein Fall. Ein Fall ist „ein Sachverhalt“, dieser ist lang oder kurz, so wie später die Akten dick oder dünn sind. Ob darin Menschen wohnen, weiß man nicht genau. Zwölf Semester lang und noch einmal 18 Monate heißen alle Menschen A., B., G., S. oder T. Wie lange kann man das einüben, bis sich für alle Zeit die Überzeugung eingebrannt hat, das eigentlich Störende an den Fällen seien die Menschen?

Bis zum Ende des Studiums tritt kein Student jemals in Kontakt mit jener Wirklichkeit, die er oder sie aufgrund der durch das Studium erlangten Qualifikation steuern soll. Wer meint, das werde in der Referendarzeit besser, irrt gewaltig. Natürlich gibt es Ausnahmen: Extrem engagierte Referendare, die neben allen Pflicht-Veranstaltungen und „Stationen“ versuchen, durch Nebentätigkeiten erste Berufserfahrungen zu sammeln. Das ist gut, und gut gemeint sind gewiss auch die Pflicht-Angebote der Justizverwaltungen, die ja sämtliche Referendare besolden und betreuen müssen, als seien sie allesamt „Richter im Vorbereitungsdienst“. Das bei weitem Wichtigste in der Referendarzeit sind aber die „Arbeitsgemeinschaften“: hochgradig verschulte Kurse, ähnlich den Repetitorien, in denen der zusätzliche Stoff für das Zweite Staatsexamen eingebläut wird. Es geht also im Prinzip alles gerade so weiter wie vor der ersten Prüfung: Arbeitsgemeinschaft, Klausurenkurs, Repetitorium, Klausurenkurs … Wer nebenbei „beim Anwalt“ tätig ist, hat meist auch kein rechtes Vergnügen. Da darf er/sie dann Akten kopieren oder Rechtsprechungen heraussuchen oder Kaffee kochen.

Zweites Staatsexamen: Einstellungsprüfung für den öffentlichen Dienst (als Staatsanwalt oder Richter oder Verwaltungsbeamter). Voraussetzung für die „Befähigung zum Richteramt“, die wiederum die Voraussetzung dafür ist, Rechtsanwalt (oder Notar) zu werden. Wer die Prüfung besteht, ist „Volljurist“ (ein schöner Titel, erinnert an „Vollprofi“). „Halbjuristen“ gibt es nicht. Die Prüfung ist etwas weniger selektiv als die erste Prüfung: 85 Prozent bestehen. Die jetzt noch ausgeschiedenen 15 Prozent sind besonders übel dran: Sie sind regelmäßig Ende 20, oft schon Anfang/Mitte 30, und jetzt „geht“ nur noch wenig, wenn man nicht ganz erhebliche Abstriche am Selbstbild macht: Schadenssachbearbeiter bei Versicherungen. Hinterzimmer-Gutachtensschreiber in großen Kanzleien. Ansonsten kreative Ideen, für die man freilich die letzten zehn Jahre über gerade nicht ausgebildet und belohnt wurde. Eine sehr unangenehme Lebenslage! Mitleid darf man nicht erwarten: Wer es auch nur irgendwie, mit Ach und Krach und der geringstmöglichen Punktzahl, geschafft hat, durchschreitet die Welt fortan als Mitglied der volljuristischen Elite. Volljuristen können eigentlich alles.

Der Einstieg in die Berufswelt
Die Staatsnote

Der Staat hat eine Staatsnote. Der Staat ist der Wunscharbeitgeber von gewiss 80 Prozent aller erfolgreichen Absolventen der Zweiten Juristischen Staatsprüfung. Die allerbesten oder allerselbstbewusstesten Absolventen möchten allerdings nicht „zum Staat“, weil der keine Startrampe anbietet für schillernde Senkrechtkarrieren und Sternenflüge. Sie werden daher Rechtsanwälte oder Notare. Sogenannte „Großkanzleien“ zahlen Anfängern mit Spitzen-Examen pro Jahr 120.000 Euro brutto, bieten (und fordern) ein intensives Fortbildungs- und Förderungsprogramm und eröffnen die Chance, innerhalb überschaubarer Zeiträume in definierten Schritten „nach oben“ zu gelangen – gemeint ist: an ein wirklich gehobenes Einkommen. Die Gegenleistung ist nicht ohne: 102 Prozent Identifikation mit dem Job, sechseinhalb Arbeitstage mit je 14 Stunden, Flexibilität in allem und jedem, Privatleben: erbärmlich. Der Porsche im dritten Berufsjahr ist teuer erkauft. Ohne Kostümchen und Hermès-Tüchlein, wöchentlichen Friseur und Squash-Abo geht nichts. Trotzdem fliegen 30 Prozent nach einem Jahr wieder raus. Dann beginnt nicht selten ein erstaunlicher Weg, der eine ganze „Coaching“-Industrie ernährt.

Staatsnote ist der Punktedurchschnitt (Skala: 0 bis 18 Punkte), mit dem der Staat – Justiz/Verwaltung – zum jeweils letzten Einstellungstermin (zweimal pro Jahr) einen erfolgreichen Absolventen eingestellt hat. Sie kann also immer erst im Nachhinein ermittelt werden. Für die Justiz kann, über die Jahre, als grober Richtwert angesehen werden: 8,5 sollten es schon sein. Manchmal, in einzelnen Bundesländern und je nach Haushaltslage, steht auch eine Neun vor dem Komma.

Die Probezeit

Nehmen wir an, der Examenskandidat hat die „Staatsnote“ erreicht, entscheidet sich für den Berufsweg bei der Justiz, bewirbt sich und wird genommen: Dann wird er oder sie „Richter(in) auf Probe“, für drei Jahre, in der Funktion eines Richters oder Staatsanwalts, aber nicht mit deren Privilegien. Denn er/sie wird erst „erprobt“. Er kann nach einem Jahr fast ohne Gründe, nach zwei oder drei Jahren nur mit zunehmend gewichtigen Gründen entlassen – das heißt: nicht in ein Richter- oder Staatsanwaltsverhältnis „auf Lebenszeit“ übernommen – werden.

In der Probezeit hat ein Richter nach außen alle Funktionen und Kompetenzen und nach innen alle Pflichten eines Lebenszeitrichters. Vom ersten Tag seines Dienstes an ist er „der gesetzliche Richter“ (oder: Staatsanwalt). Er wird weitgehend unvorbereitet in ein zunächst kaum zu bewältigendes Chaos geworfen. 80 Neueingänge im Monat als Strafrichter beim Amtsgericht, ein abgesoffenes Dezernat im Zivilrecht mit 400 Akten Rückstand; 200 Eingänge im Staatsanwaltsdezernat – ganz normal. Man beißt die Zähne zusammen und arbeitet sieben Tage die Woche. Die Freitreppe im Justizpalast kennt man nur bei Dunkelheit.

Der Proberichter ist, als Richter, keiner Weisung unterworfen und allein Gesetz und Recht verpflichtet. Wenn er nur immer wüsste, was das ist! Wenn er bei Sinnen ist, wird er das Maß seiner „Abweichungen“ von der herrschenden Meinung, und sei es auch nur die seines Gerichts oder seiner Behörde, gering halten. Der Proberichter befindet sich in einer beamtenartigen Stellung der Abhängigkeit von den (informellen und formellen) Beurteilungen durch „Vorgesetzte“: das sind die Präsidenten des Amts- oder Landgerichts oder der Leitende Oberstaatsanwalt, seine Dienstvorgesetzten also. Auch der Direktor des Amtsgerichts, der Kammervorsitzende, der Abteilungsleiter können ihm das Leben sehr schwer oder recht leicht machen.

Ein Richter auf Probe ist in Wahrheit kein „unabhängiger“ Richter. Er tut so, ist allerdings gerade für diese Rolle in keiner Weise ausgebildet oder reif. Er oder sie ist, nach allen rationalen Kriterien und Erfahrungen, extrem abhängig und daher beschränkt.

Die Praxis geht mit ihm/ihr, das muss man bei aller Kritik zugeben, sehr vorsichtig um: Entlassungen wegen Ungeeignetheit sind selten und treffen meist Personen, die sich nicht etwa durch „mutige“ Entscheidungen, sondern eher durch komplette Überforderung und eklatante Ungeeignetheit hervorgetan haben: Scheinriesinnen, die dauernd nach mehr Arbeit rufen, in Wahrheit aber hundert unbearbeitete Akten daheim stapeln, oder verkappte Suizid-Kandidaten. Viele Ungeeignete werden einfach übersehen, weil sie sich irgendwie durchmogeln und nichts anmerken lassen. So ist das in großen Verwaltungen.

R 1, R 2, R 3 …

Nehmen wir weiter an: Die Probezeit ist bewältigt. Ernennung zum „Richter auf Lebenszeit“. Jetzt geht es los. Jetzt wird es hart für den Richter und dröge für den Leser: Der Marsch durch die Institution beginnt, wo auch immer sein Anfang lag. Zuerst scheint er, im Champagnerkelch der Lebenszeitanstellung, leicht; später kann er zu brennendem Schmerz führen. Das muss man ein bisschen erklären:

Wie geht es nach der Probezeit weiter?

Der deutsche Richter ist kein König wie der englische oder der italienische. Das weiß er auch. Er tendiert seinem Wesen nach zum Beamtentum, also zu einer „Laufbahn“. Er möchte Deutschland dienen. Was dies ist, weiß er nicht immer genau. Im Zweifel meint er daher, dass er Deutschland umso näher sei, je mehr sich die Ziffer seiner Besoldungsgruppe der Unendlichkeit annähert. Und auf diesem Weg zur Erfüllung, wenn man sich darauf einmal eingelassen hat, ist „R 2“ auf jeden Fall um 100 Prozent näher an Deutschland als „R 1“. Von da an ist alles eigentlich ganz einfach, wenn man einmal von den unvorstellbaren Schwierigkeiten absieht, auf einer elfstufigen Himmelsleiter ans Licht zu krabbeln. Man benötigt dazu allerdings, entgegen verbreiteter Ansicht, keine ausdifferenzierte Intellektualität. Eine gewöhnliche kleine Meeresschildkröte bewältigt die Aufgabe mit annähernd derselben Perfektion: Schlüpfe aus dem Ei, wenn der Mond dunkel ist und die Möwe schläft, und renne hurtig zum Meer! Ganz ähnlich die Kaulquappe oder das Spermium. Es gibt, so heißt die Botschaft, einen Sinn am Ende des Weges. Tu, was immer Du vermagst, so wird er Dir offenbar werden, wenn Du angekommen bist.

Bis 1972 spiegelten die Dienstbezeichnungen die beamtenrechtliche Hierarchie wider: „Landgerichtsdirektor“ hieß damals nicht etwa, wer heute Präsident des Landgerichts heißt, sondern jeder Vorsitzende einer Kammer („Direktor“ ist die Bezeichnung für eine Beamtenstelle der Besoldungsstufe A 15, also beispielsweise „Regierungsdirektor“, „Studiendirektor“). Andererseits gab es auch sehr missverständliche Bezeichnungen wie „Rat“: „Amtsgerichtsrat“ und „Oberlandesgerichtsrat“ klingen gleich, waren aber gerade eben nicht dasselbe, sondern durch eine (!) Gehaltsstufe so weit voneinander getrennt wie die Venus vom Pluto.

Heute ist das alles etwas republikanischer und in gewissem Sinne einfacher: (Fast-)Richter heißen „Richter am…“ oder „Vorsitzender Richter am…“, es folgt jeweils die Gerichts-Stufe. Damit hätte man es bewenden und auch den „Vorsitzenden Richter“ weglassen können, der eine „Vorgesetzten“-Kompetenz simuliert, die es gar nicht gibt. Aber ach und weh: Es wird sich doch wohl noch ein kleines Prädikat finden lassen für die Allerwichtigsten! Sie heißen daher weiterhin „Präsident“ oder“ Vizepräsident“ oder „Direktor des …“ oder „weiterer aufsichtsführender Richter“. Damit ist keine richterliche Funktion beschrieben, auch keine richterliche Kompetenz. All die Direktoren und Präsidenten sind dies nur als Teil der Verwaltung. Für den Bürger ist das kaum interessant, für Richter – wie für Beamte – aber bis heute ein äußerst wichtiger Teil des Lebensgefühls; das muss begreifen, wer Richterversteher sein will.

Denn auch die Besoldung der Richter ist am Modell des Beamtentums orientiert. Dort gibt es bekanntlich die Besoldungsordnung A mit den Stufen A 1 bis A 16 (Beispiele: „Kommissar“ ist A 11; „Regierungsrat“ ist A 13, „Oberstudiendirektor“ ist A 16), und die Besoldungsordnung B mit den Stufen B 1 bis 11 (Beispiele: „Ministerialrat“ ist B 2 oder B3; Ministerialdirigent ist B 6; Staatssekretär im Bund ist B 11). Der Hochschulbereich hat eine eigene Besoldungsordnung: Sie heißt „W“.

Die Besoldungsordnung der Richter heißt „R“ und reicht von R 1 (Richter am Amtsgericht, Staatsanwalt) über R 2 (Vorsitzender Richter am Landgericht, Richter am Oberlandesgericht; Oberstaatsanwalt), R 6 (Richter am Bundesgerichtshof; Bundesanwalt), R 8 (Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof; Präsident des Oberlandesgerichts) bis R 11 (Präsidenten der Obersten Gerichtshöfe des Bundes). Wer es genau wissen will, schaue sich im Internet die Anlagen zur (Bundes-)Besoldungsordnung an. Grafisch darf man sich das Ganze als sehr stumpfe Pyramide vorstellen: Unten ganz viele, oben ganz wenige. Die weitaus meisten Richter verbringen ihr Berufsleben im Bereich R 1/R 2.

Was heißt das? Sehr vereinfacht: Der Einstieg ist karg. Anfänger verdienen in Deutschland knapp 40.000 Euro brutto im Jahr. Da lachen der luxemburgische (80.000), der schwedische (96.000) und erst recht der schottische Richter (170.000), und denken: Eine schöne „Unabhängigkeit“ habt Ihr da in Deutschland! Von wegen Villa an der Elbe! Nach 15 Dienstjahren verdient Ihr so viel, dass Ihr Euer Reihenhaus notfalls (meint: nach der ersten Scheidung) auch allein abzahlen könnt.

Aus dem Blickwinkel des „R 1-Richters“ beginnt ab R 3 der relative Reichtum. Tatsächlich ist das Unsinn: Ein Richter am Bundesgerichtshof (R 6) verdient brutto etwa 100.000 Euro im Jahr. Abzüglich Steuern und Beitrag für die private Krankenversicherung bleiben somit knapp 6.000 Euro im Monat. Das ist ein auskömmliches Einkommen für beamtete Reihenhausfinanzierer, aber meilenweit entfernt von Sterne-Restaurants und Villenvierteln. Partner einer erfolgreichen großstädtischen Rechtsanwaltskanzlei geben so viel monatlich für Reise- und Bewirtungskosten aus.

Die „Beförderung“ von Richtern (Staatsanwälten) muss daher eine andere, geheimere Kraft symbolisieren als die Brosamen von den Tischen der Reichen in unserer Gesellschaft. Wenn die Richterin am Amtsgericht Frankfurt durchs dortige Westend fährt, wo die 100-Quadratmeter-Altbauwohnung 800.000 Euro kostet, muss sie die innere Kraft eben aus etwas anderem beziehen als aus der Teilhabe am Reichtum. Und wenn es nicht der Reichtum des Ehegatten ist (bei weiblichen Richtern immerhin möglich – Stichwort: den Range Rover und die Kinderfrau zahle ich ganz allein –, bei männlichen extrem selten), muss man fragen, was dies ist: Die Währung, in der sich dieser Extraprofit bemisst, ist nicht Geld. Die Währung ist Macht oder deren Imagination.

Der Erweckungsmoment von Justiz-Juristen
Die Welt, die Macht

Es gibt im Leben eines jeden Medizinstudenten einen magischen Moment, in dem er oder sie die Gewissheit gewinnt, Teil eines geheimnisvollen Ganzen zu sein, welches das Wesen des Menschen wirklich und wahrhaftig versteht. Das gelingt sogar Fachärzten für die Endokrinologie der Schilddrüse von 50-jährigen Tiefbaufacharbeitern. Man muss nicht versuchen, mir weiszumachen, dass dies an der Liebe des Einser-Abiturienten zum Menschen und seiner Schilddrüse liege. Es ist etwas anderes, Strahlendes, was von der Zugehörigkeit zur „Kollegenschaft“ ausgeht. Wie kann sich ein vernünftiger junger Mensch acht Kugelschreiber plus ein Fieberthermometer gleichzeitig in die Brusttasche eines Kittels stopfen? Man weiß es nicht. Möglicherweise gibt es geheime Rituale, in welchen der Blick eingeübt wird, den der Assistenzarzt über das Patientengut schweifen lässt wie der Hochseefischer den seinen über den Heringsschwarm.

Genauso, aber noch viel schöner, ist der Erweckungsmoment von Justiz-Juristen. Gerade eben noch zog man dahin, desorientiert, pubertierend, redete viel und lernte umso weniger, unschlüssig zwischen Amnesty International und dem Wunsch nach Geschlechtsverkehr mit einem Fernsehstar. Die eine weiß nicht wirklich, ob man Louboutins brauchen wird und ob man das wollen soll, hält es aber für möglich. Der andere übt Sportarten aus, die dank intensivem Einsatz von Markenprodukten eine Verheißung von muskulöser Unerschöpflichkeit signalisieren. Über allem schwebt, sofern der Intelligenzquotient über 100 liegt, eine dunkle Ahnung, dass die entscheidenden Fragen damit noch nicht gestellt sind.

Drittes Semester Jura, Strafrecht Besonderer Teil: „Wie hat sich T strafbar gemacht?“ heißt die „Fallfrage“. (T heißt in den Klausuraufgaben immer der Täter). Es erhebt sich der Jurastudent J und spricht: T ist wegen Mordes zu bestrafen. 15 Punkte! Wochenende gerettet. Aber was entspinnt sich dahinter, im unerforschten Synapsenwald? Welche Monster kommen empor an die nächtliche Oberfläche jenes finsteren Sees unserer Träume, dunkel und blitzend, eklig und triumphal, furchtsam und verschlingend? Wie stellt sich wohl der Jurastudent den Täter T vor? Und wie das Opfer O? Und wie verknüpft er diese Bilder mit den 1.000 Filmen, die er gesehen, und den 1.000 Fantasien der Überwältigung, die er geträumt, und den 1.000 Wörtern der Lebenswelt, die er dazu gehört hat?

Er lernt, dazu „mittelbare Täterschaft“ zu sagen oder „untauglicher Versuch“, „Bande“ oder „Bereicherungsabsicht“. Kein Laie kann ihm von nun an mehr folgen in das Felsengebirge. Er oxidiert das Leben in Figuren, die Emotionen in Theorien, die Grausamkeiten in Symbole. Er lernt, normativ zu denken: Vor dem Sein kommt das Sollen. Und mit der Kraft seiner Worte wird er Teil des Geheimnisses: „Mutabor!“ Die ganze Gewalt dieser Welt wird herunterfallen auf T, den Täter. Wir werden ihn vernichten, verzehren, verbrennen. Denn wir sind die Richter.

Richter sein bedeutet: Macht haben. Teilhabe an einer Macht, die der Einzelne im Zweifel gar nicht kennt: Anders als viele Laien glauben, existiert kein monolithischer Block der Herrschaft des Staats. Richter haben durchweg überhaupt keine Ahnung von den Strukturen, Einrichtungen, Denkweisen der Polizei, der Nachrichtendienste, der Bundeswehr. Sie haben auch keinen Zugang dazu – nicht so ohne Weiteres jedenfalls, wie viele Bürger glauben. Richter können nicht einfach mal in einen Computer schauen und sich das Leben der Bürger ausdrucken lassen. Wenn sie düster drohen, „den Saal räumen zu lassen“, wissen sie, dass sie im Zweifel erst mal bei der örtlichen Polizeidienststelle anrufen müssten, ob da vielleicht grad mal jemand vorbei kommen könnte …

Trotzdem sind sie ein Teil der Macht des Staats, die sie sogar auf besondere Weise verkörpern. Sie üben dies, wie alle Juristen, von Anfang an ein. Schon der 20-jährige Student übt am „Fall“, wie Verbrecher bestraft und Millionensummen beschlagnahmt oder Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Jede Falllösung verlangt die Identifikation mit der Staatsgewalt. Gesetze sind geronnene Macht und Politik, keine natürlichen Erscheinungsformen von Gerechtigkeit. Wer die Gesetze macht, kennt, auslegt und „anwendet“, also durchsetzt, muss von „Gerechtigkeit“ nicht unbedingt viel Ahnung haben. Sie wird aus anderen Quellen gespeist, auch wenn sie, etwa über das Verfassungsrecht, in die Gesetzeshierarchie hineinragen.

Viele Bürger wissen das nicht oder vergessen es. Denn jede praktische Rechtsordnung – die immer auch eine Machtordnung ist – produziert selbstverständlich auch ein Bild ihrer selbst als „Gerechtigkeitsordnung“. Sogar die brutalsten Polizeistaaten tun das. Sogar die außer Rand und Band geratene Mörderjustiz der Nazis hat sich als Verkörperung einer völkischen Gerechtigkeit inszeniert.

Aber auch vielen Richtern sind die Verbindungen ihres Berufs mit der Symbolik von Macht und Gewalt im Alltag nicht bewusst. Viele würden es wohl gar als „Vorwurf“ verstehen, wenn man den Kern ihrer Tätigkeit als Ausüben von Macht bezeichnete. Das ist aber ein Missverständnis. Macht und Gewalt werden im Recht nachgespielt, simuliert, symbolisiert. Daran ist nichts Verwerfliches; es ist der Sinn der Sache.

Diese Nähe ist in den unterschiedlichen juristischen Berufen unterschiedlich ausgeprägt; bei Staatsanwälten und Strafrichtern vermutlich am höchsten. Sie produzieren daher auch am ehesten einen „Korpsgeist“, der aus der bloßen Teilhabe an der Herrschaftstechnik ein hohes Maß an innerer Legitimation, aber auch Starrheit und Hang zur Gleichförmigkeit ableitet.

Beförderung

Warum werden Richter „befördert“? Das ist eine banal erscheinende, aber spannende Frage. Die „Ämter“ der Beförderungsleiter entsprechen den Stufen der Besoldung: R 1 bis R 11. Direktoren kleiner Amtsgerichte werden besoldet nach R 2: wie Vorsitzende Richter am Landgericht oder Oberstaatsanwälte oder beisitzende Richter am Oberlandesgericht. Konkret sind diese Positionen aber in ihrer Ausgestaltung extrem unterschiedlich: Der Direktor eines Amtsgerichts mit sechs Richterstellen kann der „kleine König“ seiner Heimatstadt sein, eine Beisitzerin am Oberlandesgericht womöglich eine verschüchterte „Musterschülerin“, die dem Vorsitzenden des Senats kaum zu widersprechen wagt.

Karrierestufen bis zu den Obersten Bundesgerichten

Spricht man mit jungen Kolleginnen und Kollegen, herrscht bei ihnen oft eine Stimmung der Unbekümmertheit oder wird vorgetäuscht. Beförderung – was soll’s? Diese Haltung mag für den Anfang stimmen, wird aber fast nie durchgehalten: Wer immer auf R 1 bleibt, gilt nicht viel. Spätestens mit 45 ziehen die Kollegen an ihm vorbei und hinterlassen Seelenschmerz, der sich mit 400 Euro mehr im Nettoverdienst nicht begründen lässt. Das ist die Lebensphase, in der Richter „Bekenntnisse“ abzugeben pflegen: Warum ihnen das ganz egal ist. Warum sie sich jetzt doch mal vorsorglich ans Landgericht XY beworben haben. Warum sie das alles mindestens genauso gut könnten, und so weiter.

Eine Beförderung in der Justiz ist eine komplizierte Sache. Ich werde den Teufel tun und sie als eine Veranstaltung der Intrige und Korruption darstellen, wie es manche Ignoranten erhoffen mögen. So einfach ist es nicht. Es ist keineswegs so, dass stets die „Schlechtesten“ und „Ungeeignetsten“ befördert werden, wie es aus den Kantinen raunt. Die Justiz hat, in allen Bundesländern, ein hochdifferenziertes System informeller und formeller Kontrolle, Bewertung und Beurteilung entwickelt, bei welchem die formellen Ausschreibungen und die Anforderungen des sogenannten „Beurteilungswesens“ eine sehr wichtige Rolle spielen. Dies als bewusste Camouflage zu verstehen, wäre ganz falsch.

Trotzdem gibt es natürlich jenen unglaublich starken Sog der „herrschenden Meinung“ und der rechtspolitischen Gleichförmigkeit, der wiederum von den subkutanen, wenn auch oberflächlichen Zugriffen der politischen Parteien auf den Staat gesteuert und bestimmt wird. Ich habe keine Belege und keine Statistik, bin aber trotzdem sicher, dass jenseits der Besoldungsgruppe „R 2“ fast nichts mehr geht ohne parteipolitische Hintergrundmusik. Die Anzahl der „Strippenzieher“ und solcher, die es gerne wären, ist unermesslich; man kann nur darauf vertrauen, dass sich die Dummköpfe gegenseitig neutralisieren.

In fast allen Bundesländern gibt es „Erprobungen nach der Erprobung“, das heißt Abordnungen an Obergerichte zur Erprobung der Beförderungstauglichkeit von R 1 nach R 2. Man nennt das auch „Drittes Staatsexamen“; es ist nicht selten ein demütigender Härtetest auf Angepasstheit. Andere Länder machen das, indem sie nur im „Zickzack“ befördern: Im Wechsel zwischen (weisungsabhängiger) Staatsanwaltschaft und (weisungsunabhängigem) Richteramt. Beide Methoden sorgen effizient für die Gewähr hoher Gleichmäßigkeit.

Bundesgerichte

Wie so vieles erreicht auch das Beförderungswesen der Justiz seinen Höhepunkt bei den Obersten Bundesgerichten. Hier sind die Richter aber nicht mehr (nur) „befördert“, also innerhalb einer beamtenähnlichen Hierarchie nach deren Kriterien nach oben gelangt. Sie sind „gewählt“ vom Richterwahlausschuss des Bundes, der aus den 16 Justizministern und 16 Abgeordneten des Bundestags besteht. Das klingt irgendwie hochpolitisch und verfassungsnah, ist in der Wirklichkeit aber nur eine Fortsetzung des beamtenmäßigen Hauens und Stechens mit anderen Mitteln und Begriffen. Die Landesjustizminister (als Personen) haben natürlich wenig Ahnung von den Fähigkeiten und Persönlichkeiten der Kandidaten. Dasselbe gilt für die meisten weiteren Mitglieder des Richterwahlausschusses. Gesteuert wird der Vorschlagstopf daher von den Landesjustizverwaltungen und den Parteien. Es gibt Personalakten – nach glaubhaften Berichten werden sie von den Mitgliedern des Ausschusses allerdings nicht gelesen. Das „Wahl“-Ergebnis wird von den „Stimmführern“ der zwei großen Parteien (CDU/CSU und SPD) meist im Vorhinein ausgehandelt und dann als Wahlempfehlung eingespeist. Die Parteien verteilen unter sich den Staat.

Auf die „Liste“ der Kandidaten kommt man durch Benennung eines Bundeslandes oder einer Fraktion des Bundestags. Die Gründe für die Auswahl können ganz unterschiedlich sein. Jeder Bundesrichter, der gewählt wurde, hält natürlich die eigene Wahl aus sachlichen Gesichtspunkten für überzeugend. Es gibt abweichende Meinungen, die auch nicht schlecht klingen. Eine Methode, nur die Besten der Besten – was immer das sein mag – zu den obersten Bundesgerichten zu befördern, ist die derzeitige Regelung gewiss nicht. Alternativen wären gewiss auch nicht frei von Fehlerquellen.

Jeder vernünftige Mensch sollte annehmen, dass mit der Wahl/Ernennung zum Richter an einem Obersten Bundesgericht die Sache mit der Beförderung dann auch einmal auf sich beruhen könnte: Was soll’s dann noch? Hat man nicht alles erreicht?

Das Gegenteil ist der Fall: Das Karussell „Wer wird wann wo was?“ dreht sich weiter wie zuvor, bloß ein bisschen gravitätischer vielleicht. Wer ist „stark“ und wer ist „schwach“? Wer kann in vier Jahren stellvertretender Senatsvorsitzender werden und wer in zehn Jahren Senatsvorsitzende? Die Vorsitzenden der Senate, zwei Besoldungsstufen über den „einfachen“ Bundesrichtern, schreiten einher, als seien ihnen die Weisheit und das Amt angeboren. Im dunklen Hintergrund versuchen sogenannte „Arbeitsgemeinschaften“ der politischen Parteien irgendwelche „Strippen“ entweder zu erfinden oder an ihnen zu ziehen – beides ist schwer unterscheidbar, da die Wichtigkeitsattitüde in beiden Fällen dieselbe ist –, natürlich nur, um das Gute zu erreichen und das Schlechte zu verhindern. Bei näherem Hinsehen geht es aber meist doch bloß um Gerede zur Promotion höchstpersönlicher Ambitionen.

Die deutsche Justiz zu Unrecht diffamiert
Karriere, Richter, Recht

So viel zur „Karriere“ und zum „Allzu-Menschlichen“. Man findet es, in spezifischer Form und beeindruckender Ausprägung, ganz gewiss auch bei der Justiz. Jeder, der irgendeinen Scherz über einen Richter kennt, hat vermutlich irgendwie Recht.

Trotzdem will ich an dieser Stelle einem verächtlichen Bild unserer Justiz als überwiegend von persönlichen (Des-)Interessen und Inkompetenz oder gar dem „Willen zum Unrecht“ getriebener mit aller Kraft entgegentreten. Ich habe auf verschiedenen Ebenen der deutschen Justiz gearbeitet und auf jeder ein paar Dummköpfe, Kleingeister und Menschenverächter kennengelernt. In der großen Mehrzahl aber habe ich Menschen getroffen, die sich nach Kräften redlich und mit hohem Engagement bemühen, das Beste aus unserem Rechtsstaat zu machen. Das Maß an Verantwortung, das einzelne Richterinnen und Richter auf sich nehmen, obwohl niemand es ihnen „dankt“ und die Verwaltung gelegentlich in zynischer Weise darüber hinweggeht, ist beeindruckend.

Seit einiger Zeit reist ein ehemaliger Bundesminister durch die Talkshows und Buchhandlungen des Landes und liest aus seinem 30.000 Mal verkauften Pamphlet über den angeblich besorgniserregenden Zustand der deutschen Justiz vor. Kritik an der Undifferenziertheit und sachlichen Niveaulosigkeit seiner Beschimpfungen, die er in bester Bild-Manier als „Kampf für die kleinen Leute“ und gegen den „Saustall Justiz“ inszeniert, ermuntert ihn nur dazu, seinen Kritikern Blindheit, bösen Willen oder das Motiv zu unterstellen, den „anderen Krähen“ kein „Auge auszuhacken“. Nun ja. Der Bundesminister a. D. irrt.

Es hat bisher keinen einzigen „systematischen“ Korruptionsfall in der deutschen Justiz gegeben. Es gibt ein teilweise verqueres, aber standespolitisch funktionierendes Bewusstsein von „Unabhängigkeit“ und Weisungsfreiheit. Selbst da, wo die Gestaltung des Rechts außer Rand und Band geraten ist – bei den sogenannten Absprachen (Deals) im Strafverfahren – war dies überwiegend einem durchaus sympathischen Misstrauen gegen staatliche „Überregulierung“ (des Prozessrechts) und dem (etwas kindlichen) Bestreben nach „Gerechtigkeit“ geschuldet. Dass Absprachen gegen Bequemlichkeit getauscht wurden (und noch immer werden), ist schlimm genug. Dass sie gegen Geld getauscht wurden, ist uns erspart geblieben. So soll es bleiben; unter anderem deshalb ist dem Unwesen illegaler Absprachen mit allen rechtlichen Möglichkeiten entgegenzuwirken. Aus dem Blickwinkel des Auslands – auch in Europa! – ist die deutsche Justiz ein Paradies der Unabhängigkeit, Effizienz und Bürgernähe.

Es gibt unzählige Staaten auf der Welt – einige auch in Europa –, in denen die Justiz in den Augen ihrer Bürger nichts anderes ist als ein Haufen korrupter Privilegienjäger. Wenn es so weit ist, ist der Staat am Ende.

Vom Studienwunsch zum Beruf

Diebstahl ist die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in Zueignungsabsicht. Roland Freisler, auch er ein deutscher Richter und nicht weniger intelligent als tausend Richter nach ihm, sagte vor 70 Jahren: T ist ein diebischer Charakter, und wenn die fremde Sache, die er sich zugeeignet hat, nicht beweglich war, dann bestrafen wir ihn trotzdem („als Dieb“), denn auf die gesetzliche Abgrenzung zwischen beweglich und unbeweglich kann es ja wohl nicht ankommen.

Das – oder Ähnliches – finden, wenn man sie lässt oder entsprechend fragt, auch heute noch 80 Prozent unserer Mitbürger überzeugend. Die mutigen Talkshow-Moderatoren, die allwöchentlich Ungerechtigkeiten „entlarven“, sind nicht das Gegenteil davon, sondern oft genug eine peinliche Persiflage.

So „geht“ Recht aber nicht, und erst recht nicht Justiz. Auch und gerade solchen Erwartungen und Zumutungen, die oft näher liegen, als man denkt, muss die Justiz entgegentreten und widerstehen. Die Sache ist ein Gesamtkunstwerk. Sie benötigt, um zu gelingen, starke, selbstbewusste, unabhängige, anständig bezahlte Personen. Ganz normale Volljuristen also, mit ein wenig Liebe zur Sache und Mitgefühl für die Menschen.