Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


An der Weltfremdheit unserer Richter gibt es seit jeher viel Kritik. Ist der Vorwurf richtig? Und was kann man tun?

23. Juni 2015, 16:45 Uhr

Akzeptanz, Verständlichkeit und Wirkung des Rechts, gerade auch des Strafrechts, hängen unmittelbar vom Personal ab, das dieses Recht vollzieht und somit repräsentiert. Das sind, an erster Stelle, die Richter. Wer, wie der Kolumnist, eine Zeitlang in einem (Justiz-)Ministerium gearbeitet hat, weiß natürlich, dass Justizministerinnen und Justizminister, Staatssekretärinnen und Staatssekretäre, Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter das grundlegend anders sehen. Dasselbe gilt für Mitglieder des Rechtsausschusses sowie die geheimnisumwitterten „Strippenzieher“ der Parteien: Sie alle und manch andere sind ziemlich sicher, dass der Rechtsvollzug vor allem bedeutet, einen „Justizapparat“ zu leiten, der den wahrhaft Kundigen und Mächtigen (also ihnen selbst) wie ein Mühlstein am Hals hängt und vor allem Schwierigkeiten bereitet. Aus Sicht des Ministers – und daher auch aus dem Mund seines letzten Hilfsreferenten im entlegensten Referat – sind die Justiz und ihre Gerichte nur „der nachgeordnete Bereich“, je nach Gelegenheit und Ziel auch genannt: „unsere Praxis“.

Das Gruselige am „nachgeordneten Bereich“ ist, aus der Sicht des Ministeriums, seine Unübersichtlichkeit. Außerdem gibt es noch ein paar schreckliche Erzengel mit flammenden Schwertern, die da heißen „Unabhängigkeit“, „Unversetzbarkeit“ und „Deutscher Richterbund“. Sie liegen, am Eingang zum Paradies, meist in schwerem traumverhangenem Schlummer, verfügen allerdings über ein hoch entwickeltes System von Rezeptoren, mit denen sie selbst bei völliger innerer Abwesenheit erahnen können, ob sich jemand an ihre Pfründe heranpirscht. In diesem Fall erheben sie sich mit Donnerschall und Sturmgebraus in den Revolutionsblättern Zeitschrift für Rechtspolitik und Deutsche Richterzeitung und fahren hernieder auf die Feinde des Rechts und der freien Zeiteinteilung. Das betrifft freilich nur die Richter. Sie verschwinden, kaum dass das Ministerium sie freundlicherweise ernannt hat, hinter einer nebligen Milchglasscheibe der disziplinaren Unerreichbarkeit.

Wie anders dagegen die Staatsanwaltschaft: Hierarchisch, weisungsabhängig, beamtet. Und berichtspflichtig! Es gibt Regelberichtsaufträge und Sonderberichtsaufträge. Es gibt Anlassberichte, Ergebnisberichte und (die allergefährlichste Variante) Absichtsberichte. Wer sich die Absicht einer nachgeordneten Behörde berichten lässt, wie diese zu verfahren gedenkt, ist bis ans Ende aller Archive mitverantwortlich für ihre Umsetzung. Darum, oh Unterabteilungsleiter oder Staatssekretär, sorge dafür, dass niemals ein grünes Namenszeichen in die Akte gerät (für ministerialunerfahrene Leser: Grün schreibt der Minister. Rot der Staatssekretär, türkis der Abteilungsleiter, blau der Unterabteilungsleiter, schwarz der Referatsleiter)! Generalstaatsanwaltschaften (bei den Oberlandesgerichten) und Staatsanwaltschaften (bei den Landgerichten) kann man also steuern, befragen, im Notfall auch „bitten, die nachfolgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen“.

Die ganze Sache ist also ein bisschen kompliziert und mit den üblichen Vorurteilen nicht zu durchdringen. Aus dem Inbegriff des Kolumnistenlebens folgt daher hier ein kurzer Lehrgang zu Geburt, Aufzucht und Wesen des Strafrichters.

Erstes Semester

Chaos des Erlebens, Fühlens. Vorfreude und vorauseilende Anpassung an das, was alle (angeblich) tun (müssen). Große Empörung und Aufregung, weil BAföG-Amt vier Wochen zu spät zahlt, Kühlschrank kaputt, Lehrstuhlsekretärinnen auch noch was anderes zu tun haben als wichtige kleine Prinzessinnen zu trösten oder zu verstehen oder supergut zu finden, und der Herr Professor mit der ersten persönlichen Beratung erst mal abwarten möchte. Wochenende zu hause. Wichtigste Listen mit Büchern werden überreicht. Erste Besuche in Fachbuchhandlungen. „Grundkurs“ nicht vor nächstem Dienstag lieferbar! Verzweiflung.

Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil, zweigeteilt: jeweils 300. Vorne ein echter Professor. Irgendwie anders als kürzlich noch Herr Müller im Leistungskurs Deutsch. Gravitätisch, genervt, stark gefordert. Fünfzehn Minuten Ansagen von organisatorischen Einzelheiten: Wo wer was Konversatorium; wann erste Probeklausur; wo und bis wann Anmeldung; warum ist das Skriptum noch nicht lieferbar? Darf man auch das des letzten Semesters benutzen?

Bereits im Anschluss an die erste Veranstaltung der ersten Vorlesung werden einige Studenten nach vorne drängen, um dem Herrn Professor bedeutende Fragen zu stellen. Könnten Sie den Teil über das Rechtsgut noch mal kurz zusammenfassen? Welches Ihrer Werke sollte ich mir als Erstes kaufen? Gibt’s das auch billiger? Und so weiter.

Der Jurist ist seiner Natur nach ein furchtsamer Mensch

Es gibt Studenten, die ernsthaft glauben, man könne bereits zu diesem Zeitpunkt alles verlieren. Sie sind sehr (!) nervenaufreibend. Schmerzhafter (weil dümmer) sind allerdings diejenigen, die meinen, man könne bereits jetzt entscheidende Weichen zum Erfolg stellen. Sie möchten 16 Punkte, bevor sie überhaupt wissen, was 16 Punkte sind – aus dem einzigen Grund, dass sie sich möglichst alsbald wieder einzurichten wünschen in die kuschelige Rundum-Fürsorge der gymnasialen Projekte. „hABIlitation“ 2015 haben die Wahnwitzigsten unter ihnen auf das Heckfenster ihres Polo geklebt, und fahren damit spazieren. Andere begnügen sich mit „arABIsche Nächte“. Nur ein einziges Mal in meinem Leben war ich begeistert: Als ich am Heck eines Elektroinstallateurs den Aufkleber las: „Qualifizierter Hauptschulabschluss 1987“.

Drittes bis achtes Semester

Jura also. Nicht selten ist der Papa Rechtsanwalt, seltener die Mama Richterin am Arbeitsgericht. Jurastudenten entstammen nicht dem Lumpenproletariat und nicht der herrschenden Schicht, sondern dem so genannten Mittelstand. Es gibt viele sogenannte „Aufsteiger“ unter ihnen: Als in den sechziger Jahren die Justiz-Soziologie erfunden wurde, war der Großvater oft Handwerker, der Vater mittlerer Beamter. Heutzutage, da das Handwerk von einer dritten Einwanderer-Generation dominiert wird, hat sich die Sozialstruktur etwas in die Richtung verlagert, die (noch immer) als „oben“ gilt: Noch immer sagen Jurastudenten, fragt man sie nach den Berufen ihrer Eltern, mit hoher Zuverlässigkeit: Lehrer, Rechtsanwalt, Apotheker, höherer Beamter. Fast niemand sagt: Vorstand bei Daimler, oder Hartzer. Der Jurastudent spielt Tennis, seltener Golf, fast nie Fußball. Die Studentin liebt Ballett, spielt Flöte, nicht Posaune. High Heels trug sie beim Abi-Ball. Die Haare sind sehr ordentlich. Hier sucht, liebe Lehrstuhlinhaber jenseits der 50, wirklich niemand ernsthaft nach Sugardaddys in der Brennstufe 3!

An dieser Stelle muss man aber unbedingt ein paar lobende Worte über den Mittelstand verlieren. Der untere, mittlere und gehobene Mittelstand, er lebe hoch! Er beschert uns die unglaubliche Selbstgewissheit, mit der heute Nachmittag im Frankfurter Westend vor meinem Fahrzeug eine schöne junge Frau minutenlang die Straße sperrte, um ihrem sechs Meter langen, zweieinhalb Tonnen schweren Geländewagen drei Kinder und allerhand Samstagseinkäufe zu entnehmen. Er besorgt uns den Umweltschutz und glaubt an die Notwendigkeit der Pressefreiheit. Er zahlt 90 Prozent der Steuern und lässt sich mit ein paar Radwegen, Frauenparkplätzen und Programmen zur Förderung von geschiedenen Chefsekretärinnen abspeisen, in der ziemlich abwegigen Hoffnung, so komme er davon. Der Mittelstand fürchtet nichts so sehr wie den Exzess, und er liebt nichts so sehr wie die mittlere Tonlage, den Ausgleich, die Ruhe. Daher gebiert er Juristen wie Ameisen.

Denn – und das ist die Kehrseite: Der Jurist ist seiner Natur nach ein furchtsamer Mensch. Er bewegt sich nur ungern dort, wo es heiß, staubig, laut und gefährlich ist. Der „Stahlkocher“ an sich, Lebensgefährte oder Zwillingsbruder des örtlichen SPD-Kandidaten, ist ihm so vertraut wie der Kanzlerin der „Original Bürgerrechtler“. Vielleicht heißt ja Rindswurst mit Pommes-Rotweiß so in Neubrandenburg oder Zwickau; das ist der Vorsitzenden dann aber auch egal.

Überhaupt: diese Ost-Juristen! Ein paar von ihnen sind noch im Dienst. Früher mussten sie, im Grundsatz jedenfalls und wenn ihnen nichts Durchgreifendes einfiel, ihre Dienstzimmer selbst putzen und hatten Bereitschaftsdienste für den Fall des imperialistischen Überfalls am Wochenende. Wenn sie nicht weiter wussten, riefen sie beim Obergericht an und holten sich Rechtsweisung. Sie verdienten etwas weniger als Straßenbahnfahrer und mühten sich dafür redlich, einen über alle Maßen sozialschädlichen Einbruch in eine Datsche am Kolkwitzer See samt Wegnahme von drei Gläsern Spreewälder Gurken und zwei Flaschen Wilthener Goldbrand mit der angemessenen Strafe von fünf Jahren aufzuarbeiten. Ab 1990 kamen dann 3.000 frisch geschiedene Elite-Juristen aus Bochum, Erlangen und Darmstadt mit original Mobiltelefonen zu Hilfe und erklärten den Brüdern und Schwestern, wie Rechtsstaat geht. Sie waren begeistert von der Gefügigkeit der sogenannten Verteidiger und den Pfennigabsätzen der jungen Muttis. So wuchs zusammen, was nicht zusammen passte.

Der Jurist hat eine Vorstellung von der Welt, die auf einzigartige Weise gebaut ist, nämlich von oben nach unten aus lauter pyramidenförmigen Leitern, die aus zweierlei Sprossen bestehen: aus Begriffen und aus Wörtern. Das klingt jetzt zugegebenermaßen etwas rätselhaft und ist es auch. Der Unterschied zwischen Begriffen und Wörtern ist nämlich das größte Geheimnis des Juristenwesens. Wollte man sagen, er entspreche dem zwischen Neurologie und Schmerz oder dem zwischen Dr. Müller-Wohlfahrts sehenden Fingern und einem anständigen Kreuzbandriss, so läge man noch immer knapp daneben. Die Doppelstruktur der Welt aus Begriffen und Wörtern so zu erlernen, dass vernünftige Gespräche zwischen Juristen und Orthopädinnen, Richtern und Zeugen, Rechtsanwältinnen und Ingenieuren nur noch sehr ausnahmsweise möglich sind, ist die Aufgabe und der eigentliche Inhalt des Jurastudiums.

Falls Sie den letzten Satz bedenklich finden: Fragen Sie Jurastudenten, wann sie aufgehört haben, sich mit ihren Medizin oder Elektrotechnik studierenden Mit-Abiturienten zu unterhalten. Der Zeitpunkt liegt zwischen dem dritten und dem fünften Semester. Warum sollte sich jemand, der eine Hausarbeit geschrieben hat über die Rechtfertigung des Abschusses von Passagierflugzeugen, jemals wieder jemandem verständlich machen müssen, der nichts weiß außer die lateinischen Namen aller Körperarterien?

Kleine Übung und Große Übung, Seminar und Oberseminar, Besonderer Teil eins, zwei und drei. Zwischenprüfung und Klausurenkurs und noch ein Kurs und ein Crashkurs und was kann G von S verlangen? und wie zum Teufel ist T zu bestrafen? So geht das Leben dahin. Man lernt, dass „befriedigend“ schon eine ziemlich gute Note ist und dass der Durchschnitt aller Juristen über ein selbst zugemessenes „ausreichend“ nie hinauskommt.

Klaus Eschen, ein Rechtsanwalt und Notar in Berlin, hat die Juristenausbildung einmal mit der Abrichtung eines Flohzirkus‘ verglichen: Die Flöhe in einer Schachtel springen gegen den Glasdeckel und stoßen sich so lange die Köpfchen, bis sie gelernt haben, weniger hoch zu hüpfen. Dann legt man die Glasplatte etwas niedriger. So geht es immer weiter, bis die Flöhe gelernt haben, gar nicht mehr hoch hinaus zu wollen, sondern nur noch zu kriechen, um kleine goldene Kutschen zu ziehen. Dann ist die Ausbildung beendet und man kann den Deckel endgültig entfernen. Dies, so schrieb Eschen, sei in der Juristenausbildung der Moment des zweiten Staatsexamens.

Nieder mit den Zirkusdirektoren! – Freiheit für Flöhe!

Ein so böser Blick ist natürlich übertrieben. Er stammt aus den wilden westdeutschen siebziger Jahren und ihm liegt vermutlich eine viel zu idealistische Vorstellung vom ungebundenen Leben des umherschweifenden wilden Flohs zugrunde: Nieder mit den Zirkusdirektoren! – Freiheit für Flöhe!

Aber, liebe Jurastudenten aus Bad Homburg und Charlottenburg, einige Körnchen Wahrheit enthält er doch, wenngleich auch andere Professionen ihre Deformationsrituale haben: Wer jemals die angelegten Arme von Assistenzärzten betrachtete, während ihr Chefarzt sie vor dem Privatpatienten herunterputzte, der ahnt, wie und warum deutsche Ärztekammern wurden, was sie sind.

Lesen, Sprechen, Repetieren

Wer Jurist werden will, muss lesen und sprechen lernen, falls er/sie es nicht schon mag. Das einzige Hilfsmittel der Jurisprudenz ist die Sprache. Wer sie nicht mag, kann unmöglich ein guter Jurist werden. Wem es gleichgültig ist, wie Vorzeitigkeit ausgedrückt wird oder welche Bedeutungsfeinheiten der Konjunktiv in der Zeitenfolge, kombiniert mit Hilfsverben, bereit hält, der mag Currywürste verkaufen, mir aber nicht weismachen wollen, er habe verstanden, um was es geht. Wer nicht klar schreiben kann, der kann auch nicht klar denken. Das ist eine bittere, aber unabweisbare Erkenntnis.

Deshalb sollten Jurastudenten ab und zu ein Gedicht schreiben, wie früher. Oder ein bisschen Gitarre spielen.

Außerdem scheint es mir erforderlich darauf hinzuweisen, dass auch Juristen am „Bildungskanon“ mitzuarbeiten haben. Unerträglich die verstaubte, unintelligente Attitüde eines längst versunkenen Bildungsbürgertums, die noch immer die Dinners, Fakultäten und Vortragsabende der Juristischen Studiengesellschaften dominiert. Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, über die Skalen-Theorie von John Coltrane absolut nichts, über irgendeinen albernen Toskanini-Interpreten aber jedes Detail zu wissen? Wo bleiben die Habilitanden, die ihren umherkriechenden Herren „Lehrern“ Grundkenntnisse des Sex-Pistol-Geheimnisses abverlangen oder zumindest ein minimales Verständnis von Minimal Art? Muss es wirklich sein, dass die sogenannten „Gattinnen“ (wahlweise: „Begleitungen“; jedenfalls „Damen“) von Ordentlichen Professoren, Landgerichtspräsidenten oder Verbandslobbyisten einen ganzen Abend lang über ihre Vorgärten daherfaseln und über die Lieblingsspeisen ihres heimischen Geistesgiganten, als wüssten sie es mit ein bisschen gutem Willen nicht besser? Gibt es, Ihr furchterstarrten Kinder und Enkel von Gitarrengöttern und Welterrettern, nicht in irgendeiner Ecke Eures Selbst doch noch ein bisschen Rock ’n‘ Roll, das mehr ist als eine von mehreren möglichen Attitüden für den nächsten Samstag?

Aber zurück zum Studium: Wer im dritten Semester zur Vorlesung Sachenrecht I die Financial Times mitbringt und in der Pause demonstrativ liest, ist ein bisschen früh dran. Das Maß der Verkennung spricht gegen den Erfolg der Strategie. Viel wichtiger wäre es, einmal pro Monat ans örtliche Amtsgericht zu gehen und sich ein paar Verhandlungen anzuschauen. Und abends High Noon zu gucken. Und sich zu überlegen, was man eigentlich mit seinem Leben anfangen will: jenseits von Klischees. Gerade das Fach Rechtswissenschaft bietet dafür unendlich viele Möglichkeiten, Notwendigkeiten, Anreize.

90 Prozent der Jura-Studenten gehen (noch immer) in sogenannte „Repetitorien“. Das sind gewerbliche Lehr-Institute (früher nur private), die tatsächliches oder behauptetes „Examenswissen“ vermitteln, in mündlichen Kursen, Klausuren-Kursen und „Skripten“. Man zahlt zwischen 100 und 500 Euro pro Monat dafür, dass man „Musterklausuren“ bearbeiten darf, Zugriff auf „Definitionen“, Fragestellungen und „examensträchtige Probleme“ erhält sowie den Gesamt-„Stoff“ in formalen und inhaltlichen Fress-Happen aufbereitet erhält, die es gestatten, „das Examen“ erfolgreich zu schreiben.

Es gibt „berühmte Repetitoren“: Charismatische Figuren, denen es gelungen sein soll, die Gelehrsamkeit der Ordinarien mittels genialer Didaktik in das zu verwandeln, was sie sein sollte. Und die „ihre“ Studenten, sofern sie ihnen nur treu folgten, tatsächlich auf die Insel der Seligen führten: zum bestandenen Examen.

Kürzlich sagte mir ein deutscher Strafrechtsprofessor: Es läuft doch ganz gut mit unserer universitären Ausbildung. Es gelingt uns zuverlässig, die Studenten bis zu einem Standard auszubilden, der es ihnen erlaubt, erfolgreich Repetitorien zu besuchen! Er meinte das natürlich ein bisschen ironisch. Aber es ist viel Wahres daran. Heutzutage überholen die Universitäten die Repetitorien auf der rechten Spur: Sie versuchen, „bessere“ Repetitorien anzubieten, teilweise mit großem Erfolg (was wiederum die privaten Repetitorien-Unternehmer betrübt).

Das Staatsexamen gilt als schwierig, geheimnisvoll, unkalkulierbar

Im Schlachtgetümmel um Marktanteile geht allerdings die Frage ein bisschen unter, was das überhaupt sein soll: „Repetitorium“, und was daran „besser“ oder schlechter“ sein mag. Die Rückkehr der Fakultäten auf den Markt des Repetierens könnte ein Zeichen sein für Fortschritt, didaktische Modernität, praktische Orientierung. Sie könnte aber auch ein Menetekel sein: ein Vorzeichen des Todes von Rechtswissenschaft als Verstehenswissenschaft und ihres Fortbestehens als Technik. Die Meinungen darüber gehen weit auseinander: Da gibt es die Ordinarien, die meinen, allein ihre letzte Begegnung mit Heidegger oder Kant sei der goldene Schlüssel zum Verständnis eines Vertrags. Sie jammern ohne Unterlass über den Verfall von irgendwas. Und es gibt die Sieger der Evaluation, die Quotenjunkies der Rechtswissenschaft, die Escortgirls einer verschlankten Wissenschaft der „herrschenden Meinung“. Sie sind mal hier, mal da. Sie haben Veröffentlichungslisten, die sich jenseits des Menschenmöglichen bewegen. Was ist besser?

Examen

Um keinen akademischen Abschluss wird ein solches Brimborium gemacht wie um den zweigeteilten Ausklang des Jura-Studiums: das Erste und das Zweite Staatsexamen (seit 2002: „Erste Prüfung“ und „Zweite Staatsprüfung“). Es gilt als schwierig, geheimnisvoll, unkalkulierbar. Das ist richtig und falsch zugleich. Ich bin mir sicher, dass die Mehrzahl der Bürger überhaupt nicht weiß, was mit den Worten gemeint ist. Sie reden trotzdem tapfer drauflos über die Justiz und die Juristen und wissen alles über die Gerechtigkeit, und täuschen sich dauernd, und werden daher wieder verachtet von den Kundigen, und so weiter. Obwohl es doch eigentlich alle angeht, wie man ein „Richter“ wird, und das gar nicht so schwierig zu verstehen ist.

Der extreme Druck, der dem Examen innewohnt, kommt nicht aus der Sache, sondern aus den Umständen. Damit ist gemeint: aus dem Flohzirkus und seiner Präsentation. Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie studieren Elektrotechnik. Während des Studiums und im Examen wird mit allen Mitteln verhindert, dass Sie so arbeiten, wie es den praktischen Bedingungen des Ingenieursberufs entspricht: Sie müssen alle mathematischen Formeln von Hand ausrechnen. Sie dürfen keine Verzeichnisse von DIN-Normen oder technischen Standards benutzen, sondern müssen alle möglicherweise examensrelevanten Vorschriften auswendig lernen und kritiklos anwenden. Wenn Sie besonders gute Noten haben wollen, müssen Sie auch noch zwei oder drei längst verworfene Methoden lernen und in der Examensklausur vortäuschen, dass Sie diese Methoden noch einmal ernsthaft prüfen, um dann wie von ungefähr auf die „herrschende“ zu kommen. Jeder Prüfer weiß, dass das alles nur auswendig gelerntes Zeug ist und keinesfalls auf ernsthaften Abwägungen beruht (zu denen Sie gar keine Zeit haben). Das Examen müssen Sie nach zehn Semestern ablegen. Auf der Angebotsliste für Lehrveranstaltungen ab dem 7. Semester stehen, alternativ: a) Seminare über „Die Verantwortlichkeit von Ingenieuren in der globalisierten Ökonomie“, und b) „Repetitorien: Crashkurs aktuelle Normen“. Wohin würden Sie da gehen? Und wohin sollte nach Ihrer Ansicht Ihr studierender Sohn gehen? Eben.

In der „Ersten Prüfung“ sitzen die Kandidaten vor leeren Blättern und einem „Sachverhalt“. Ihr einziges Hilfsmittel ist eine Sammlung von Gesetzestexten. Sie haben „Fälle“ zu lösen, überwiegend in der Form eines „Gutachtens“. Das heißt: Der Sachverhalt steht – in eklatantem Gegensatz zum praktischen Leben – fest; das Recht ist – im Gegensatz zum praktischen Leben – ohne jegliche Hilfe allein aus einem willkürlichen Kanon von auswendig gelernten Regeln und „Definitionen“ zu entwickeln. Kein einziger (!) Jurist arbeitet in der Wirklichkeit so: Dort gibt es vielmehr eine Vielzahl von Hilfsmitteln: online, auf Speichern, in zahllosen Büchern und Zeitschriften. Man arbeitet in Gruppen und entscheidet in Kollegien. Niemand muss heute mehr „Leitsätze“ auswendig lernen oder „Definitionen“, oder Gesetzestexte ohne Hilfsmittel auslegen. Die Anforderung, welche die „Erste Prüfung“ simuliert, ist daher vom wahren Leben weitestmöglich entfernt. Es handelt sich bei dieser Prüfung, genau gesagt, um eine ergebnisfeindliche, unrealistische und demütigende Situation.

Wenige (!) der Prüfer in der Ersten Prüfung hätten unter solch absurden Bedingungen eine plausible Chance, das Examen mit einer besonders guten Note zu bestehen. Jeder Prüfer tut mit wichtiger Miene so, als sei die Kenntnis gerade des von ihm gestellten Spezial-Problems eine Art „Grundvoraussetzung“ der juristischen Weltdurchdringung. Unsinn! Der Kolumnist war viele Jahre lang Prüfer im Ersten und im Zweiten Juristischen Staatsexamen, und kann bezeugen: Die auf wundersame Weise präsent gehaltenen Rechtskenntnisse der Prüflinge übertrafen in der Breite diejenigen der Prüfer mitunter um Längen.

Ergebnis und Ziel derartiger Prüfungen sind klar und eindeutig: Es geht um das Auswendiglernen flexibler, jederzeit änderbarer, beliebiger Inhalte. Sie heißen: „Definitionen“: „Drohung ist, wenn …“, „korruptive Unrechtsvereinbarung ist, wenn …“; und so fort. Sie müssen sich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung orientieren: Alles andere wäre „kontraproduktiv“. Von ferne kräht der Herr Strafrechtsprofessor: „Andere Ansicht!“ Der arme Student muss also auch noch eine in 95 Prozent der Fälle unverstandene Anzahl von sogenannten „abweichenden Meinungen“ auswendig lernen: Nicht etwa, damit er davon träumt und sie beim WG-Frühstück am Sonntagmorgen ventiliert. Sondern damit er einen zusätzlichen Punkt damit verdient, dass er hinkritzelt, „a.A.“ (anderer Ansicht) seien „Teile der Literatur“ (jeder, der nicht wahnsinnig ist, weiß, dass der Student weder „die Literatur“ noch auch nur „Teile“ davon gelesen hat, sondern nur blindlings die Fußnote eines Skriptums zitiert!).

Die Professoren, die solches Tun veranstalten und leiten, leben in einer eigenen Welt. Das ist das Schöne. Sie jammern, dass niemand sich mehr interessiere für die Elaborate der Gelehrsamkeit, und tun sehr viel dafür, damit es so bleibt.

Es ist nicht alles Schnee, was glitzert, und nicht alles falsch, was weh tut. Das „Staatsexamen“ (wie immer es heißen mag) ist ein echtes Wunderwerk der Evolution und der Sublimierung. Es verlangt vom Kandidaten, größtmögliche Intelligenz und Kreativität in acht mal fünf lebensentscheidenden Stunden herunterzufahren auf die größtmögliche Anpassung und Variabilität. Das sollten Sie, liebe Eltern, fortan immer bedenken: Hier, in diesem Moment, in diesem Triumph, verwirklicht sich alles, was Sie ihrem Kind je angetan haben. Von jetzt an ist es, für alle Zeit, wie Sie. Und schert sich einen Teufel um Ihre Lebensweisheiten. Da darf man schon einmal eine gemeinsame Träne der Freude vergießen!

Das Wichtigste an der „Ersten Prüfung“ war früher das halbe Wörtlein „Staats…“ Es garantierte, dass all das, was Sie jemals über Wissenschaft dachten, vor der „herrschenden Meinung“ nicht mehr wert ist als der Furz einer Ratte. Seien Sie beruhigt: Die Änderung der Terminologie hat das nicht verändert. Was des Staates ist, bestimmt der Staat. Er fährt hinaus auf die wilde See der Erkenntnis und möchte darin Staatsanwälte und Richter fangen, und wenn dabei als Beifang noch ein paar Regierungsräte und Rechtsanwälte anfallen, kann das nicht schaden. Mit anderen Worten: Was das alles soll, bestimmt der Staat! Er weiß, in der Gestalt der beamteten Professoren und „Praktiker“, was wichtig, richtig, vertretbar und unvernünftig ist im Strafrecht. Die „Erste Prüfung“ könnte allen schnuppe sein, wäre es nicht die Vorstufe zur „Zweiten Staatsprüfung“. Und die ist eine „Einstellungsprüfung“: Sie bestimmt, wer eine „Stelle“ ergattert. Und wer am langen, langen Ende all der Auswendiglernerei und der sieben Jahre währenden Orientierung an der „herrschenden Meinung“ die unvorstellbare Chance erhält, ein unabhängiger Richter (respektive unabhängige Richterin) zu werden. Dann blickt man zurück vom Gipfel dieses Triumphs auf die Ebenen der Jugend und der Ambitionen, und denkt: Das habe ich aus mir gemacht.

Studienerfolg

Haben Sie keine Sorge, Studentinnen und Studenten, Eltern und Freunde! Ihr Sohn / Ihre Tochter wird es mit einer etwa 60-prozentigen Wahrscheinlichkeit schaffen! Er/sie jammert viel, kostet viel, redet viel. Das ist nur jetzt so. Am Ende ist es nicht so schwer.

„Jura“ ist nicht ein Fach der Welt-Erkenntnis, sondern eines der Lebenswelt-Beherrschung. Wer das verstanden hat, dem erscheint das Recht nicht mehr, wie im ersten Semester, als ein unvorstellbar komplexes Korallenriff, sondern als ein in klaren Linien organisierter Gärtnereibetrieb mit sich selbst als Master of the Universe in der grünen Schürze. HNO-Ärzte, die sich bis ans Ende ihrer Tage durch den Schleim fremder Nasennebenhöhlen tasten müssen, können sich so etwas Schönes gar nicht vorstellen. Und auch nichts vergleichbar Bedrückendes. Deshalb reden mein HNO-Arzt und ich dauernd aneinander vorbei.