Nachfolgend ein Beitrag vom 26.9.2018 von Mayer, jurisPR-StrafR 19/2018 Anm. 3
Leitsatz
Mit der rechtsfehlerhaften Bewertung, Polizeibeamte hätten sich bewusst bei der Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung über den Richtervorbehalt hinweggesetzt, entzieht sich der Tatrichter einer Berücksichtigung der Rechtsfigur des hypothetischen Ersatzzugriffs mit der Folge, dass das Urteil regelmäßig auf diesem Rechtsfehler beruht.
Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Ein schwerwiegender, bewusster oder willkürlicher Verfahrensverstoß, der die Anwendung der Rechtsfigur des hypothetischen Ersatzeingriffs ausschließt, muss durch hinreichende Feststellungen belegt werden.
2. Eine wirksame gerichtliche Nachprüfung einer nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung wegen Gefahr im Verzug setzt voraus, dass der handelnde Beamte vor oder jedenfalls unmittelbar nach der Durchsuchung seine für den Eingriff bedeutsamen Erkenntnisse und Annahmen in den Ermittlungsakten dokumentiert. Insbesondere muss er, unter Bezeichnung des Tatverdachts und der gesuchten Beweismittel, die Umstände darlegen, auf die er die Gefahr des Beweismittelverlusts stützt. Allgemeine Formulierungen, die etwa bloß die juristische Definition von „Gefahr im Verzug” wiedergeben, reichen nicht aus.
A. Problemstellung
In der vorliegenden Entscheidung geht es um die Anforderungen an die Beweiswürdigung bei Annahme der bewussten Missachtung des Richtervorbehalts durch einen Polizeibeamten. Dabei spielen insbesondere die Rechtsfigur des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ und die diese Figur im Missachtungsfall ablehnende Rechtsprechung des BGH eine entscheidende Rolle (BGH, Urt. v. 06.10.2016 – 2 StR 46/15 – BGHSt 61, 266 ff.; BGH, Beschl. v. 21.04.2016 – 2 StR 394/15 – JA 2016, 710 ff. m. Anm. Jäger).
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Angeklagte war in den frühen Morgenstunden zu Fuß auf der Fahrbahn einer Landstraße zwischen zwei Dörfern unterwegs. Auf den Hinweis eines LKW-Fahrers hin führte eine Streifenbesatzung der Polizei eine Kontrolle des – betrunkenen – Angeklagten durch. Das Ergebnis einer dabei zur Eigensicherung durchgeführten Durchsuchung waren ein Joint und eine kleine Menge Marihuana. Die folgende Durchsuchung der nahe gelegenen Wohnung des Angeklagten hatte zudem weitere Betäubungsmittel (85,28 g Marihuana, 8,19 g Haschisch; Wirkstoffgehalt von je 12,4 g THC) zum Vorschein gebracht. Sie war aufgrund der Annahme von Gefahr im Verzug durch einen Polizeibeamten angeordnet worden.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten deshalb wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Dieses Urteil hob das Landgericht auf die Berufung des Angeklagten hin zum Teil auf. Es sah den Tatnachweis in Bezug auf die in der Wohnung aufgefundenen Betäubungsmittel als nicht erbracht an.
Es liege vielmehr ein Beweisverwertungsverbot vor, da der Polizeibeamte die Durchsuchung unter Missachtung der fehlenden Voraussetzungen einer Gefahr in Verzug, den Richtervorbehalt missachtend, angeordnet habe.
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung hat mit der Sachrüge Erfolg. Insofern führt der 1. Senat des Oberlandesgerichtes aus, dass die Beweiswürdigung rechtlicher Prüfung nicht standhalte. Die eingeschränkte revisionsrechtliche Prüfung ändere nichts daran, dass die ungerechtfertigte Annahme eines Beweisverwertungsverbotes einen auf die Sachrüge hin zu beachtenden Fehler darstelle. Die Kammer des Landgerichtes habe es versäumt in Betracht zu ziehen, dass der Polizeibeamte sich schlicht in der konkreten Anordnungssituation über das Vorliegen der Gefahr im Verzug geirrt haben könnte. Denn es fehle in den Feststellungen des Landgerichtes an einer Begründung dafür, warum ein mit Erfahrung in Betäubungsmittelfällen agierender Polizeibeamter in einer Situation, in der ein Ermittlungsrichter vermutlich einen Durchsuchungsbefehl erlassen hätte, den Richtervorbehalt bewusst ignoriert haben sollte. Das von der Kammer festgestellte, wechselhafte Aussageverhalten der Polizeibeamten allein reiche dafür nicht aus.
C. Kontext der Entscheidung
Schon das BVerfG hat mehrmals klargestellt, dass die Anordnung einer Durchsuchung durch einen Richter die Regel, die nichtrichterliche Anordnung die Ausnahme sein muss (BVerfG, Beschl. v. 16.06.2015 – 2 BvR 2718/10 – BVerfGE 139, 245 ff.; BVerfG, Urt. v. 20.02.2001 – 2 BvR 1444/00 – BVerfGE 103, 142). Der Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) ist schwerwiegend. Die räumliche Privatsphäre des Betroffenen steht dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung gegenüber. Der grundsätzliche Richtervorbehalt basiert auf dem Konzept der Gewaltenteilung und dient gerade der Kontrolle dieser widerstreitenden Interessen durch die Abwägung seitens einer unabhängigen Instanz. Daher ist Art. 13 Abs. 2 GG, der die Anordnung von strafprozessualen Durchsuchungen bei Gefahr im Verzug gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 StPO durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 GVG) ermöglicht, eng auszulegen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.06.2015 – 2 BvR 2718/10 – BVerfGE 139, 245 ff.).
Dabei ist es gefestigte Rechtsprechung, dass nicht jeder Fehler in der Beweiserhebung – auch im Rahmen der Anordnung einer Durchsuchung – zu einem Beweisverwertungsverbot führt. Vielmehr muss das Gericht alle widerstreitenden Interessen miteinander abwägen. Denn es hat von Amts wegen die Wahrheit zu erforschen und dementsprechend die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel, die dafür von Bedeutung sein können, zu erstrecken. So führen nur die ausdrückliche gesetzliche Regelung oder schwerwiegende Verfahrensverstöße, insbesondere bewusste oder willkürliche Verstöße, ausnahmsweise zwingend zu einem Beweisverwertungsverbot (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.02.2011 – 2 BvR 1596/10 – StraFo 2011, 145; BVerfG, Beschl. v. 12.04.2005 – 2 BvR 1027/02 – BVerfGE 113, 29, 61; BGH, Urt. v. 18.04.2007 – 5 StR 546/06 – BGHSt 51, 285, 289 f.).
Dieses zwingende Beweisverwertungsverbot greift auch bei Fällen der Anwendbarkeit der Rechtsfigur des hypothetischen Ersatzeingriffs (BGH, Urt. v. 06.10.2016 – 2 StR 46/15 – BGHSt 61, 266 ff. m.w.N.; BGH, Urt. v. 18.04.2007 – 5 StR 546/06 – BGHSt 51, 285, 295 f.). Diese Rechtsfigur wurde ursprünglich im us-amerikanischen Strafprozessrecht entwickelt, um im Rahmen der Fernwirkungsproblematik (Stichwort: fruit of the poisonous tree – vgl. den Ursprung in: Nardone v. United States, Supreme Court; 308 U.S. 338 [1939]) mittelbar erlangte Beweise von einem Beweisverwertungsverbot auszunehmen. Dies sollte der Fall sein, wenn der Beweis bei Berücksichtigung eines hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlaufes auch erlangt worden wäre. Ob diese Rechtsfigur auch bei unmittelbar erlangten Beweisen, wie den vorliegend durch eine möglicherweise rechtswidrige Durchsuchung erlangten Betäubungsmitteln, Anwendung finden kann, ist zwar in der Literatur umstritten (vgl. Jäger, JA 2016, 710 m.w.N.). Die Rechtsprechung wendet die Rechtsfigur aber auch bei unmittelbar erlangten Beweisen ohne weiteres an (vgl. BGH, Urt. v. 06.10.2016 – 2 StR 46/15 – BGHSt 61, 266 ff. m.w.N.; vgl. BGH, Beschl. v. 18.11.2003 – 1 StR 455/03; BGHR StPO § 105 Abs. 1 Durchsuchung 4).
Im vorliegenden Fall hatte sich das Berufungsgericht nicht mehr mit der Frage eines hypothetischen Ersatzeingriffs auseinandergesetzt, weil es vom Vorliegen eines zwingenden Beweisverwertungsverbotes durch die bewusste Missachtung des Richtervorbehaltes ausgegangen war. Ob einige scharfe Formulierungen des Oberlandesgerichtes, wie z.B. das Landgericht habe sich „der notwendigen Berücksichtigung der Rechtsfigur des hypothetischen Ersatzzugriffs entzogen“, angemessen sind, könnte bei alleiniger Betrachtung dahinstehen. Tatsächlich bleiben aber Zweifel an der Entscheidung des Oberlandesgerichtes bestehen, die Anlass zur genaueren Prüfung geben. Diese Zweifel beruhen, neben gewissen Formulierungen, auf zwei weiteren Auffälligkeiten: Das Oberlandesgericht führt einerseits selbst nichts zu den Mängeln in der Beweiswürdigung des Landgerichtes aus. Die tatsächlichen Erwägungen der Kammer verwirft der Senat allein vor dem Hintergrund, dass die Urteilsgründe Anlass zur Sorge gäben, „dass das Landgericht vorliegend die Möglichkeit einer hypothetisch rechtmäßigen Beweiserlangung verkannt hat“. Der durch das Oberlandesgericht damit hergestellte Zusammenhang zwischen tatsächlichen Erwägungen, die eine Prüfung des hypothetischen Ersatzeingriffs aufgrund eines zwingenden Verwertungsverbotes gerade überflüssig machten, und der genannten Rechtsfigur selbst wird hier nicht klar. Andererseits ist die sehr ausführliche Stellungnahme des Oberlandesgerichtes im Rahmen eines obiter dictum zur Dokumentationspflicht auffällig (vgl. unter E.). Die Vermutung liegt nahe, dass diese Verpflichtung nicht korrekt erfüllt wurde (zustimmend NJW-Spezial 2018, 506), was mindestens ein weiterer Abwägungsgesichtspunkt zugunsten eines Beweisverwertungsverbotes wäre (vgl. aber auch: BGH, Beschl. v. 25.04.2007 – 1 StR 135/07 – NStZ-RR 2007, 242 f. m.w.N.).
D. Auswirkungen für die Praxis
Das Gericht weicht mit seiner Entscheidung deutlich und auffällig von der engen Auslegung der Voraussetzungen der Gefahr in Verzug in der ständigen Rechtsprechung ab. Den Beamten zugunsten einen Irrtum zu unterstellen, der im Ergebnis dem Schutz des Betroffenen vorginge, erscheint gewagt. Die Entscheidung steht auch im ausdrücklichen Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH, der die Rechtsfigur des hypothetischen Ersatzeingriffs auch bei einer Missachtung des Richtervorbehalts ablehnte, wenn ein Irrtum ursächlich war (BGH, Beschl. v. 21.04.2016 – 2 StR 394/15 – JA 2016, 710 f. m. Anm. Jäger). Es ist allerdings mangels einer schlüssigen Argumentation des Oberlandesgerichtes weder ersichtlich, ob eine Änderung dieser Rechtsprechung angeregt werden soll, noch wahrscheinlich, dass sich andere Obergerichte diesem Weg anschließen werden. Was bleibt, sind einige sinnvolle Feststellungen zur Dokumentationspflicht im Rahmen des abschließenden obiter dictum (vgl. unter E.).
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Das Oberlandesgericht führt abschließend genaueres zur Dokumentationspflicht bei der Annahme von Gefahr in Verzug aus. So seien, spätestens unmittelbar nach der Wohnungsdurchsuchung unter Angabe des konkreten Tatverdachts und der in der Wohnung vermuteten Beweismittel, alle die Gefahr des Beweismittelverlusts begründenden Umstände darzulegen. Dabei hätten die Darlegungen auch alle Voraussetzungen der Durchsuchung gemäß den §§ 102 ff. StPO abzudecken. Auch müsse sich aus der Dokumentation insbesondere klar ergeben, ob der Versuch unternommen wurde, den Ermittlungsrichter zu erreichen. Soweit dies nicht der Fall gewesen sei, bedürfe auch dies gesonderter Begründung.
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