Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Wir wissen nicht immer, ob das, was wir tun, erlaubt ist. Mit eigenen Irrtümern gehen wir gnädig um, mit fremden selten. Eine kleine Irrtumskunde.

28. Juli 2015, 16:13 Uhr

Liebe Leser!

Wissen Sie, was ein Mauswiesel ist? Kennen Sie den australischen Maushamster? Ist Ihnen die Indische Nacktsohlenrennmaus vertraut? Wenn nicht, ist das in der Welt von Google und Wikipedia kein Problem. Dort erweist sich rasch: Maushamster fressen keine Mäuse, sondern sind welche. Mauswiesel sind keine Mäuse, sondern fressen diese. Nacktsohlenrennmäuse sind ohne Schwanz bis zu 20 cm lang und 150 Gramm schwer, die kleinsten Mauswiesel messen nur 15 cm und 25 Gramm. Das trifft sich gut, da zum Beispiel die uns allen bekannte Hausmaus (mus musculus) mit 8 cm und 20 Gramm genau die richtige Größe hat für ein hungriges Mauswiesel.

Früher waren solche Recherchen schwieriger. Strafrechtsprofessoren hatten zwar ihren „Binding“ unter dem Kopfkissen, nicht immer aber ihren „Brehm“ im Kopf. So kam es, dass der Tübinger Strafrechtsprofessor Jürgen Baumann im Jahr 1960 folgenden geradezu klassischen „Kathederfall“ ersann:

Herr A erlegt ein Mauswiesel. Das ist ein jagdbares Tier im Sinne des Bundesjagdgesetzes, es ist also „Wild“ im Sinne des Straftatbestands der „Wilderei“ (Paragraf 292 Strafgesetzbuch). Allerdings denkt A, das Tier sei eine Maus. Irrtümlich glaubt er überdies, auch Mäuse seien „Wild“. Hat A sich jetzt strafbar gemacht?

Das Gesetz

Ein merkwürdiger Fall, werden Sie (mit Recht) sagen. Manche wohl auch: Hat der keine anderen Sorgen? Folgen Sie mir trotzdem ein bisschen; vielleicht wird’s ja noch etwas spannender. Zunächst zwei Gesetzestexte:

Paragraf 17 Strafgesetzbuch lautet: „Verbotsirrtum. Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe … gemildert werden.“

Um diese Regelung zu verstehen, muss man noch eine andere kennen:

Paragraf 16 Absatz 1 Strafgesetzbuch lautet: „Tatbestandsirrtum. Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.“

Hinter den wenigen Zeilen dieser zwei Vorschriften liegt ein rechtsdogmatischer, historischer und tatsachenwissenschaftlicher Kosmos, mit dem man sich ohne Schwierigkeit ein halbes Leben lang befassen kann. Die Literatur, die dazu geschrieben wurden, dürfte locker fünfzig Regalmeter füllen.

Indes, diese Kolumne ist nicht dazu erdacht, Sie abzuschrecken oder das Komplizierte für Unlösbar zu erklären, auf dass der Kolumnist sich aufs Unverständliche beschränken und als Gigant dastehen kann. Deshalb: nur Mut! Den „Tatbestandsirrtum“ und den „Verbotsirrtum“ kennen Sie alle, denn die meisten von Ihnen, da bin ich sicher, führen gelegentlich die Volksweisheit „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ im Munde. Außerdem haben Sie alle garantiert eine Meinung dazu, wie viel von was und warum man vorwerfen kann: Einem DDR-Mauerschützen; einem IS-Kämpfer; einer Mutter, die den Mörder ihres Kindes tötet; einem Hooligan, der bei einer verabredeten Schlägerei seinen Gegner auf die Intensivstation prügelt.

„Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“

Diesen Spruch können Sie vergessen, wie viele andere Rechtsredensarten auch: „Eltern haften für ihre Kinder“, „Betreten auf eigene Gefahr“, und so weiter. Genauer: Es kann durchaus einmal so sein, muss es aber nicht. Oder, um den Spruch der Sprüche und die ewige Weisheit aller Juristen zu zitieren: Es kommt darauf an.

Alles beginnt einmal mehr mit dem Verfassungsrecht: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“, heißt es in Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz (und in Paragraf 1 Strafgesetzbuch). Das bedeutet „Tatbestandsgarantie“ (plus Rückwirkungsverbot plus Bestimmtheitsgrundsatz plus „Analogieverbot“): „Eine Tat“ ist nicht ein beliebiges Ereignis oder eine unerwünschte Erscheinung. Sie muss „(gesetzlich) bestimmt“, also aus tatsächlichen Gegebenheiten zusammensetzbar sein, die sich erstens „bestimmen“ und zweitens in der Außenwelt auffinden lassen.

„Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtwidrig zuzueignen, … (wird bestraft)“, ist so ein Tatbestand; er heißt Diebstahl. Die Beschreibung enthält fünf objektive Merkmale: Sache, beweglich, fremd, anderer, wegnehmen. Dazu kommt eine subjektive: Zueignungsabsicht (mit zwei Varianten). Wenn alle Merkmale erfüllt sind, ist „der Tatbestand erfüllt“. Unter allen Merkmalen kann man sich etwas Konkretes vorstellen: Sache ist ein körperlicher Gegenstand; Wegnehmen ist das Aufheben des Innehabens des Gewahrsams über die Sache, und so weiter. Wenn der Tatbestand lauten würde: „Wer einem anderen etwas wegnimmt, wird bestraft“, würde das nicht ausreichen. Denn kein Mensch weiß, was in diesem Satz „etwas“ bedeuten soll und was „wegnimmt“, und was also letzten Endes gemeint ist: Geld? Die Freundin? Einen Sitzplatz in der U-Bahn? Eine Idee? Der Tatbestand wäre verfassungswidrig, der Diebstahlstatbestand ist es sicher nicht.

Beweisbarkeit hat mit dem Tatbestand nichts zu tun

Paragraf 15 Strafgesetzbuch sagt: „Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht“. Das ist eine extrem wichtige Vorschrift. „Fahrlässige Körperverletzung“ ist, wie jeder weiß, „ausdrücklich mit Strafe bedroht“. „Fahrlässiger Diebstahl“ ist es nicht; hier ist also nur Vorsatz strafbar: Der Täter muss entweder positiv wissen, dass er die Merkmale des Tatbestands verwirklicht, oder dies zumindest für möglich halten und „billigen“ (zum Beispiel: In Kauf nehmen, gleichgültig hinnehmen, als „notwendiges Übel“ akzeptieren).

Wenn ein „Täter“ ein Tatbestandsmerkmal nicht „kennt“ (gemeint ist: im genannten Sinn vorsätzlich verwirklicht), dann befindet er sich im „Tatbestandsirrtum“ – das ist der oben zitierte Paragraf 16 Strafgesetzbuch. Die Folge ist: Es fehlt ihm der Vorsatz. Wenn also die Boutique-Verkäuferin B eine in der Umkleidekabine kurzfristig unbeaufsichtigte Hermès-Handtasche Modell „Birkin“ der Kundin C wegnimmt in der Ansicht, es sei ihre eigene, handelt sie „ohne Vorsatz“. Und da fahrlässiger Diebstahl nicht strafbar ist, wäre sie auf entsprechende Anklage freizusprechen. Dasselbe würde übrigens gelten, wenn Frau B so kurzsichtig wäre, dass sie die Handtasche der C für ihren eigenen „Jute-statt-Plastik“-Einkaufsbeutel gehalten hätte.

Hermès, Gehirn, Kempinski

Nun werden die „Birkin“-Verehrerinnen gewiss im Chor aufschreien und einwenden, nimmermehr könne man glauben, dass eine derartige Tasche in einer hergelaufenen Boutique einfach so verwechselt werden könne mit irgendeinem anderen Gegenstand dieses Universums, da von ihr ja bekanntlich ein 100 Meter weit reichendes goldenes Strahlen ausgehe. Und überhaupt trage Frau B pinkfarbene Leggins und sei daher schon strukturell außerstande, ernsthaft geglaubt zu haben, das Teil gehöre ihr.

Sie haben Recht! Es war ja nur ein kleiner Spaß, meine Damen in der Lobby des Kempinski! Wir werden ja einen Scherz ertragen über die Irrtümer des Lebens, da wir selbst vom Gefängnis doch so undenkbar weite Lichtjahre entfernt sind wie die „Untreue Frau“ vom Hebel der Gangschaltung des dahingleitenden Schicksals, wenn Sie wissen, was ich meine. Chabrol hin und her, was soll’s, sagt die Strafjustiz: Das ist eine Frage des sogenannten Beweises. Da hat sie schon wieder Recht – wie meistens!

Die Beweisbarkeit hat mit dem Tatbestand zunächst einmal nichts zu tun, auch wenn viele sogenannte Laien – also Sie! – aus dunklen, verständlichen, unerklärlichen, unsäglichen, eigensüchtigen, im Ergebnis aber eindeutig unzutreffenden Gründen das eine vom anderen so wenig unterscheiden möchten wie die Rechtsregel von der Lebenserfahrung oder das Kauen von Hackfleisch von der Erinnerung an die Kuh. In Wahrheit ist das nicht schwierig, auch wenn man Jahrhunderte lang darum gestritten hat und heute schon eine Habilitation braucht, um die Urgründe des Streits noch zu verstehen.

Gehen Sie, liebe Leserin und Hermès-Stammkundin, einfach mal davon aus, der Irrtum von Frau B sei bewiesen. Dann ist der Fall geklärt: Freispruch für B. Die Tasche gehört natürlich trotzdem Frau C und muss zurückgegeben werden. Aber das ist „Zivilrecht“ und deshalb eine andere Geschichte, die woanders erzählt werden soll.

Tatbestandsirrtum und Dummheit

Erstaunlich ist: Es ist vollkommen gleichgültig, ob Frau B intelligent oder dumm, aufmerksam oder schusselig, im Crack-Rausch oder auf Jasmintee-Entzug gewesen ist. Der sogenannte „Tatbestands-Irrtum“ (§ 16 StGB) behandelt jeden Irrtum gleich, den verschuldeten wie den unverschuldeten, den vermeidbaren wie den unvermeidlichen. Irrtum ist Irrtum.

Das ist, wie Sie bemerkt haben werden, das genaue Gegenteil von „Unkenntnis schützt vor Strafe nicht“. Der Irrtum über ein Tatbestandsmerkmal heißt im Juristenlatein „ignorantia facti“: Unkenntnis einer Tatsache. Diese Bezeichnung ist genauer als das Wort „Irrtum“, denn dieser setzt ja seinem Sinn nach eine positive Fehl-Vorstellung voraus. Für den sogenannten Tatbestandsirrtum ist aber die bloße Unkenntnis eines einzigen Merkmals ausreichend.

Verbot, Verbotsirrtum, Verkennung

Ganz anders der sogenannte Verbotsirrtum (§ 17 StGB): „Ignorantia legis“ nennt ihn der Strafrechtslehrer mit Großem Latinum: Unkenntnis des Rechts. Hier ist die Heimat des Spruchs „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ („ignorantia legis non excusat“), denn mit jener Unkenntnis ist immer nur die des Gesetzes gemeint, also der Regel, der Norm, der gesetzlichen Entscheidung über Recht und Unrecht. „Das Gesetz“ (Lex) meint in diesem Zusammenhang nicht die oben behandelten Tatbestandsmerkmale, sondern die „Rechtswidrigkeit“ ihrer Verwirklichung.

Was das bedeutet, ist nicht schwierig zu verstehen: Der Mensch vollzieht jeden Tag hundert Handlungen, die einen „Tatbestand verwirklichen“: Der Busfahrer „zwingt“ die Fahrgäste, bis zur nächsten Haltestation mitzufahren. Der Finanzbeamte „zwingt“ den Bürger, Steuern zu zahlen. Der Zahnarzt bohrt, der Hausarzt spritzt, der Chirurg und die Friseurin schnippeln am Körper herum. Das eine kann man „Nötigung“ nennen, das andere „Körperverletzung“. Es ist aber meistens nicht strafbar, weil es einen besonderen Grund gibt, der die Verwirklichung des Tatbestands eines Strafgesetzes trotzdem für vereinbar erklärt mit dem Recht insgesamt: Zum Beispiel die Einwilligung des Betroffenen. Wer mir mit Nadeln in den Arm sticht, begeht Körperverletzung. Wer dasselbe tut, nachdem ich ihm die Erlaubnis dazu gegeben habe, der „darf das“: Er verwirklicht zwar immer noch den Tatbestand der Körperverletzung, ist aber „gerechtfertigt“. Über die Unversehrtheit der Vene in meiner Ellenbeuge darf ich nämlich zum Glück (noch) selbst bestimmen (über anderes idiotischerweise nicht, zum Beispiel über das Ende meines Lebens). Meistens gilt die Faustregel: Was einen Straftatbestand verwirklicht, ist auch rechtswidrig, es sei denn, eine ausdrückliche Ausnahme ist gegeben (Notwehr, Einwilligung, gesetzliche Befugnis).

Der Bundesgerichtshof und der Gesetzgeber des Paragrafen 17 Strafgesetzbuch haben schon Anfang der 1950er Jahre entschieden: Die Kenntnis oder Vorstellung oder Unkenntnis davon, dass das eigene Handeln der Rechtsordnung widerspreche, haben mit dem „Vorsatz“ einer Straftat nichts zu tun; all das sei allenfalls für die „Schuld“ von Bedeutung, also für die individuelle Verantwortlichkeit und Vermeidbarkeit unter Berücksichtigung aller höchstpersönlichen Umstände.

Sie glauben, das seien „Glasperlen“-Spiele mit Worten? Nein. Aus der Kolumne der vorigen Woche wissen Sie noch, dass „Beihilfe“ die vorsätzliche Förderung einer vorsätzlichen fremden rechtswidrigen Tat ist. Der Gehilfe muss also wollen (und wissen), dass der Haupttäter die Tatbestandsmerkmale einer Straftat verwirklicht. Kenntnis des Haupttäters von der Rechtswidrigkeit seiner Tat ist indes nicht erforderlich: Für die Strafbarkeit des Gehilfen kommt es nur auf dessen eigene Rechtskenntnis an. Das ist zwar ein bisschen kompliziert, aber ziemlich einleuchtend und „gerecht“. Behalten Sie es in Erinnerung; ich komme darauf zurück!

Umgekehrter Irrtum: Versuch und Wahndelikt

Was soll das wieder sein? Eine typisch juristische Wortklauberei. Stimmt genau. „Umgekehrt“ zu was: Zum „Tatbestandsirrtum“ (§ 16) und zum „Verbotsirrtum“ (§ 17).

Umgekehrter Tatbestandsirrtum: Stellen Sie sich vor, Frau B im obigen Beispiel entdeckt auf der Ablage der Umkleidekabine ihren eigenen Glitzerbeutel. Kurzsichtig, wie sie ist, denkt sie: „Oh, da ist ja die ‚Birkin‘ von Hermès! Die gehört sicher der Kollegin X mit den strassbesetzten Fingernägeln! Her damit!“

Wie geht ein „umgekehrter Verbotsirrtum“?

Ist das strafbar? Jawohl. Frau B hat zwar den Tatbestand des Diebstahls nicht vollendet, da ja die weggenommene Tasche nicht eine „fremde“ (sondern ihre eigene) war. Sie hat aber versucht, einen Diebstahl zu begehen, und das ist auch strafbar (sagt § 22 StGB). In ihrer Vorstellung hat sie alle Merkmale des Diebstahlstatbestands verwirklicht und sich über das Merkmal „fremd“ sozusagen „umgekehrt“ geirrt. So geht ein „Versuch“. Deshalb auch: Wer heimtückisch auf eine Schaufensterpuppe schießt im irrtümlichen Glauben, sie sei eine lebendige Person, begeht natürlich keinen „Mord“ (da ja das Merkmal „anderer Mensch“ nicht verwirklicht ist), wohl aber einen Versuch des Mordes. Fahrlässig (!) begeht er auch eine Sachbeschädigung (an der Puppe) ­– aber die ist nicht strafbar.

Wie geht ein „umgekehrter Verbotsirrtum“? Sie erinnern sich: Verbotsirrtum ist die irrtümliche Annahme, das eigene (tatbestandliche) Verhalten sei erlaubt. Ein paar Beispiele: Autofahrer A glaubt, bei Stau dürfe man auch entgegen der Fahrtrichtung durch Einbahnstraßen fahren. Türsteher B glaubt, zur Aufrechterhaltung der Ordnung dürfe er Betrunkene zur Abschreckung die Treppe hinunterwerfen. Bankberater C ist überzeugt, das Belügen von Privatkunden über die Risiken ihrer Anlagen sei erlaubt, wenn die Existenz der Filiale auf dem Spiel stehe. Staatsanwalt D meint, wenn der Verdächtige nach drei Tagen nicht gestehe, obwohl 15 Zeugen ihn belastet haben, dürfe man ihn einer „verschärften Vernehmung“ unterziehen.

Die „Umkehrung“ besteht nun darin, dass sich jemand irrtümlich einbildet, ein Verhalten, das die Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt, sei strafbar, obwohl es in Wahrheit gerechtfertigt ist. Wieder zwei Beispiele: Zahnarzt Z denkt, ohne schriftliche Einwilligung der Krankenkasse dürfe niemand bohren; er tut es aber dennoch. Onkel O denkt, sexuelle Handlungen mit seinen volljährigen Nichten seien strafbar. In Wirklichkeit sind sie straflos.

Hier verbirgt sich eine ganze Reihe von Rechtsproblemen, auf die es im Moment aber nicht ankommt. Im Grundsatz geht es um Folgendes:

Wer irrtümlich annimmt, dass er ein „Tatbestandsmerkmal verwirklicht“ (also beispielsweise auf einen anderen Menschen schießt), irrt sich vielleicht über irgendeine andere Tatsache (Schaufensterpuppe statt lebende Person), nicht aber über die Grenze zwischen Recht und Unrecht. Er wird bei irrtümlicher Nichtkenntnis eines Merkmals nach Paragraf 16 Absatz 1 Strafgesetzbuch behandelt (kein Vorsatz), umgekehrt bei irrtümlicher Annahme des Merkmals nach Paragraf 22 (strafbarerer Versuch). Das ist legitim, wenn man, wie unser Strafrecht, davon ausgeht, dass die willentliche Auflehnung gegen das Recht geahndet werden muss. Aus der Position der Gegenansicht – die in der Wissenschaft auch heute noch vertreten wird – ist es absurd, den Schuss auf eine Schaufensterpuppe mit möglicherweise lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden.

Wer irrtümlich die Grenze zwischen Recht und Unrecht nicht kennt, gehört in eine ganz andere Kategorie: Wer sich nur einbildet, gegen das Recht zu verstoßen, den muss man nach allgemeiner Ansicht nicht bestrafen, denn seine „Tat“ hat keine rechtserschütternde Wirkung. Wer also glaubt, es sei strafrechtlich verboten, Freitags Fleisch zu essen, begeht ein sogenanntes „Wahndelikt“: Er bildet sich nur ein, gegen ein gesetzliches Verbot zu verstoßen. Dasselbe gilt für Menschen, die sich einbilden, es sei verboten, Mäuse zu erschießen.

Das „absolut untaugliche“ Wollen

Ein kleiner Einschub zur Auflockerung: Im Grenzgebiet zwischen Dogmatik und Mitleid wabert die Kategorie des „völlig untauglichen Versuchs“. Hier verschwimmen alle Grenzen, weil im Irrtum des „Täters“ auch die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, Recht und Tatsache verschwimmen. Zwei Beispiele:

A, Sympathisant des IS, stellt sich mit einem Luftgewehr in seinen Kleingarten hinter der Eisenbahn und schießt dreimal auf den Airbus A 340, der in 11.000 Meter Höhe über ihm in Richtung Amerika fliegt.

Frau E, Sympathisantin der Frauenbewegung, hat die Nase voll von ihrem Ehemann E. Bevor dieser zur Frühschicht geht, bereitet sie ihm für gewöhnlich zwei Brötchen mit köstlicher Gelbwurst oder Mortadella. Eines Tags reicht es ihr, und so sprüht sie auf beide Brötchen jeweils einen Stoß Insektenspray („Paral“), um sich von E zu erlösen. Dieser beißt in der Frühstückspause in die erste Semmel, verspürt einen ekligen Geschmack und ist verstimmt. Zum Tod hätte er aber den Inhalt von 12 vollen Sprühflaschen „Paral“ trinken müssen.

Dies ist eine vom Gesetz gesondert geregelte Gruppe von Irrtümern: Die völlig bekloppten. Auch hier will die Rechtsprechung natürlich möglichst wenige Böswillige davon kommen lassen und unterscheidet daher feinsinnig die Einbildung gänzlich abgedrehter, übernatürlicher Kräfte (Versuch von „Tothexen“ oder Voodoo-Zauber) und die Einbildung von naturwissenschaftlich unmöglichen Zusammenhängen (Abschießen eines A 340 mit einem Luftgewehr) von jenen „Versuchen“, die im Grundsatz zwar vernünftig sind (Insektengift gegen Personen), aber mangels Sachkenntnis in der Ausführung krass daneben gehen. Ergebnis: Islamist A ist straflos; Ehefrau E ist strafbar wegen versuchten Mordes.

Tatbestands- und Verbotsirrtum

Jetzt haben Sie, Leserinnen und Leser, schon beinahe alle denkbaren „Irrtümer“ des Strafrechts kennengelernt, und überdies ihre „umgekehrte“ Form. Was sagt uns diese Erkenntnis über Baumanns „Mauswiesel-Fall“?

A erschießt ein Mauswiesel. Mauswiesel = Wild; A ohne Jagdschein; keine Erlaubnis durch den Berechtigten: Tatbestand der Wilderei verwirklicht. Aber: A denkt, das erlegte Tier sei eine Maus. Mäuse sind kein „Wild“. Ergo: Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 StGB), da A sich in einem Merkmal irrt. Also: Keine vorsätzliche Wilderei. Fahrlässigkeit nicht strafbar. Freispruch.

Anders wäre es, wenn A eine Maus erschossen hätte, die er für ein Mauswiesel hielt: Das wäre ein strafbarer Versuch (ein „umgekehrter Tatbestandsirrtum“).

Aber: A denkt doch immerhin, dass Mäuse „Wild“ seien, dass ihre Erlegung ohne jagdrechtliche Erlaubnis also verbotene „Wilderei“ sei. Das ist ein umgedrehter Verbotsirrtum, ein nur eingebildetes Unrecht. Was machen wir mit ihm? Normalerweise ist das leicht: Wegen eingebildeter Rechtswidrigkeit wird man nicht bestraft; das ist ein „Wahndelikt“. Anders könnte es hier nur sein, weil eine vertrackte Kombination von Tatbestandsirrtum (Mauswiesel = Maus) und Wahndelikt (Maus = jagdbares Wild) vorliegt. Was also tun mit Herrn A? Freisprechen, weil jedes Unrecht nur eingebildet war? Oder verurteilen wegen (versuchter) Wilderei (wenn es die gäbe)? Oder wegen vollendeter Wilderei, weil sich beide Irrtümer „ergänzen“: A tut etwas Verbotenes, und er denkt, dass er etwas Verbotenes tut.

Grenzgebiete

Bevor Sie sich entscheiden, Leserinnen und Leser, noch eine Abschweifung ins Gegenwärtige, weniger Märchenhafte: Dachten eigentlich die SS-Helfer Demjanjuk und Gröning damals in den Konzentrationslagern, es sei „erlaubt“, was sie taten? Dachte ein 25-jähriger Grenzsoldat der DDR, es sei „rechtswidrig“, auf Republikflüchtlinge zu schießen? Wie wäre es, wenn ein Kriminalbeamter einem mutmaßlichen Kindesentführer einen Finger abschneidet, und dann noch einen, damit der Verdächtige das Versteck des vom Tode bedrohten Kindes verrät? Ist ein amerikanischer Drohnen-Steuerer wegen Mordes strafbar, wenn er eine ferngelenkte Bombe in eine pakistanische Hochzeitsgesellschaft gelenkt und damit zwei Al-Kaida-Führer und auch noch 12 Zivilisten getötet hat?

Wo ist die Grenze?

In allen Fällen geht es nicht um „Tatbestands“-Irrtümer: Jeder der Genannten hat alle Merkmale des gesetzlichen Tatbestands gekannt. Und er hat sich auch nicht über ihre Verwirklichung geirrt. (Auch das wäre möglich und ein Sonderproblem: Grenzsoldat X zielt daneben, schließt die Augen und drückt ab: Flüchtling F wird wegen eines plötzlichen Richtungswechsels tödlich getroffen. Ergebnis, wie Sie aus Obigem ableiten können: X wäre nicht wegen vorsätzlicher Tötung strafbar, wohl aber wegen fahrlässiger Tötung).

Was ist „vermeidbar“?

„Ohne Schuld“ handelt, wer die Rechtswidrigkeit seines Handelns verkennt „und dies nicht vermeiden konnte“. Er ist freizusprechen, denn unser Strafrecht bestraft Schuld, nicht Zufall oder Schicksal oder Unvermeidliches. Damit sind wir beim Kern des Pudels angekommen: Welcher Rechtsirrtum ist vermeidbar?

Dazu gibt es zwei Arten von Antworten: Die für die ruhigen Zeiten und den kleinen Überblick, und die für die unruhigen Zeiten und großen Fragen. Beide sind nur ein Ausschnitt aus der Evolution des Rechts als Gestalt normativer sozialer Regeln.

Im kleinen Rahmen ist die Rechtsprechung annähernd gnadenlos: „Unkenntnis des Rechts schützt vor Strafe nicht“, gilt hier fast uneingeschränkt. Steuerhinterzieher und Straßenverkehrsdelinquenten, Unternehmer und Freiberufler können ein Lied davon singen: Der Gesetzgeber (und mit ihm die Staatsanwaltschaft) hält praktisch jeden Irrtum für vermeidbar. Wer nicht weiß, ob sein Handeln erlaubt ist, hat eine „Erkundigungspflicht“. Wer sie ausgeübt und die gute Nachricht erhalten hat, sein geplantes Handeln sei erlaubt, der hat eine „erhöhte Erkundigungspflicht“: Er muss mindestens noch einen weiteren Fachmann fragen. Wer ein Gutachten einholt über die Erlaubtheit seines Tuns, muss gleichwohl mit dem Gegenteil rechnen. Was jemals „streitig“ war, bleibt es auf ewig. Wenn in irgendeinem Aufsatz vor zwanzig Jahren einmal vertreten wurde, das Handeln sei verboten, muss der Täter „damit rechnen“; sein Irrtum ist also nicht „unvermeidlich“.

Nicht selten erscheint diese rigorose Rechtsprechung „gerecht“. Wir wollen nämlich (oft zu Recht!) die „Trickser“ und „Lücken“-Gewinnler erwischen oder bestrafen. Vom Amtsgericht bis zum Bundesgerichtshof, von der örtlichen Gewerbeaufsicht bis zum Bundesjustizministerium wird versucht, die „Lücken“, wenn es sein muss noch nachträglich, zu schließen. Und gewiss darf Paragraf 17 nicht so ausgelegt werden, dass es ausreicht, sich bei einem guten Kumpel zu erkundigen, ob das geplante Umsatzsteuerkarussel wohl erlaubt ist, um von da an „ohne Schuld“ zu handeln.

Andererseits: Es ist doch gerade der Inhalt der Tatbestandsgarantie des Artikels 103 Abs. 2 Grundgesetz, dass der Bürger die „Grenzen ausloten“, die „Lücke im Gesetz finden“ und auch ausnutzen darf! Der Staat darf nicht bloße „zweifelhafte Moral“ bestrafen. Wenn im Gesetz G steht, es sei strafbar, „Schilder“ mit dem „Inhalt X“ herzustellen: Warum sollte man dann nicht versuchen dürfen, „Plakate“ oder „Zettel“ mit diesem Inhalt herzustellen? Oder warum sollte man dann nicht Schilder mit dem Inhalt „X minus 1“ herstellen?

Daher muss man, gerade als Richter (eines jeden Gerichts, aber gewiss auch des Obersten Gerichtshofs), immer wieder neu fragen: Wo ist die Grenze? Wo verstößt das verständliche Bedürfnis nach „Gerechtigkeit“ durch Sanktionierung des offenkundig Anstößigen gegen die menschenrechtliche und grundgesetzliche Garantie, dass nicht die Unmoral, sondern allein das legitim für Unrecht Gehaltene bestraft werden darf? Das ist eine in ihrer Auffächerung sehr schwierige Frage, an der die Strafrechtler unserer Gesellschaft mit ganzer Kraft arbeiten müssen. Jede Ridikülisierung, jede Verkleinerung, jede Relativierung dieser Frage ist eine Unverschämtheit gegenüber der Gesellschaft und ein Versagen gegenüber der juristischen Aufgabe, sei sie wissenschaftlich oder praktisch.

Im Umgang mit der Vermeidbarkeit hat sich in der Justiz eine Haltung der Nonchalance und der (vorgeblichen) „praktischen Notwendigkeit“ ausgebreitet, die nicht ganz selten zu zweifelhaften Ergebnissen führt. Im Zeitalter eines außer Rand und Band geratenen „Blankett“-Strafrechts, also von Straftatbeständen an versteckten Stellen in Nebengesetzen, die ihrerseits auf unendliche, sich ständig verändernde Verordnungen sowie auf zahllose, teils unklare, teils einander widersprechende, teils kompromisshafte Rechtsakte der Europäischen Union verweisen, ist die Faustregel, „eigentlich“ sei jeder Rechtsirrtum vermeidbar, fraglich geworden. Sie ist überdies gerade in diesem Zusammenhang inzwischen ergänzt worden durch die Regel, es sei dem Bürger ohne Weiteres zuzumuten, eine „endgültige Klärung“ von Rechtsfragen durch oberste nationale und internationale Gerichte zu betreiben oder abzuwarten, bevor er das Risiko eingehe, etwas vielleicht Verbotenes zu tun. Auch dieser Rechtssatz ist gewiss nicht ganz falsch, aber unter den tatsächlichen Bedingungen unserer (europäischen) Rechtskultur hat er gelegentlich zynische Konnotationen.

In politischen, historischen, staatsrechtlichen Dimensionen wird über die Grenzen der Vermeidbarkeit von Rechtsirrtümern anders diskutiert. Das ist nicht verwunderlich, denn hier ist alles möglich. Die Weltgeschichte allzumal, ihre „Gesetze“ und „Gebote“, dient dem Versuch der Rechtfertigung jeder denkbaren Ungerechtigkeit oder Grausamkeit. Wie vermeidbar waren eigentlich die Irrtümer über die Rechtfertigung des Angriffskriegs gegen den Irak?

Der vergatterte Grenzsoldat, auf seinem Turm über dem Todesstreifen zwischen Thüringen und Hessen: Hätte er „wissen müssen“, dass Paragraf 27 des DDR-Grenzgesetzes, der die Tötung von Grenzverletzern erlaubte, menschenrechtswidrig und daher nichtig war? Ja, sagt die Rechtsprechung: Die Rechtswidrigkeit musste sich jedem normal denkenden Menschen aufdrängen.

Anders war es zum Beispiel im Fall des Bombenangriffs auf die entführten Tanklastwagen beim deutschen Feldlager Kundus am 4. September 2009: Die Beurteilung der völkerrechtlichen Rechtfertigung setzt eine Einschätzung voraus, ob der Umfang möglicher ziviler Opfer außer Verhältnis zum militärischen Ziel stand. In seiner Einstellungsverfügung ist der Generalbundesanwalt zu dem Ergebnis gelangt, der verantwortliche Kommandeur habe, nachdem die Frage der Anwesenheit von Zivilisten eineinhalb Stunden geprüft und diskutiert worden sei, „annehmen dürfen“, dass keine da waren. Und selbst wenn er dies nicht hätte annehmen dürfen, so fügte der Generalbundesanwalt in einem Rechtshinweis hinzu, wäre die Abwägung trotzdem rechtmäßig gewesen.

Wo genau die Grenze gelegen hätte: bei 50 toten Zivilisten, 80 oder 100, musste der Generalbundesanwalt nicht sagen. Wäre sie überschritten gewesen, hätte man die Vermeidbarkeit des Irrtums prüfen müssen.

Schluss

Auflösung des Mauswieselfalls: „Wilderer“ A ist straflos! Der Tatbestandsirrtum und das Wahndelikt dürfen nicht zu einer „jedenfalls“-Straftat kombiniert werden. Das Ergebnis ist dogmatisch richtig. Das Mauswiesel wird das allerdings mit einer gewissen Plausibilität bestreiten.